9
Mai
2011

Syrische Jungs

Bevor ich heute nach Hause ging, öffnete ich zufällig eine Ausland-Seite von morgen. Ich las einen Lead. Da stand "Syrien. Assads Soldaten durchkämmen in mehreren Städten alle Wohnungen und verhaften Tausende. In den Vororten von Damaskus sind schwere Kämpfe im Gang."

Es war das erste Mal, dass mich die Katastrophe in Syrien emotional erreichte.

Das ist merkwürdig spät. Denn ich bin schon einmal in Syrien gewesen. 1998 wars, im Oktober. Damals machte ich am Rand eines noch nicht allzu tief ausgetrampelten Touristenpfads im Norden des Landes dieses Bild.

Boys in Syria

Die Sprache der drei konnte ich nicht. Aber sie standen für mich bereit, noch bevor ich die Kamera richtig gezückt hatte. Ich musste nur abdrücken.

Ich muss gestehen: Ich hatte sonst keine Zeit für die Menschen in Syrien. Ich war mit einer Schweizer Gruppe unterwegs - auch beruflich. Der Röstigraben, der mitten in unserer Gruppe klaffte, beschäftigte mich mehr als die Syrer. Von ihrer Politik ganz zu schweigen - auch wenn die riesigen Bilder vom alten Assad jede Minute an den Diktator erinnerten. Überhaupt. Wer will solche Dinge schon genau wissen, so als Tourist.

Aber ich liebte Aleppo. Wenn die Sonne in Aleppo untergeht, leuchten die Mauern der Stadt in allen Regenbogenfarben auf. Und dann legen die Muezzine los. Es ist, als würde die Welt in einem Rausch aus Farben und Stimmen untergehen. Wenn der Orient eine Droge ist - eine Droge aus Licht, süsser Ruhe und Raum - dann hat Aleppo mich angefixt.

Ich liebte die Wüste. Ihr gleissendes Licht am Tag, ihr warmes Leuchten am Abend, ihre mörderische Kälte in der Nacht.

Die Jungs waren damals zwölf, dreizehn Jahre alt. Sie sind jetzt um die 25. Sicher ein gefährliches Alter, wenn Staatsterror herrscht. Ich habe nie mit ihnen gesprochen. Ich konnte ihnen nicht mal dieses Bild schicken.

Wo sie wohl sind?

7
Mai
2011

Unvergesslicher Moment

Wir sitzen zu sechst beim Mittagessen am runden Tisch. Rundum ist es lärmig. Vis à vis Megi, eine gedrungene Gestalt im Rollstuhl. Ihre Kraft kommt von innen. Sie hebt ihre Stimme: "He, Tina!" ruft sie. Aber Tina neben mir hört sie nicht. Tina hört überhaupt sehr schlecht, erst recht in der Beiz. Und sie guckt gerade in eine andere Richtung. Wir sind an der Jahresversammlung einer Behindertenorganisation für Frauen.

Megi kann ja in diesem Getümmel nicht gut herüberkommen, um mit Tina zu sprechen. Ich zupfe Tina am Ärmel und zeige ihr, dass sie Megi anschauen soll. Die beiden beginnen zu sprechen.

Moderne Regisseure und Autoren erzählen uns immer, dass in unserer Gesellschaft Kommunikation nicht mehr funktioniere. Aber hier, wo sie am schwierigsten scheint, geht es doch. Irgendwie.

Ich habe mich seit Wien nicht so wohl gefühlt. Es sind Frauen hier, die etwas zu sagen haben.

Und ich weiss: Wenn das Schlimmste zum Schlimmsten kommt, bin ich nicht allein.

4
Mai
2011

Barocke Schönheiten

Mit diesem Beitrag beende ich meine Berichterstattung über unsere Wien-Reise. All jene, die mehr erwartet hätten, bitte ich um Verständnis. Für ein Epos war in Wien einfach das Klima nicht richtig. Um Reise-Epen zu schreiben, brauche ich eine gewisse Menge inspirierte Einsamkeit. Ich brauche gewisse Strecken kontemplativer Stille, die nur unterbrochen werden von Herrn T.s Inputs.

Unsere Zeit in Wien aber war nicht einsam und nicht kontemplativ. Sie war leben. Nicht schreiben. Und das war gut so. Grossartig.

Wer mehr über unsere Reise erfahren möchte, schaue bei Herrn T. nach. Allmählich mache ich mir Sorgen, dass er nun auch noch für Reise-Epen mein Schani wird (für alle, die das jetzt nicht verstehen: In Wien ist der Schani derjenige, der die anstrengenden Dinge erledigt - wenn ich das richtig verstanden habe).

Mein Schlusspunkt sind drei Bilder aus der barocken Karlskirche. Sie stammen von meiner vorletzten Reise nach Wien im Frühjahr 2005. Damals konnte man wegen Bauarbeiten mit einem Lift in die Kuppel fahren und die Fresken dort aus der Nähe betrachten. Ein grandioses Erlebnis. Der Lift soll im Moment noch da sein. Aber nicht mehr lange. Für alle, die können: So bald wie möglich hingehen.

DSCN0017

Muttergottes mit Kind



Dieses Bild zeigt eine allegorische Darstellung der Ausgeglichenheit. Sie greift rechts nach Pflanzlichen und tritt den Luxus mit Füssen.

DSCN0018

Der Anker ist ein Symbol der Hoffnung.

Die Fresken stammen von Johannes Michael Rottmayr und wurden 1726 bis 1730 gemalt. Hier einige weitere brauchbare Infos zu den Fresken.

3
Mai
2011

Echte Gentlemen, keine Schweizer

Es geschah im Café Mozart in Wien. Das Lokal war voll und vor mir warteten zwei Männer-Grüppchen auf einen Sitzplatz. Ich wäre gern woanders hingegangen. Aber ich konnte nicht. Ich hatte mich im Café Mozart mit Herrn T. verabredet.

Da wurde ein Tischchen frei und der Kellner wollte das vorderste Herren-Grüppchen abholen.

"Ach lassen Sie die Dame vor", sagte der eine Herr.

Ich war verblüfft. In der Schweiz passiert mir sowas nie. Auch dann nicht, wenn ich besser angezogen bin als ich es an jenem Tag war. Ich trug diese hellgraue Jacke, in der ich aussehe wie etwas, was der letzte Wirbelsturm hereingetragen hat. Ich meine: Man sollte wenigstens wie eine Dame angezogen sein, wenn man wie eine Dame behandelt wird.

"Aber meine Herren, Sie waren alle vor mir da!" sage ich.

"Eine Schweizerin lassen wir doch gerne vor!" antwortet da einer der Herren. Wahrscheinlich ein Deutscher.

Das hat er gern gesagt. Er hat gern gesagt, dass er meinen Akzent erkannt hat und dass er selber besser Hochdeutsch kann. Und schwingt da etwas von dem Staunen über die Schweizer mit, das einem als Schweizerin im Ausland hie und da begegnet? Gerade bei Deutschen? Diese oft ziemlich direkt ausgesprochene Frage, warum wir eigentlich immer noch in einem Land leben, in dem Milch und Honig reichlich fliessen?

Hey, möchte ich sagen, wir leben ein Land mit Milch und Honig. Aber ohne Gentlemen!

Ich lächle, sage: "Danke, die Herren!" und folge dem Kellner zum freien Tischchen.

Allen Gentlemen schenke ich einen Soundtrack mit einer wirklich sexy gekleideten Sirene, die auch eine tolle Musikerin ist.

1
Mai
2011

Heimliches Tanzvergnügen

Es war gleich nach dem Mittagessen. Ich räumte die Küche auf und hörte DRS3. Die Schweizer Charts liefen an. Bei Platz 39 warf ich den Abwasch-Schwamm weg und tat etwas, was ich seit rund 40 Jahren nicht mehr getan habe. Ich begann zu tanzen.

Ich habe immer gern getanzt. Als Vierjährige tanzte klein Moni Frogg jeden Freitagabend zu den Charts. Mit so viel Hingabe, dass Mutter Frogg glaubte, sie hätte eine Ballerina das Leben geschenkt. Sie nahm mich mit zu einer Tanzlehrerin. Ich musste vortanzen. Doch das Urteil der Frau zerstörte die Illusionen meiner Mama: Klein Moni habe so viel Talent für das Ballett wie eine schwangere Bergente, liess sie verlauten (in etwa).

Ich selber habe die Erinnerung an diesen Vorfall gnädig verdrängt. Aber meine Mutter gab nicht auf. Sie schenkte mir später zum Geburtstag einen Jazztanz-Kurs. Das war lehrreich. Aber es änderte nichts daran: Ich war ein plumper Teenager. Die anderen Mädchen machten Sprünge wie junge Rehe. Ich machte Sprünge wie ein dummer Trampel. Der Kurs vertiefte meine Abneigung gegen jede Art von organisiertem Sport. Ich machte zwar rund anderthalb Jahrzehnte lang die Discos der Schweiz unsicher. Aber sonst tanzte ich wenig.

Doch heute war ich grossartig. Ich hatte kein Tütü, sondern nur eine Küchenschürze mit knallgrünen Rüschen. Als Rhythmus-Instrument diente die Flasche mit dem Sipuro-Putzmittel für den Glaskeramik-Herd. Die Flüssigkeit darin gluckst so schön, wenn man sie schüttelt. Niemand sah mir zu. Herr T. ist ausgeflogen.

Die Charts klingen weniger monoton, wenn man zu den Songs tanzt. Und sie bescherten mir ein paar nostalgische Momente. Platz 37 zum Beispiel:



Wer erinnert sich an das Original? Ja genau: Hier ist es.
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