12
Mai
2012

Dazugehören

In meiner Zeit als Lokaljournalistin habe ich, weiss Gott, eine Menge Vereinsversammlungen gesehen. Aber jene, bei der ich kürzlich war, war die Aussergewöhnlichste. Im Saal sassen rund 50 Frauen - etwa ein Drittel von ihnen im Rollstuhl. Unter zwei Stühlen ruhten Blindenhunde - und vorne gestikulierten zwei Gebärdendolmetscher. Die Präsidentin, stark schwerhörig, führte mit zwei Mikrofonen souverän und selbstbewusst durch den Anlass. Es war die Jubiläumsfeier eines Netzwerks für Frauen mit Behinderung.

Am Eingang drückte man mir nicht nur den Jahresbericht in die Hand, sondern auch einen Stimmrechtsausweis. Das heisst: Ich gehöre zu diesem Verein. Mit einem unerwarteten Glücksgefühl griff ich nach dem gelben Zettel. Ich bin sonst kein Vereinsmeier. Während meiner Zeit als Journalistin beobachtete ich solche Anlässe liebend gerne still und machte mir so meine Notizen. Aber diesmal nahm ich den Ausweis nicht nur. Ich reckte ihn auch freudig in die Höhe, wenn wir - meist einstimmig - über ein Traktandum abstimmten.

In den Pausen diskutierten und plauderten wir. Die Frauen sind klug, viele gut ausgebildet, viele abgeklärt. Viele haben mehr durchgemacht als ich. Und doch erlauben sie sich zu denken, stehen sie im Leben. Ich ahnte: Irgendwo gibt es etwas anderes als diese perspektivearme Existenz in meinem düsteren Bürokabäuschen, die ich zurzeit führe.

Doch dann kehrte ich zurück in mein Städtchen, zurück zu meinen einsamen Spaziergängen, zurück in mein Bürokabäuschen. Und mir wurde klar: Ich habe keine Ahnung, wie ich aus dieser Existenz wieder herauskomme. Vielleicht, dachte ich plötzlich, vielleicht will ich sie sogar.

Da verging mir sogar die Lust aufs Bloggen.

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steppenhund - 12. Mai, 16:02

"Die Frauen sind klug, viele gut ausgebildet, viele abgeklärt. Viele haben mehr durchgemacht als ich. Und doch erlauben sie sich zu denken, stehen sie im Leben. Ich ahnte: Irgendwo gibt es etwas anderes als diese perspektivearme Existenz in meinem düsteren Bürokabäuschen, die ich zurzeit führe."
Das Fehlen von Perspektiven kann einem schwer zu schaffen machen, doch die Perspektiven werden im eigenen Kopf gesichtet - sie sind nicht durch die Außenwelt und die Umstände erzwungen. Die Abenteuer sind im Kopf, wie der österreichische André Heller einmal getextet hat.
Ich schätze Sie als zu intelligent ein, dass Sie es diesen Frauen nicht nachmachen können. Auf ihre Weise, in ihrer Welt.
-
Letzte Woche war ich mit meiner Frau in der Rusalka von Dvorak. Rusalka darf nicht sprechen und daher gibt ihr der Prinz letztlich den Laufpass, weil er sie nicht versteht. Das Konzept kommt in vielen Grimm's Märchen vor, in denen die Frau nicht sprechen kann. Es ist bezeichnend, dass dies als Verlust der Kommunikationsmöglichkeit gesehen wurde. Damals war das schreiben und lesen Können ein Luxus, der den einfachen Menschen verwehrt blieb. Vielleicht fällt es schwer, sich ein "normales" Leben versagen zu müssen. Aber was ist schon normal?
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Ich wäre sehr froh gewesen, wenn Sie in ihrem Artikel nicht den Konjunktiv oder die Mitvergangenheit verwendet hätten. Wenn Sie statt "Ich ahnte, .." "Ich ahne" schreiben und meinen könnten. Dann wäre es vorstellbar, dass aus der Ahnung eine Gewissheit werden kann.

diefrogg - 12. Mai, 20:11

Danke, Herr Steppenhund!

Diesen Kommentar schätze ich sehr! Ich hoffe doch, dass aus der Ahnung noch Gewissheit wird. Aber Gewissheiten lassen sich nicht erzwingen...

Was die Stummheit betrifft: Mir scheint sie in solchen Zusammenhängen eine Metapher für mangelndes Selbstbewusstsein - und die daraus folgende Unfähigkeit, sich zu artikulieren. Interessanterweise ein Problem, das ich sehr gut kenne. Musste ich mich mündlich äussern, so versagte ich früher grundsätzlich - noch an der mündlichen Abschlussprüfung meines Literaturstudiums, man stelle sich das vor. Erst als gestandene Journalistin lernte ich, mich an Redaktionssitzungen zu behaupten. Beim Schreiben bin ich dagegen ziemlich streitbar - immer gewesen. Ich glaube, es gibt auch Märchen mit stummen Prinzessinnen, die irgend einen anderen Weg finden, sich auszudrücken. Die machen dann doch ihren Weg. Ich hoffe, in die Kategorie gehöre ich.
walküre - 15. Mai, 11:48

Seien Sie versichert, dass ich oft an Sie denke, und zwar nicht so sehr mit Traurigkeit, sondern mit vielen guten Wünschen und der Hoffnung. dass auch Sie die Ihnen innewohnenden Möglichkeiten in deren voller Größe erkennen !

diefrogg - 16. Mai, 10:58

Danke, Frau Walküre ;)

Falkin - 15. Mai, 12:43

Oha. Welche Synchronizitäten. Vorletzte Woche begann eine neue Station meines X-weges. Mittlerweile wäre ich wahrscheinlich bereit auf einem vollmondigen Schaltjahrestag an einer zwielichtigen Xung gesammelte Krötenbeine zu essen... wenn sie mir denn die ersehnte Normalität und reIntegration bescherten. Nun, ich ließ mich auf einen Test-(haha:)lauf ein. Punktionen und Injektionen der Wirbelkanäle, desweiteren Vereisungen von Wirbel-Nerv. So langsam wird das Spielchen spannend: wieviel abartig-pervers-en Schmerz vermag ich zu ertragen? Ich nehm ihn nimmer mehr ernst. Konstatiere, wie ich massakriert werde. Aber ich wollte eigentlich nur sagen... im Warteraum mehrere Gebeutelte. Hinkend. In Schräglagen. Sie kennen das ja von dem Einäugigen und den Blinden. Kam mir fast wie eine Queenie unter den 90°-Gebeugten vor. Aber wissen Sie, was wirklich und richtig schön war? In der Panik vor dem Erwarteten tauschten wir uns aus. Witziger(?)weise zu 80% Frauen. Vielleicht wird uns Frauen von Natur aus mehr als wir er-tragen können auf die Schultern gepackt (oder wir über-nehmen uns brav)... da war eine... ganz Taffe.... Sozialzeugs studiert, so wie ich. Ausgewandert nach Berlin. So wie ich. War ne Wilde früher. Motorrad gefahren. Die andere, nicht ganz so Wilde, aber ebenfalls ungemein Sympathische erzählte, wie sie das Hobby zum Beruf machte. Reitlehrerin. Wir alle... von heute auf morgen aus dem Leben auf den Abstellgleis gestellt. Zerschollene Träume und Fragezeichen. Ich hinkte zum Getränkestand, um mit einer weiteren HInkenden Getränke für die kaum mehr Gehfähigen zu organisieren. Aus all der Schwere wob sich ein Netz und auf dem Netz entstand so eine Leichtigkeit.... ein lautes leichtes fröhliches Lachen.

...kaum Zuhause angekommen, machte mir das Verlassen des Krankentaxis Schwierigkeiten. Danach war es mir kaum und nur umständlich möglich unser dämliches, dreifach verriegeltes Grundstückstor zu öffnen. Dumm begafft vom im Traktor vorbeieiernden Bauer. Die Hunde sprangen mich fröhlich an. Beim Werfen eines Balles, musste ich innehalten, weil mich ein jäher Schmerz in den 90°Winkel zwang. Danach verlor ich das Gefühl im rechten Bein und klammerte mich an den Poolrand. Den Schmerz als sich ein Holzsplitter der Umrandung in meine Handfläche bohrte fand ich fast angenehm. Da stand ich. Zurück. In meinem Leben. Ein Leben, welches auf meinen Fähigkeiten aufbaut. Ein Leben, indem meine Unverwundung Fundament ist. Ein Leben, in dem ich selber unnütz und überflüssig geworden bin. Ich musste mich arg zusammennehmen. Bin ein Kämpfernatur. Ich WILL nicht heulen. Zwang mich, tief Luft zu holen. Telefonat mit meinem Chef... ich will zurück auf meinen Arbeitsplatz. Trotzig bestand ich darauf, die Chance auf das Hamburger Modell. Ich war mutig. Und entschlossen. Er teilte mir mit, ich fehle, die Kolleginnen und Bewohnerinnen vermissten mich... Ach, das tat gut. Bis er dann nachfragte, wie ich mir es denn praktisch vorstelle... es mache doch keinen Sinn.

Es macht doch keinen Sinn. Ich visualisierte mich in mein Büro. Meinen Arbeitsablauf. Spontanität. Auch körperlicher Einsatz. Ich erinnerte meinen dusselig L-förmigen Schreibtisch, meinen Latina-Hüftschwung, mit dem ich mich stets vom PC zum Telefon schwang. Er hat recht. Es macht keinen Sinn. So nicht. Aber was macht dann Sinn? Ich fange an, mich immer irrwitziger ad absurdum zu führen. Als täte es helfen, mich selber zu verhöhnen. Aber vielleicht hilft es mir im Moment... mit mir selber klar zu kommen.

Ganz große psychische Hilfe verspreche ich mir von morgen. Morgen geht es zur nächsten Folter-Injektion. Ich hatte vergessen die Damen nach ihren Telefonnummern zu befragen. Hoffe, dies morgen nachholen können. Und vielleicht lässt sich das Netz weiter, oder anders spinnen. Das lehren uns doch zumindest die Mythen... dass die Nornen ewig unser Schicksal spinnen. Und infolgedessen glaube ich fest an erLösungen ... die wir nur noch nicht erkennen.

Alles Liebe für Sie, Frau Frogg! Dieser ganze Mist wird i-wann Sinn machen. Ganz sicher. Ich glaube da fest an Sie. Und an mich.

diefrogg - 16. Mai, 10:58

Da kann ich...

Ihnen nur wundersame Schonung bei der Folter wünschen! Oh, wie ich das kenne - dass man den Latina-Schwung vermisst! Bei mir sind es die netten Telefonate mit Kunden - und natürlich die Musik! Wirklich - die Sache mit Ihrer Stelle tut mir ausserordentlich leid.

Aber Sie sagen es: Der Sinn wird sich uns hoffentlich erschliessen, irgendwie, irgendwann!
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