18
Mai
2011

Meine Schallplatten

Am letzten Wochenende hat mir mein Bruder den Teil meiner Schallplattensammlung zurückgegeben, den er sich nach meinem überstürzten Auszug von zu Hause unter den Nagel gerissen hatte.

Wie rohe Eier trug ich acht LPs durch die halbe Schweiz nach Hause. "Das ist das schwarze Gold meiner Jugend", dachte ich. Ich fieberte darauf, sie zu hören. Aber dann bekam ich merkwürdig zwiespältige Gefühle. Vieles kam mir ein bisschen pubertär vor.

Zum Beispiel die Scheibe hier:


Und nicht nur, weil sie bei "Black Dog" einen Sprung hat. Naja, vielleicht hatte ich zu hohe Erwartungen. Nach meinen Hörstürzen entdeckte ich Led Zeppelin neu und hielt "IV" eine Zeitlang für die Mutter aller Alben. Ich sah und hörte Led Zeppelin auf YouTube auf und ab. Aber als ich dann das Vinyl-Teil hörte, verstand ich auch, warum ich es mit 20 zu Hause liegen liess und lieber Jimi Hendrix ins Erwachsenenleben mitnahm. Sie klingt irgendwie flacher als die YouTube-Videos. Merkwürdig.

Oder die hier:


Kansas, "Point of Know Return"; solide Rockmusik, aber der geniale Touch fehlt.

Gleich links liegen liess ich die hier:


Bob Marley & the Wailers: "Exodus". Kann man die heute überhaupt noch hören?

Die hier habe ich mir für ein andermal gespart.


Denn plötzlich wusste DJ Philemon, mein innerer Plattenaufleger, sehr genau, was er hören wollte:


Pink Floyd: "Wish you were here". Das erstaunte mich. Mein Bruder hatte mir die Platte richtig aufdrängen müssen. "Doch, das war Deine", sagte er. Aber nun war ausgerechnet sie es, der ich eine Chance gab, mir auch heute noch etwas zu sagen. Und nicht etwas "The Wall" von Pink Floyd. Die halte ich heute definitiv für Gymnasiasten-Zeug halte.

Aber DJ Filemon hat eben zuweilen merkwürdige Anwandlungen.

Ich hörte. Hörte, wie da eine Band mit Synthesizern grosses Pathos inszeniert. Sollte ich ihnen das abnehmen? Ich weiss es immer noch nicht.

16
Mai
2011

Gebt mir ein Auto!!!

Am 30. September 2009 hatte ich einen krassen Schwindelanfall. Oberarzt Pfiffig diagnostizierte ihn später stolz als Tumarkin-Attacke - ohne natürlich ein Mittel zu kennen, das weitere verhindern könnte. Seither habe ich kein Autosteuer mehr berührt.

Ich habe das Autofahren nicht vermisst. Ich lebe ja in einem Land mit einem gut ausgebauten öffentlichen Verkehr.

Aber dann passierte es. Ausgerechnet in einem öffentlichen Verkehrsmittel.


(Das Bild habe ich bei flickr abgekupfert, den jungen Mann darauf kenne ich nicht).

Das ist der Tellbus, ein famoses, zweistöckiges Fahrzeug. Er ist ein Pendlerbus, der morgens und abends Altdorf und Luzern verbindet. Neulich machte ich einen Ausflug im Tellbus - mit meinem Gottenbuben Tim (6), der ein Fan doppelstöckiger Busse ist. Natürlich sassen wir oben ganz vorne. Dafür sorgte Gotte Frogg, die das Drängeln im Bus bei alten Weibern in Griechenland abgeguckt hat. Alte Weiber in Griechenland können drängeln wie sonst niemand in Europa.

Und natürlich versuchte ich klein Tim auf der Fahrt zum Telldenkmal auch ein bisschen Tell-Mythologie zu vermitteln. Aber das war hoffnungslos. Das Bild vom armen Walterli mit dem Apfel auf dem Kopf verblasste neben Tims Begeisterung über die Autobahn. "Schau, der Bus überholt einen Lastwagen!" quietschte er zwischen Buochs und Beckenried begeistert. Einer der Momente, die er wohl noch lange nicht vergisst.

Ich verstand ihn ja so gut! Denn kaum hatte der Duft der A2 meine Geruchsnerven erreicht, erinnerte ich mich: Diese Strasse ist nicht irgendeine Autobahn. Es ist eine Strasse, die nach Gefahr und nach Glück, nach wildem Wetter, nach Bergen und nach dem Süden riecht. Riesige Laster kriechen auf ihr dem See entlang wie erschöpfte Dinosaurier. Einmal befuhr ich sie mit brandneuem Fahrausweis, ganz allein und geriet in einen heftigen Regenschauer. Ich hatte eine Auto, das ich nicht kannte. Ich hatte Lüftung nicht im Griff und die Scheibe lief an. Ich hatte 100 Sachen und sah plötzlich nur noch Nebel. Ich war verloren.

"Mach das Fenster auf!" zischte irgendeine innere Stimme. Ich kurbelte die Scheibe ein paar Zentimeter hinunter. Kalte Luft und Wasser wirbelten ins Auto. Dann sah ich den hellblauen Lastwagen vor mir wieder. Ich war gerettet.

Manchmal, nur manchmal, verstehe ich Menschen, die gerne Auto fahren.

11
Mai
2011

Sie ist ständig müde

Meine Freundin Theres ist einmal ein Arbeitstier gewesen. Sie hatte ihre Abteilung bestens im Griff - auch den Chef. Bis sie vor einem Jahr schwer stürzte und sich am Kopf verletzte. Seither leidet sie an chronischer Müdigkeit und kann nicht mehr richtig arbeiten.

Man muss sie mit Samthandschuhen anfassen. Man darf sie nicht mal anlächeln und fragen: "Wie gehts?" Das heisst: Man darf natürlich. Aber man muss damit rechnen, dass sie als Antwort eine Gähn-Attacke bekommt. Oder diesen leidenden Blick, der in etwa sagt: Wenn ich dürfte, würde ich Dir für eine solche Frage die Fresse polieren!

Ich kenne dieses Gefühl. Ich bin auch schon krank gewesen und die Leute haben mich angestrahlt und gefragt: "Wie gehts?!" Sie wollten mit ihrem Lächeln Kraft und Lebensfreude vermitteln und einfach nicht verstehen: Ich empfand es als Diskriminierung durch das Schicksal, dass mein Gegenüber überhaupt so aufgestellt lächeln konnte - und als Antwort auch noch ein Lächeln zurückerwartete.

Ich kenne dieses Gefühl, und ich mag Theres. Und doch bin ich ein Jahr lang immer wieder in dieselbe Falle getappt. Ich habe sie gefragt: "Wie gehts?" - und sie dabei angelächelt.

Gestern habe ich endlich den richtigen Dreh gefunden. Ich begegnete ihr auf der Strasse. "Hallo Theres", sagte ich lächelnd. Dann neigte ich ernst, aber nicht zu teilnehmend den Kopf und fragte: "Gehts?"

Sie sagte: "Ja, es geht. Ich will nicht sagen, dass es gutgeht. Aber es geht."

Das war ok. Und ich kann dieses Wissende Kopfneigen im Umgang mit gesundheitlich angeschlagenen Menschen durchaus zur Nachahmung empfehlen. Ungefähr.

Und noch eine Empfehlung: Unbedingt in dieses Video reinschauen. Eine Wucht!

9
Mai
2011

Syrische Jungs

Bevor ich heute nach Hause ging, öffnete ich zufällig eine Ausland-Seite von morgen. Ich las einen Lead. Da stand "Syrien. Assads Soldaten durchkämmen in mehreren Städten alle Wohnungen und verhaften Tausende. In den Vororten von Damaskus sind schwere Kämpfe im Gang."

Es war das erste Mal, dass mich die Katastrophe in Syrien emotional erreichte.

Das ist merkwürdig spät. Denn ich bin schon einmal in Syrien gewesen. 1998 wars, im Oktober. Damals machte ich am Rand eines noch nicht allzu tief ausgetrampelten Touristenpfads im Norden des Landes dieses Bild.

Boys in Syria

Die Sprache der drei konnte ich nicht. Aber sie standen für mich bereit, noch bevor ich die Kamera richtig gezückt hatte. Ich musste nur abdrücken.

Ich muss gestehen: Ich hatte sonst keine Zeit für die Menschen in Syrien. Ich war mit einer Schweizer Gruppe unterwegs - auch beruflich. Der Röstigraben, der mitten in unserer Gruppe klaffte, beschäftigte mich mehr als die Syrer. Von ihrer Politik ganz zu schweigen - auch wenn die riesigen Bilder vom alten Assad jede Minute an den Diktator erinnerten. Überhaupt. Wer will solche Dinge schon genau wissen, so als Tourist.

Aber ich liebte Aleppo. Wenn die Sonne in Aleppo untergeht, leuchten die Mauern der Stadt in allen Regenbogenfarben auf. Und dann legen die Muezzine los. Es ist, als würde die Welt in einem Rausch aus Farben und Stimmen untergehen. Wenn der Orient eine Droge ist - eine Droge aus Licht, süsser Ruhe und Raum - dann hat Aleppo mich angefixt.

Ich liebte die Wüste. Ihr gleissendes Licht am Tag, ihr warmes Leuchten am Abend, ihre mörderische Kälte in der Nacht.

Die Jungs waren damals zwölf, dreizehn Jahre alt. Sie sind jetzt um die 25. Sicher ein gefährliches Alter, wenn Staatsterror herrscht. Ich habe nie mit ihnen gesprochen. Ich konnte ihnen nicht mal dieses Bild schicken.

Wo sie wohl sind?

7
Mai
2011

Unvergesslicher Moment

Wir sitzen zu sechst beim Mittagessen am runden Tisch. Rundum ist es lärmig. Vis à vis Megi, eine gedrungene Gestalt im Rollstuhl. Ihre Kraft kommt von innen. Sie hebt ihre Stimme: "He, Tina!" ruft sie. Aber Tina neben mir hört sie nicht. Tina hört überhaupt sehr schlecht, erst recht in der Beiz. Und sie guckt gerade in eine andere Richtung. Wir sind an der Jahresversammlung einer Behindertenorganisation für Frauen.

Megi kann ja in diesem Getümmel nicht gut herüberkommen, um mit Tina zu sprechen. Ich zupfe Tina am Ärmel und zeige ihr, dass sie Megi anschauen soll. Die beiden beginnen zu sprechen.

Moderne Regisseure und Autoren erzählen uns immer, dass in unserer Gesellschaft Kommunikation nicht mehr funktioniere. Aber hier, wo sie am schwierigsten scheint, geht es doch. Irgendwie.

Ich habe mich seit Wien nicht so wohl gefühlt. Es sind Frauen hier, die etwas zu sagen haben.

Und ich weiss: Wenn das Schlimmste zum Schlimmsten kommt, bin ich nicht allein.
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Journal einer Kussbereiten

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