12
Mai
2012

Dazugehören

In meiner Zeit als Lokaljournalistin habe ich, weiss Gott, eine Menge Vereinsversammlungen gesehen. Aber jene, bei der ich kürzlich war, war die Aussergewöhnlichste. Im Saal sassen rund 50 Frauen - etwa ein Drittel von ihnen im Rollstuhl. Unter zwei Stühlen ruhten Blindenhunde - und vorne gestikulierten zwei Gebärdendolmetscher. Die Präsidentin, stark schwerhörig, führte mit zwei Mikrofonen souverän und selbstbewusst durch den Anlass. Es war die Jubiläumsfeier eines Netzwerks für Frauen mit Behinderung.

Am Eingang drückte man mir nicht nur den Jahresbericht in die Hand, sondern auch einen Stimmrechtsausweis. Das heisst: Ich gehöre zu diesem Verein. Mit einem unerwarteten Glücksgefühl griff ich nach dem gelben Zettel. Ich bin sonst kein Vereinsmeier. Während meiner Zeit als Journalistin beobachtete ich solche Anlässe liebend gerne still und machte mir so meine Notizen. Aber diesmal nahm ich den Ausweis nicht nur. Ich reckte ihn auch freudig in die Höhe, wenn wir - meist einstimmig - über ein Traktandum abstimmten.

In den Pausen diskutierten und plauderten wir. Die Frauen sind klug, viele gut ausgebildet, viele abgeklärt. Viele haben mehr durchgemacht als ich. Und doch erlauben sie sich zu denken, stehen sie im Leben. Ich ahnte: Irgendwo gibt es etwas anderes als diese perspektivearme Existenz in meinem düsteren Bürokabäuschen, die ich zurzeit führe.

Doch dann kehrte ich zurück in mein Städtchen, zurück zu meinen einsamen Spaziergängen, zurück in mein Bürokabäuschen. Und mir wurde klar: Ich habe keine Ahnung, wie ich aus dieser Existenz wieder herauskomme. Vielleicht, dachte ich plötzlich, vielleicht will ich sie sogar.

Da verging mir sogar die Lust aufs Bloggen.

Flaschengrüne Aussichten

Es ist kein gutes Zeichen, wenn ich keine Lust zum Bloggen habe. Schreiben gibt mir Kraft. Es ist bei mir wie bei diesem kampflwütigen Riesen in der griechischen Mythologie: Er bekam seine Kraft von Mutter Erde. So lange er sie berührte, war er unbezwingbar. Antaios hiess er. Als Herkules ihn besiegen wollte, hob er ihn in die Luft.


(Bild von Antonio Pollaiuolo ca. 1478)

Da war es aus mit dem Riesen. Wenn ich nicht schreibe, dann fühle ich mich wie Antaios in den Armen von Herakles. Ich schwebe in der Luft, aber ich kann nicht mehr atmen. Das Licht ist weich und flaschengrün, und es erstickt mich. Manchmal denke ich, nur schreibend könnte ich überhaupt zur Riesin werden.
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