6
Jul
2011

Der Muezzin und die Hunde

Am ersten Abend lagen wir mit Büchern in der Hand in unsern Betten in Antalya. Das Fenster unseres Zimmers ging auf einen Garten in der Altstadt. Von dort hatten wir schon am Morgen seltsames Gemaunze gehört. Kinder? Hunde? Katzen? Herr T. und ich waren nicht sicher. Doch jetzt fing der Muezzin zu singen an. Und sogleich erhob sich im Garten zweistimmiges Begleitgejaul. Wir brachen in Gelächter aus, denn jetzt war es eindeutig: Die Kreaturen im Hof waren zwei Hunde. Ob sie den Muezzin für ihresgleichen hielten?

Dabei ist der Gesang des Muezzins von Antalya eine Ehrfurcht gebietende Sache. Wie eine mächtige, vibrierende Glasglocke bedeckt die Stimme aus den Lautsprechern bei Sonnenuntergang die alte Stadt und die Bucht. Man glaubt, man könnte sie berühren, wenn man sich nur irgendwie in die Lüfte erheben könnte.

Am nächsten Morgen besuchten wir eine Moschee. Sie war gross und leer. Nur in einer Ecke hing eine Tafel mit einer Liste von Wörtern. Zahlen standen in Digitalanzeige daneben:

Imsak 03:44
Sabah/Gün 05:31
Ögle 13:06
Ikindi 16:55
Akşam: 20:28
Yatsı 22:06

Wir rätselten darüber, was das wohl sein könnte. Dann begriffen wir plötzlich: Das war der Einsatzplan des Muezzins! Seine Arbeitszeit verändert sich täglich, und zwar auf Grund komplexer Berechnungen - hier erläutert.

Auch als religiös desinteressierter Tourist kann man die sechsmalige Verkündigung von Gottes Grösse in der Türkei nicht immer ignorieren. Es sei denn, man wäre taub. Ob es wohl für taube Menschen in der Türkei etwas bedeutet, dass sie den Muezzin nicht hören können? Ich musste an den Blues-Pionier Blind Willie Johnson und seinen Song "Nobody's Fault But Mine" denken. Hier habe ich darüber geschrieben. Johnson beschreibt in seinem Song die Furcht, nicht in den Himmel zu kommen. Weil er die Bibel nicht lesen konnte. Kommt man in der Türkei nicht in den Himmel, wenn man den Muezzin nicht hören kann?

Aber mit Herrn T. gab ich mich fröhlichen Spekulationen darüber hin, wie die Türken wohl ihre Muezzine finden. Wir stellten uns einen Fernseh-Contest im Stil von DSDS vor. Sie hiess TSDSM (Türkei sucht den Super-Muezzin) vor. Wie ich unterdessen herausgefunden habe, lagen wir gar nicht so weit daneben.



Das Video ist der Trailer des Films Muezzin des Österreichers Sebastian Brameshuber. Er setzt sich mit dem Phänomen des Muezzin-Contests auseinander.

4
Jul
2011

Hören oder reisen?

Ich weiss seit langem, dass Reisen für mich eine Hochrisiko-Beschäftigung ist. Herr Menière piesackt mich mit Vorliebe unterwegs. Dann bekomme ich auch noch Panik, weil ich weiss, dass Reisen für mich eine Hochrisiko-Beschäftigung ist. Das macht alles noch schlimmer. Und so weiter.

Über die Frage "reisen oder hören?" habe ich auch schon mit meinem Kumpel English diskutiert. Der schmollt nämlich immer noch: Er wollte mich im Herbst 2009 besuchen, als es mir wirklich beschissen ging. Ich hatte nicht die Kraft für ihn, lud ihn aus und habe ihn seither nicht besucht. Aber wir telefonieren ab und zu. "Ich würde reisen und halt mein Gehör verlieren", sagte er. Da wurde mir bewusst: Solche Diskussionen sind ahnungslose Spielchen für Hörende. Genauso schwachsinnig wie die Frage, ob man eher auf sein Gehör oder sein Augenlicht verzichten könnte.

Wenn Herr T. nicht gewesen wäre, ich wäre seit 2009 nie mehr weiter als 50 Kilometer von zu Hause weggefahren - obwohl ich, weiss Gott, gerne reise. Er drohte mir letztes Jahr gewissermassen das Ende unserer Liebe an, wenn ich nicht mit ihm ins Engadin käme. Also begann ich, Risiken zu kalkulieren. Und ich lernte: Das Engadin geht. Oder ging jedenfalls letztes Jahr. Ebenso gingen London und Wien (und wie - fünf Tage nicht das leiseste Gehörverlüstchen!).

Das Reiseziel Südtürkei wählte ich dann nach einem Motto von Dr. Bailey in der Fernsehserie Grey's Anatomy.



Denn die echten Ärzte, die ich kenne, wissen auf die Frage "reisen oder hören?" sowieso keine Antwort. Aber Dr. Bailey ist eine kompetenten Frau. Und sie sagt: "A happy patient is a healthy patient." Und in der Türkei bin ich immer sehr glücklich gewesen. Auch diesmal wäre ich dort glücklich gewesen: Ich liebte die Menschen dort, das Licht, die Landschaft, die Kunst. Nur die Hitze hat mich diesmal ein wenig, na, wie soll ich sagen... überrumpelt.

Glück allein scheint Meniere-Patientin Frogg also nicht zu reichen - oder nicht nur. Es geht mir viel besser, seit ich wieder zu Hause bin (an dieser Stelle klopfe ich dreimal auf Holz). Wir waren heute in den Bergen. Es war herrlich.

Ich werde neu kalkulieren müssen.

Herr T. trägts mit Sarkasmus. "Ich sehe schon: Die Sonnenterrasse Amden ist unsere Zukunft", grinst er. Die Traumdestination unserer Grosseltern.

2
Jul
2011

Verfrühtes Ferienende

Eben sind wir aus der Türkei zurückgekommen - eine Woche früher als geplant.

Am 29. Juni sass ein elendes Häufchen Frogg in einem Pensions-Zimmer im reizenden Städtchen Kaş. Ihre Krankheit machte ihr zu schaffen. Zum mpfzehnten Mal in diesen Tagen. Und von Mal zu Mal wurde es schlimmer. Die Ohren dröhnten. Kühlschrank- und Ventilatorengesurr waren ihr längst im Klang der Schwerhörigkeit ersoffen. Ab und an gurgelte ein Auto vorbei. Frau Frogg wusste nicht mehr, was sie in Kaş verloren hatte. Sie fühlte sich, als läge sie in einem dieser 2000 Jahre alten lykischen Sarkophage, von denen sie in den letzten Tagen so viele gesehen hatte.

türkei2011 107 (Hier in Teimiussa)

Endlich sagte Frau Frogg laut und deutlich, was sie schon seit Tagen hatte sagen wollen und nicht zu sagen gewagt hatte: "Ich will nach Hause."

Herr T. wand sich. Er wollte nicht nach Hause. Er konnte auch nicht recht nachvollziehen, warum Frau Frogg nicht mehr reisen wollte. Er konnte ja nicht sehen, wie ihr Ohren gurgelten und dröhnten. Und überhaupt: Wie soll man eine Person verstehen, die innert einer halben Stunde von der munteren Reisegefährtin zum nervlichen Wrack wird - weil ihr Gehör so rasch nachlässt? Die sich am Strassenrand plötzlich jedes Mal gequält die Ohren zuhält, wenn eine Vespa vorbeiknattert (und es knattern viele Vespas vorbei). Naja, nennt es Hyperakusis, erhöhte Geräuschempfindlichkeit. Eine dieser paradoxen Begleiterscheinungen von Schwerhörigkeit. Unangenehm.

Doch dann begriff er, dass es mir ernst war. Wir buchten einen Flug nach Hause.

Heute gegen Abend kamen wir in Zürich an. Ich hörte das Kuhglockengebimmel und Jodeln im Flughafen-Bähnli und wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Ich wusste nicht, ob es Tränen der Erleichterung oder der Enttäuschung über das frühe Ferienende gewesen wären.

Ein Epos sollt Ihr trotzdem bekommen. Dafür reicht der Stoff allemal. Ich widme es hiermit acqua, mit der ich 2009 schon in Lykien gewesen bin. Ich habe hundermal an Dich gedacht, acqua.

Aber erst mache ich jetzt mit Herrn T. noch ein bisschen Ferien in der Schweiz.

18
Jun
2011

Aus! Fertig! Tschüss!

Freunde, genug Muotatal! Genug Epen! Genug grauer Alltag! Genug von allem im Moment! Ich muss packen. Heute Abend fliegen wird nach Antalya. Drei Wochen Ferien in der Türkei.

Bis danach!

17
Jun
2011

Wo man verschwinden kann

Man warnte uns vor der Silberen. "Dort oben sind schon Leute verschwunden, die sich eigentlich sehr gut auskannten", sagten die Frau, mit der wir an den Ausgangspunkt unserer Wanderung fuhren, auf den Pragel.

Schon nach wenigen hundert Metern zeigte Herr T. mir, wie man dort oben verschwinden kann: Da war eine zugewucherte Senke in der Landschaft. Nicht sehr auffällig. Aber von Stacheldraht umzäunt. "Das ist ein Schwundloch", sagte mein geografisch geschulter Begleiter. Typische Erscheinung in einem Karstgebirge. Da kann man hineinfallen und nie wieder gesehen werden. Es gibt ausserdem jede Menge zerklüftete Felsen. Auch auf dem Weg.

Denn die Silberen sind ein Karstgebirge. Da gibt es Schwundlöcher, Felsspalten, Schratten und Schrunden. Man kann in den Berg einbrechen. Oder man kann sich im Nebel verirren, in eine Felsspalte stolpern und sich ein Bein ruinieren.

Und dann waren da auch noch Schneereste.

Und, klar: Während wir die 500 Höhenmeter auf den Berg absolvierten, kam der Nebel. Frau Frogg hatte keine Ahnung mehr, in welche Richtung wir überhaupt gingen.

Sie bekam es mit der Angst zu tun.

Aber ich weiss jetzt: Man hat auch bei Nebel intakte Chancen, heil wieder ins Tal zu kommen. Man muss einfach den Wegzeichen folgen. Die liegen so nahe bei einander, dass sie sogar fröschinnensicher sind.

Silberen

Wie viele Stossgebete Frau Frogg dort oben himmelwärts sandte, ist allerdings nicht überliefert.
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Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

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