22
Jul
2011

Schwerhörig

Mittags esse ich oft in unserer Firmen-Cafeteria. Gestern setzte ich mich zu den Kumpels vom Büro 2.

Ich hatte einen schlechten Tag. Hintergrundlärm hörte ich als lautes Blubbern und Gurgeln und Girren. Als sässe ich in einer überkochenden Pfanne. Lästig. Beängstigend.

Die Kumpels redeten erst über Plattenläden. Da hatte ich natürlich auch etwas beizutragen. Dann kamen sie irgendwie aufs Fernsehen. Oder waren es Computer? Ich weiss es nicht mehr genau. Ich verstand nur noch Wortfetzen. Es interessierte mich nicht. Ich hängte ab. Ich schwieg und ass.

Ich dachte an Tante Nettli.

Es ist immer ein Alptraum von mir gewesen, so zu werden wie Tante Nettli. Tante Nettli taucht jeweils an Familienfesten bei Herrn T. auf. Sie fährt ein mit einem Hündchen namens Johnny, gibt sich zur Begrüssung betriebsam, macht merkwürdige Geräusche und rollt die Augen. Dann setzt sie sich hin und schweigt. Und isst. Und schweigt. Spricht man sie an, reagiert sie verdattert. Irgendwann bringt man dann eine Konversation ohne sie richtig schön zum Laufen. Dann plötzlich erhebt sie das Wort. Sie unterbricht alle und erzählt, dass sie gestern Rösti zum Mittagessen gemacht habe. Aus rohen Kartoffeln. Als sei das das Wichtigste auf der Welt.

Tante Nettli kann nichts dafür. Sie ist extrem schwerhörig - und man hat es viel zu spät gemerkt. Sie hat sich nie an ihre Hörgeräte gewöhnt.

Aber wir haben uns auch schon gefragt: Kommt sie bei unseren Gesprächen nicht mit? Oder will sie nicht mitkommen?

Nie wollte ich so werden wie Tante Nettli.

Aber gestern war ich schon ein bisschen wie Tante Nettli. Ich schwieg. Ich liess mich abhängen. Ich war schwerhörig.

20
Jul
2011

Ohrensausen am Morgen

Gestern früh bin ich mit einem Geräusch-Trio im Ohr aufgewacht, das mir gar keine Freude macht: Da waren ein dumpfes Dröhnen; ein merkwürdiges Schaben; und ein filziges Aufdonnern jedesmal, wenn ich den Kopf bewegte. Die Autos draussen huschten wie auf Flügeln vorbei, ganz ohne Tieftöne.

Wenn ich das morgens habe... ganz schlechtes Zeichen. Morgens hatte ich das bisher nur im Herbst 2009, als ich den ersten, wirklich schlimmen Meniere-Schub auf meinem guten Ohr hatte.

Dabei hatte ich am Montagabend noch geglaubt, ich hätte das Schlimmste überstanden; den Schock der abgebrochenen Türkei-Reise überwunden; die postferiale Stresswelle im Büro zum Abebben gebracht; das herannahende Tiefdruckgebiet verkraftet. Das Gehör ging bestens, den ganzen Tag.

Und dann das!

Das Schlimme daran ist, dass es zwei meiner Lieblings-Illusionen an den Klippen der Wirklichkeit zerschellen lässt:

1) dass ich in der Lage bin, mir das Ohrenleiden mit einer vorsichtigen Lebensweise vom Leib zu halten.
2) dass ich den Verlauf der Krankheit einigermassen einschätzen und damit auch ein bisschen steuern kann.

Zu eins: Ich hatte im Büro freudig ein kleines Projekt angenommen, das mir interessant und wenig aufwändig schien. Aber ich hatte mich verkalkuliert: Innert Tagen hatte ich Problemfelder von mehreren Hektaren vor mir. Schnell kam Termindruck. Ich machte auf die Probleme aufmerksam, aber man hörte mir nicht zu. Die Probleme wurden noch grösser. Und so weiter.

Kann man auf die Dauer überhaupt arbeiten, ohne dass solche Dinge passieren? Nein. Ich habe solche Situationen schon ein paarmal erlebt, seit ich wieder arbeite. Nicht jedesmal ist ein Desaster passiert. Aber es kann ein Desaster passieren. Oder ist das Desaster überhaupt nicht deswegen passiert? Sondern wegen etwas anderem? Ich weiss es nicht.

Inzwischen weiss ich aber: Irgendwann werde ich ohnehin taub. Früher oder später.

Abends ging ich spazieren. Ich erinnerte mich an jene fürchterliche Zeit im Winter 2009. Dieses Entsetzen.

Nein, dachte ich. Es ist nicht so schlimm wie damals. Und ich stehe an einem anderen Ort. ICH STEHE AN EINEM ANDEREN ORT!!!

Aber als heute Morgen erwachte ich noch in einen weiteren Tinnitus: ein helles, gellendes Pfeifen. Das ist der schlimmste Tinnitus. Er kündigt schwindende Töne auf Hochton-Frequenzen an. Wenn er kommt, verschwindet nicht selten das Sprachverständnis.

Ich habe ein Cortison eingeworfen, den Arzt angerufen und mir versprochen, ruhig zu bleiben. Ich habe frei. Im Moment kann ich noch Radio hören.

16
Jul
2011

Gigolo auf Weltreise

Musikalisch sind die Türken ausgesprochen eigenständig. Gegen angelsächsische Globalkost sind sie immun. Wenn schon westliche Einflüsse, dann bitte von türkischen Bands mit orientalischem Sound amalgamiert. Umso erstaunter war ich, eines Abends in unserem Stammrestaurant am Strand von Çıralı diesen Song zu hören.



Hört unbedingt hinein, wenigstens kurz! Ihr werdet ihn sofort erkennen. Ja, es ist eine eingetürkte Version von "Gigi l'amoroso" - diesem ultimativen Strandschlager aus den sechziger Jahren. Sänger Tanju Okan hat sich nicht einmal die Mühe genommen, ihn mit dieser leisen Wehmut zu unterlegen, die sonst türkischen Schlagern eigen ist.

Dalida machte das Lied 1968 europaweit zum Hit. Sie sang ihn auf italienisch, französisch und spanisch. All dieser Sprachen noch unkundig, glaubte ich als als Teenager, Gigi müsse der Inbegriff des italienischen Strand-Gigolos sein. Dabei ist die Story eine Ode an einen Dorfcasanova mit gescheiterten Hollywood-Ambitionen.

Mein Irrtum mag auch damit zusammenhängen, dass in den 70er Jahren eine schweizerdeutsche Version des Songs hierzulande die Charts stürmte. Er heisst "Gigi vo Arosa" und besingt einen attraktiven Skilehrer. Damals war das Musik für unsere Eltern und einfach nur öde. Heute weiss ich nicht, ob ich lachen oder nostalgisch werden soll, wenn ich mir das anhöre. Oder ob ich es immer noch einfach blöd finden soll.

Und die türkische Version von Tanju Okan? Ein Versuch, europäisches Strandleben zu kopieren? Ich weiss es nicht. Meine Recherchen waren unergiebig. Die Kellner im Strandrestaurant hatten keine Zeit, über Songs zu reden. Und dem türkischen Wikipedia-Eintrag entnehme ich lediglich, dass Okan 1996 nur 58-jährig starb und aus Izmir stammte.

Mit dem Titel habe ich dann noch ein bisschen herumgegoogelt. "Aşkı" heisst offenbar "Haken" oder "Kleiderhaken". "Bulacaksın" heisst wahrscheinlich "du findest".

"Du findest den Haken"? Doch keine Strandidylle.

11
Jul
2011

Auch ich



Deswegen.

Wobei ich zum Beitrag von Herrn Trithemius anmerken möchte: Zeitungsredakteure betrachten keineswegs als Selbstverständlichkeit, dass ihre Berichte gelesen werden. Im Gegenteil: Viele diskutieren jeden Tag den halben Tag lang darüber, wie man "den Leser" dazu bringt, etwas zu lesen. Oder darüber, ob "der Leser" dies oder jenes überhaupt gelesen habe - und wenn nein, warum nicht.

Zeitungsredakteure wissen schliesslich, wie wenig sie selber lesen.

8
Jul
2011

Rock'n'Roll für die Augen

Dass das Museum von Antalya einen Besuch wert ist, hat Herr T. bereits erwähnt. Besonders aus der Antike sind dort ein paar überwältigend schöne Stücke zu sehen.

Aber als wir dort ankamen, fühlte ich mich ein bisschen wie diese Figur aus der Römerzeit im Saal der Statuen.

The Goddess Artemis

Das ist Artemis, die Göttin der Jagd und des Waldes. Sie hat einmal einen Bogen gehalten, der ihr aber irgendwann in den letzten zwei Jahrtausenden aus den Händen gerissen wurde - zusammen mit einem Teil ihres Gesichts. Auch ich war teilbeschädigt. Bei mir waren die Ohren das Problem. Meeresrauschen hörte ich an jenem Tag als ein irritierendes Meeresgluckern und -schaben. "Wenn das so weitergeht, werde ich gar nicht erfahren, wie Antalya wirklich klingt", dachte ich. Ich war verzagt.

Aber dann geschah etwas Merkwürdiges. Ich sah ich dieses Relief auf einem Sarkophag.

Dyonisian Ritual an a Tombstone

Es zeigt eine bacchantische Szene, die Rampensau im Bildzentrum heisst Silenos. Es war die schiere, krafttrotzende Vitalität dieser Figur, die etwas in mir berührte. Es war Rock'n'roll fürs Auge. Ich wusste plötzlich: Ich wollte hier sein. Ich wollte hören.

Und tatsächlich hörte ich danach deutlich besser.

Es ist nicht das erste Mal, dass mir so etwas passiert. Es gibt Momente, in denen ich die Willenskraft in mir finde, mich selber zu heilen - wenigstens vorübergehend. Allerdings reicht es nicht, wenn ich mich hinstelle und sage: "Ich will hören". Es braucht mehr. Ich muss die Kraft auch finden, es selber zu glauben. Diesmal glaubte ich es.

Als ich das Museum verliess, fühlte ich mich so.

Head on Tombstone

Der Zustand hielt immerhin bis zum Abend an.
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