1
Jun
2011

Intime Szenen in Balkonien

In den Achtzigern zirkulierte der Spruch: "Wir sind die Leute geworden, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben." Das galt auch für mich: Ich war immer mal zum demonstrieren aufgelegt, hörte laute Musik und trug stets verbeulte Jeans statt hübschen Jupes. Meine Eltern hassten es.

Aber die Zeiten ändern sich. Heute frage ich mich manchmal, ob ich jetzt zu den Leuten gehöre, zu denen ich früher nie und nimmer gehören wollte. Zu jenen bitteren Füdlibürgern, die abends auf dem Balkon sitzen und ihre Nachbarn beobachten. Mit stets leicht hinuntergezogenen Mundwinkeln natürlich.

Mein abendlicher Fensterplatz ist ideal für solches Benehmen. Ich sehe von dort nicht nur den Sonnenuntergang, sondern auch die Balkone vis à vis. Die sind wie kleine Bühnen. Intime Szenen häuslichen Lebens spielen sich dort ab.

Da wohnt zum Beispiel dieses junge Paar. Letztes Jahr hatten sie ein neu geborenes Baby. Abends sass sie lange mit dem Kind draussen und stillte auch mal. Er war meist auch dabei. Er schien sich manchmal eingeengt zu fühlen. Etwas hibbelig. Er wollte weg, ich konnte es bei mir oben riechen. Er wollte zu seinen Boys. Weg von diesem Weiber-Groove. In jenem Sommer lernte ich die Männer neu verstehen. Sogar Herrn T. Ein Mann muss ersticken, wenn er immer in dieser Mami-Atmosphäre herumhängt.

Diesen Sommer scheint sich die Paar-Dynamik leicht verschoben zu haben. Sie telefoniert stundenlang mit dem Handy. Sie scheint sich kaum noch für ihn zu interessieren. Mir scheint, er möchte mehr von ihrer Aufmerksamkeit. Oder täusche ich mich?

Manchmal ist mir meine Voyeurinnen-Rolle ein bisschen peinlich. Ich würde die beiden gerne kennen lernen. Aber die Balkone da unten sind zu weit weg für Zurufe. Und auf der Strasse sehe ich die beiden nie. So versuche ich bei meiner Betrachtung des Sonnenuntergangs wenigstens die Mundwinkel nicht hängen zu lassen.

Und weil es hier so schön ist, ehren wir heute einheimisches Musikschaffen. Tolle Band!

29
Mai
2011

Himmlischer Ausblick auf Luzern

Südwestlich von Luzern am Hang steht ein alter Hotelkasten. Er heisst Himmelrich. Seit ich neulich da war, weiss ich, weshalb: Die Aussicht ist dort oben einfach himmlisch. Man braucht keinen Wein zu trinken. Man ist von der Aussicht restlos besoffen.

Das Bild unten stammt vom "Himmelrich". Ok, es ist nicht genau das, was sich der Tourist unter einem tollen Ausblick vorstellt. Aber es ist von lokalhistorischer Relevanz. Es zeigt das neue Fussballstadion mit den wachsenden Wohntürmen. Was haben wir über diese Türme gestritten! Sie sind weit und breit das Höchste, was unsere Stadt an Bauwerken hat. Ein Schrecknis für Anwohner, Heimatschützer und finanzpolitische Warner. Für sie dürfte der Titel des Beitrags zu diesem Bild von himmelschreiend bitterer Ironie sein.

Allmählich nehmen die Hochhäuser Gestalt an.

Luzern, 18. Mai 2011

Dieses Bild entstand am 18. Mai - dem Tag, an dem ich im "Himmelrich" war. Ich beschloss dort, die Türme bis auf weiteres zu mögen.

Noch ein Wort zum neuen Restaurant: Gegessen habe ich dort noch nicht. Das Restaurant ging gerade auf, und das Personal schien - vielleicht von der Aussicht - etwas verwirrt. Und die Beschallung ist nichts für Hardcore-Spaziergänger: Nichts gegen den urbanen Chic von Sade. Aber dort oben?

Wer es lieber bodenständig hat, findet nicht weit weg das Burestübli. Dort sind allerdings die SVP-Plakate rundum etwas störend. Und die Aussicht ist nur halb so toll.

25
Mai
2011

Sommer in Balkonien

Es ist schon Sommer hier. Ich verbringe die Abende am Fenster. Dort schrumpft die Welt und wird so klein wie die Szenen auf dem Balkon gegenüber. Und so unendlich weit wie die Landschaft dahinter. Auf dem Dach links baut sich jeden Abend eine Amsel auf und singt. Sie singt eine Ode an die Stille, eine Hymne an die Ewigkeit.

22
Mai
2011

Die Einsamkeit

Ich habe eine neue Freundin. Sie heisst Einsamkeit. Sie besucht mich vor allem an den Wochenenden, an denen der Kulturflaneur viel weg ist.

Wir unterhalten uns bestens. Wir machen lange Spaziergänge. Wir geben uns dem Musikgenuss hin. Wir schreiben lange Blog-Einträge. Ein bisschen zu lang, vielleicht.

Ich kenne die Einsamkeit schon lange. Aber früher mied ich sie wie die Pest. Als Studentin bekam ich Angstzustände, wenn sie bei mir an der Tür klingelte. Ich floh dann immer. Später kam sie hie und da zu Besuch, aber ich ignorierte sie einfach. Ich war beschäftigt.

Erst als ich zeitweilig fast nichts mehr hörte, musste ich mich mit ihr arrangieren lernen. Jetzt ziehe ich sie irgendwelchen mittelmässigen Theater-Vorführungen hundertmal vor. Ich verlasse mich drauf, dass ich meine Freunde finden werde, wenn ich sie brauche. Und dass ich es erfahre, wenn jemand mich braucht.

Ich bin glücklich.

Doch ab und an habe ich merkwürdige Erlebnisse. Gestern zum Beispiel war ich (zum Erstenmal seit langer Zeit) auf Reportage. Ein wichtiger Lokal-Anlass. Ich bretzelte mich extra ein bisschen auf und lackierte mir die Zehennägel ganz comme il faut.

Es waren Leute da, die etwas zu sagen haben. Früher hätte ich mich hemmungslos an sie herangemacht. Schon aus beruflichen Gründen. Auch diesmal war ich bereit. Ich hatte den Einstieg für eine Konversation auf der Zunge. Ich steuerte auf Herrn Wichtig zu. Doch fünf Meter vor dem Ziel goss mir jemand Blei in die Beine. Ich verschluckte mich an meinem Konversations-Einstieg und musste erst mal stehen bleiben. Zehn Minuten später stand ich immer noch an derselben Stelle.

Ich glaube, ich werde langsam eigenbrötlerisch.

20
Mai
2011

Elvis oder Beatles?

Warum ich "nur" Rock'n'Roll schreibe, fragte Frau Walküre neulich in einem Kommentar. Sie warf - mit Ironiezeichen versehen - die Frage auf, warum wir Rock'n'Roll manchmal ein bisschen geringschätzig behandeln. Frau Walküre, das ist keine Frage, die man mit Ironiezeichen versehen muss. Das ist eine ernste und äusserst vielschichtige Frage. Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir immer diese Diskussion ein, die ich mit meiner Freundin Helga im Herbst 2010 hatte. Sie ist promovierte Musikwissenschaftlerin und war einmal Opern-Dramaturgin. Doch wenn es um Rock'n'roll geht, muss man die Fragen für sie einfach formulieren. "Elvis oder die Beatles?" lautete die Frage.

"Beatles!!!" rief Helga mit Nachdruck, "Ich meine: Dieses... wie hiess es nochmal... 'Sgt. Peppers'... das ist doch die Fortsetzung der klassischen Musik mit modernen Mitteln." Nichts gegen "Sgt. Peppers", oh nein. Aber sie sagte es in diesem kompetenten Ton, der stets meinen Widerspruch herausfordert. "Elvis!" sagte ich. "Ich meine: Diese Stimme!"

"Aber Mona, ich muss schon sagen: 'Love Me Tender ist, musikalisch betrachtet, kein besonders guter Song!"Hier war der Ton fast etwas tadelnd. Da verschlug es mir die Sprache, denn ich erkannte: Zu den wenigen Dingen, die ich Helga nie werde erklären können, gehört der Rock'n'Roll. Helga lebt musikmässig auf dem Planeten Beethoven. Ich nicht.

Ich meine, klar: "Love Me Tender" ist eine Schnulze. Nur jemand vom Planeten Beethoven könnte "Love Me Tender" als Meilenstein der Rockmusikgeschichte missverstehen. Klar wünsche ich mir, Elvis hätte mehr Songs wie Heartbreak Hotel gemacht. Aber wir erwarten doch von Elvis nicht, dass er die Musik Wagners fortschreibt! Wir erwarten, dass er seine Stimme erhebt und die Hüften schwingt, bis wir weich in den Knien werden!

Es gehört zu den grossen Mythen des 20. Jahrhunderts, dass die Schwarzen im Mississippi-Delta den Blues bekamen. Dass sie den Sex in die Musik brachten und den Begriff Sound mit Inhalt füllten. Es gehört auch zu den grossen Mythen des 20. Jahrhunderts dass Weisse den Blues, den Sound, den Sex stahlen und damit ein Heidengeld machten.

Ob der Rock'n'roll deswegen einen Platz in den Feuilletons verdient hat, darüber muss man ja heute nicht mehr streiten. Will ich auch nicht. Wenn es um Erzeugnisse der Kultur geht, bin ich eine überzeugte Anhängerin von Pierre Bourdieu. Bourdieu schreibt in etwa: Mit der Kultur, die wir konsumieren, demonstrieren und zementieren wir unseren sozialen Status. Er zeigt in einer Studie aus den sechziger Jahren sehr deutlich: Opernkonsumenten gehören zur Oberschicht. Mehr muss man dazu nicht sagen.

Eigentlich schade, dass ich mich in der Oper immer etwas gelangweilt habe. Vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen, wenn es nicht so gewesen wäre.

Aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern.

Dafür gibt es ein paar Fragen, die ich gern einer Musikwissenschaftlerin gestellt hätte. Zum Beispiel:

Wie hat YouTube unsere Wahrnehmung von Musik verändert?
Warum kommt uns einiges, womit wir gross geworden sind, heute pubertär vor? Anderes aber noch viel grösser als damals?
Liegt es an meinen fortgeschrittenen Jahren, dass mir viel Musik dieses Jahrzehnts etwas beliebig, etwas müde vorkommt?

Naja, machts nichts. It's only rock'nroll.

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