2
Sep
2011

Fax von einem Amokläufer

Die Diskussion über Extremismus von neulich hat mir ein Erlebnis aus dem Jahr 2001 in Erinnerung gerufen. Es war im Mai oder Juni jenes Jahres, als ich ein Papier aus dem Faxgerät im Büro fischte. Die Seite war vollgetippt mit einem wirren Gezeter über die Zuger Verkehrsbetriebe. Gezeichnet von einem gewissen Fritz Leibacher.

Ich arbeitete damals bei einer mittelgrossen Tageszeitung irgendwo in der Schweiz. Nicht in Zug. Solches Geschreibe sieht man bei einer Zeitung alle paar Tage. Wir waren nicht interessiert und nicht zuständig. Ich leitete das Schreiben an jemanden weiter, der Herrn Leibacher freundlich unser Desinteresse zu verstehen gab.

Am 27. September 2001 betrat Fritz Leibacher das Gebäude, wo gerade das Zuger Kantonsparlament tagte. Er war als Polizist verkleidet und trug mehrere Schusswaffen. Im Kantonsratssaal eröffnete er das Feuer. 14 Menschen starben im Kugelhagel. Viele, viele wurden verletzt. Viele leiden noch heute an den Folgen des Amoklaufs.

Ich war gerade in England in den Ferien. Erst später fiel mir jenes Fax wieder ein. Ich habe seither oft darüber nachgedacht. Ich sehe mich heute noch damit vor jenem Faxgerät stehen. Der Spannteppich unter meinen Füssen war stahlblau. Das Schreiben enthielt keinerlei Drohungen. Nur leicht paranoides Geschreibe. Vielleicht ein bisschen dringlicher und paranoider als anderes Geschreibe, das ich in all den Jahren gesehen habe. Aber ich würde mit einem ähnlichen Schreiben heute möglicherweise dasselbe tun.

Es hätte ja auch nichts geändert, wenn ich anders reagiert hätte. Leibacher hatte schon vorher ganz Zug und Umgebung mit seinen Wahnideen drangsaliert. Niemand war zuständig. Niemand sah die Katastrophe kommen.

Ich habe mir einfach die Vorstellung abgeschminkt, dass ich fähig wäre, einen gewaltbereiten Extremisten im voraus zu erkennen.

31
Aug
2011

Experten mit kurzem Gedächtnis

Dieser Tage bin ich in der New York Times* einer Analyse von Elif Shafak begegnet. Titel: "Wie sich die Türkei dem Netz in die Arme wirft". Ein Zitat daraus: Politik-Experten sagen voraus, dass der verbreitete Gebrauch des Internet und anderer Kommunikationsmittel dem Mittleren Osten und dem Balkan eine vertiefte Sensibilität für Menschenrechte, die Zivilgesellschaft und die pluralistische Demokratie bringen werden. Eine global und digital vernetzte Bevölkerung ist weniger anfällig für extremistische Diskurse. "

Ich stutzte. Waren nicht noch vor wenigen Wochen die Medien voll von Experten-Meinungen über Anders Breivik? Und von solchen über die Rolle, die das Internet bei der Entwicklung seines rechtsextremistischen Wahns gespielt hat? Die verbreitete Auffassung von Experten war damals: Das Internet macht den Diskurs von Extremisten extremer. Es habe Breivik sicher nicht gebremst - sondern senem Wahn zusätzliche Nahrung geliefert. Kurz: Sie sagten ungefähr das Gegenteil von dem, was Shafak schreibt.

Womit ich keinesfalls sagen will, dass der Mittlere Osten künftig mehr Gewalt und Extremismus im Stil von Anders Breivik fürchten muss. Das kann ich schlicht nicht beurteilen.

Ich will lediglich sagen: Ich habe endlich verstanden, weshalb mich diese medial zubereiteten Instant-Thesen von so genannten Gesellschaftsexperten über das Internet so misstrauisch machen. Weil sie sich immer an einzelnen Vorfällen festmachen. Weil sie ein Gedächtnis von ungefähr zwei Wochen haben. Weil sie einen Einfluss des Internet sehen müssen - auch wenn er vielleicht gar nicht gegeben ist.

Statt Theoretiker-Geschwafel deshalb hier lieber einen Türkentango:



* Um ehrlich zu sein: Natürlich habe ich nicht die New York Times (NYT) selber gelesen. Sondern einen Zusammenschnitt der NYT, die jeweils der Print-Ausgabe des Tagesanzeigers beiliegt. Sie ist englischsprachig. Die Übersetzungen von Titel und Text sind von mir.

24
Aug
2011

Luftwaffen-Terror in der Schweiz

Der Teufel will es, dass wir in der Nähe des Militärflugplatzes Emmen wohnen. Er will ausserdem, dass ich seit dem Menière'schen Schub letzte Woche extrem lärmempfindlich bin. Zum Glück habe ich meine wächsernen Freunde.



Ich montiere sie möglichst dicht, sobald ich aus dem Haus gehe.

Beim Zeitungslesen am Frühstückstisch trug ich sie noch nicht. Man will sich ja mit seinem Tischgenossen unterhalten können. Aber der Teufel will es, dass das Wetter im Moment herrlich ist. So schön, dass wir bei offenem Fenster frühstücken. Das ist wunderbar und nur ungefähr zweimal im Jahr möglich. Wir sassen also da und genossen die Sonne.

Um punkt 8.30 Uhr startete die Luftwaffe. Genau über unseren Köpfen holten die Piloten das Letzte aus ihren Maschinen. Das Haus wankte, ich sass da und vergass vor Entsetzen sogar einen Moment lang, die Ohren zuzuhalten. Dann rannte ich und steckte Kopf unter mein Duvet. Auch Herr T. war geschockt. Er fluchte noch, als ich wieder auftauchte. Ich weiss jetzt: Kampfflugzeuge sind auch dazu gebaut, den Feind allein schon mit ihrem Lärm in Angst und Schrecken zu versetzen. Und damit die Piloten das im Ernstfall richtig gut können, muss es gelegentlich geübt werden. In einem friedlichen Land wie der Schweiz am besten an der eigenen Zivilbevölkerung.

Ich erwog, die Flugplatzwache anzurufen und zu motzen. Aber im Büro vergass ich das dann.

Heute habe ich frei. Ich konnte ausschlafen. Aber bevor ich gestern Abend das Licht löschte, bereitete ich mich auf den Luftwaffen-Angriff von heute Morgen vor. Ich steckte mir die Ohropax fest in beide Ohren. Dann machte ich im Bett einen militärischen Drill. Ich übte gründlich und mehrmals:

1) Blitzschnell auf den Bauch drehen
2) Das gute Ohr fest auf die Matratze drücken
3) Blitzschnell das Kissen über den Kopf ziehen und an den Schädel pressen

Am Morgen weckte mich tatsächlich die Luftwaffe. Aber ich konnte meinen Drill. Es ging. Beim Frühstück trug ich immer noch meine Ohropax.

22
Aug
2011

Teufelskreis

Ich höre wieder. Sogar Musik klingt wieder wie Musik.

Im Moment habe ich nur noch ein Problem: die Angst vor dem nächsten Schub.

Ich weiss, dass ich keine Angst haben sollte. Angst kann alles viel schlimmer machen. Aber was soll man machen? Man sitzt im Büro und laboriert mit dem neuen Windows 7 herum. Die Burschen vom Support haben bei der Installation etwas verbockt. Ich kann dringende Mails an gewisse Kunden nicht verschicken. Der letzte Bescheid vom Support war kafkaesk: "Wir wissen nicht, was Du falsch machst. Wir können Deine Mails verschicken!" Grossartig!

Heute - nacheiner Woche - hat endlich ein Supporter das Problem als solches erkannt. Wie er es lösen können, weiss er aber auch nicht.

Ich rege mich auf.

Ich sollte mich nicht aufregen. Ich könnte einen Hörsturz bekommen, wenn ich mich aufrege. Ich sollte auch nicht eine Stunde lang mit einem Tubel vom Computer-Support herumlaborieren müssen. Ich bin dafür nicht gesund genug. Und ich sollte mich auf keinen Fall aufregen. Auf keinen Fall!

Ich gehe nach Hause und rege mich noch mehr auf. Ich sollte mich nicht aufregen. Es ist ein Teufelskreis. Ich werde zum winselnden Maniak. Ich winde mich auf dem Sofa vor Angst. Dieses Computer-Problem wird uns Kunden kosten und mich in einen Hörsturz treiben. Ich weiss es. Früher hätte ich über so etwas gelacht. Aber jetzt... nein, jetzt nicht mehr. Ich bin nicht mehr ich selber. Als es an der Tür klingelt, will ich erst gar nicht aufmachen. Nur nicht noch mehr Stress!

Schliesslich mache ich doch auf - es sind meine Eltern. Sie wollten schon wieder gehen. Ich raufe mir die Haare und schildere ihnen die Situation: dass ein paar Kerle vom Computer-Support mich in einen Hörsturz treiben werden, verdammt! Ich bekomme beim Erzählen einen Tobsuchtsanfall. Schon wütend zu werden tut unglaublich gut.

Da sagt Mama: "Wenn die Burschen Deine Mails verschicken können, dann lass sie Deine Mails verschicken! Es ist ihr Job, das Problem zu lösen. So lange sie es nicht lösen können, sollen sie Deine Arbeit erledigen. Schick Ihnen Deine Mails und sag ihnen, dass sie sie weiter verschicken sollen. Du wirst sehen, wie schell das Problem dann gelöst ist!"

Die Idee ist simpel und ergreifend. Sie funktioniert wahrscheinlich. Genau das werde ich tun.

Die Angst ist wie weggeblasen, der Teufeslskreis durchbrochen. Oh, und der Wutanfall hat gut getan!

19
Aug
2011

Am Tiefpunkt

Eben war ich im Spital. Dort haben sie mir gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich würde auf meinem guten Ohr an der kritischen Stelle noch zehn Dezibel besser hören als damals, als es am schlimmsten war. Halleluja! Ich habe ja Mühe, einer Konversation unter vier Augen zu folgen. Wenn noch ein Auto vorbeifährt, bin ich verloren.

Dann haben sie mich halb krank geschrieben. Ganz krank schreiben können sie mich jetzt nicht mehr. Ich muss sonst um meinen Job fürchten. Und ich will auch arbeiten. Oder soll ich denn den ganzen Tag herumsitzen und dem Dröhnen in meinen Ohren zuhören? Ich bin jetzt wieder hier und blicke den Tatsachen in die Augen: Ich werde taub.

In solchen Momenten fällt mir immer ein Buch von George Orwell ein: Down and Out in Paris and London Er beschreibt darin, wie er im Paris der 30er-Jahre all sein Geld durchbringt, dann auch noch bestohlen wird und sich schliesslich als Küchenhilfe zu einem Hungerlohn verdingen muss.

"Er ist ausgesprochen merkwürdig, Dein erster Kontakt mit der Armut. Du hast so viel über sie nachgedacht. Sie war es, wovor Du Dich Dein ganzes Leben gefürchtet hast. Du hast gewusst, dass sie Dir früher oder später begegnen würde - und sie ist so völlig und prosaisch anders als Du erwartet hast ... Du dachtest, es wäre furchtbar. Aber es ist nur schmutzig und langweilig."

Und weiter unten: "Und da gibt es ein Gefühl, das ein grosser Trost ist in der Armut ... es ist ein Gefühl der Erlösung, fast des Vergügens, Dich endlich echt am Tiefpunkt zu wissen. Du hast so oft gesagt, Du würdest vor die Hunde gehen. Und, tja, hier sind die Hunde. Du bist bei ihnen und Du hältst es aus. Das nimmt Dir eine Menge Angst."

Ich ahne jetzt, was er gemeint hat. Obwohl taub werden eher furchtbar als schmutzig und langweilig ist. Und ich manchmal nicht ganz sicher bin, wie ich es aushalten soll.
logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

August 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Kommentar
Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

Status

Online seit 7641 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 14. Apr, 12:45

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren