22
Mai
2011

Die Einsamkeit

Ich habe eine neue Freundin. Sie heisst Einsamkeit. Sie besucht mich vor allem an den Wochenenden, an denen der Kulturflaneur viel weg ist.

Wir unterhalten uns bestens. Wir machen lange Spaziergänge. Wir geben uns dem Musikgenuss hin. Wir schreiben lange Blog-Einträge. Ein bisschen zu lang, vielleicht.

Ich kenne die Einsamkeit schon lange. Aber früher mied ich sie wie die Pest. Als Studentin bekam ich Angstzustände, wenn sie bei mir an der Tür klingelte. Ich floh dann immer. Später kam sie hie und da zu Besuch, aber ich ignorierte sie einfach. Ich war beschäftigt.

Erst als ich zeitweilig fast nichts mehr hörte, musste ich mich mit ihr arrangieren lernen. Jetzt ziehe ich sie irgendwelchen mittelmässigen Theater-Vorführungen hundertmal vor. Ich verlasse mich drauf, dass ich meine Freunde finden werde, wenn ich sie brauche. Und dass ich es erfahre, wenn jemand mich braucht.

Ich bin glücklich.

Doch ab und an habe ich merkwürdige Erlebnisse. Gestern zum Beispiel war ich (zum Erstenmal seit langer Zeit) auf Reportage. Ein wichtiger Lokal-Anlass. Ich bretzelte mich extra ein bisschen auf und lackierte mir die Zehennägel ganz comme il faut.

Es waren Leute da, die etwas zu sagen haben. Früher hätte ich mich hemmungslos an sie herangemacht. Schon aus beruflichen Gründen. Auch diesmal war ich bereit. Ich hatte den Einstieg für eine Konversation auf der Zunge. Ich steuerte auf Herrn Wichtig zu. Doch fünf Meter vor dem Ziel goss mir jemand Blei in die Beine. Ich verschluckte mich an meinem Konversations-Einstieg und musste erst mal stehen bleiben. Zehn Minuten später stand ich immer noch an derselben Stelle.

Ich glaube, ich werde langsam eigenbrötlerisch.

20
Mai
2011

Elvis oder Beatles?

Warum ich "nur" Rock'n'Roll schreibe, fragte Frau Walküre neulich in einem Kommentar. Sie warf - mit Ironiezeichen versehen - die Frage auf, warum wir Rock'n'Roll manchmal ein bisschen geringschätzig behandeln. Frau Walküre, das ist keine Frage, die man mit Ironiezeichen versehen muss. Das ist eine ernste und äusserst vielschichtige Frage. Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir immer diese Diskussion ein, die ich mit meiner Freundin Helga im Herbst 2010 hatte. Sie ist promovierte Musikwissenschaftlerin und war einmal Opern-Dramaturgin. Doch wenn es um Rock'n'roll geht, muss man die Fragen für sie einfach formulieren. "Elvis oder die Beatles?" lautete die Frage.

"Beatles!!!" rief Helga mit Nachdruck, "Ich meine: Dieses... wie hiess es nochmal... 'Sgt. Peppers'... das ist doch die Fortsetzung der klassischen Musik mit modernen Mitteln." Nichts gegen "Sgt. Peppers", oh nein. Aber sie sagte es in diesem kompetenten Ton, der stets meinen Widerspruch herausfordert. "Elvis!" sagte ich. "Ich meine: Diese Stimme!"

"Aber Mona, ich muss schon sagen: 'Love Me Tender ist, musikalisch betrachtet, kein besonders guter Song!"Hier war der Ton fast etwas tadelnd. Da verschlug es mir die Sprache, denn ich erkannte: Zu den wenigen Dingen, die ich Helga nie werde erklären können, gehört der Rock'n'Roll. Helga lebt musikmässig auf dem Planeten Beethoven. Ich nicht.

Ich meine, klar: "Love Me Tender" ist eine Schnulze. Nur jemand vom Planeten Beethoven könnte "Love Me Tender" als Meilenstein der Rockmusikgeschichte missverstehen. Klar wünsche ich mir, Elvis hätte mehr Songs wie Heartbreak Hotel gemacht. Aber wir erwarten doch von Elvis nicht, dass er die Musik Wagners fortschreibt! Wir erwarten, dass er seine Stimme erhebt und die Hüften schwingt, bis wir weich in den Knien werden!

Es gehört zu den grossen Mythen des 20. Jahrhunderts, dass die Schwarzen im Mississippi-Delta den Blues bekamen. Dass sie den Sex in die Musik brachten und den Begriff Sound mit Inhalt füllten. Es gehört auch zu den grossen Mythen des 20. Jahrhunderts dass Weisse den Blues, den Sound, den Sex stahlen und damit ein Heidengeld machten.

Ob der Rock'n'roll deswegen einen Platz in den Feuilletons verdient hat, darüber muss man ja heute nicht mehr streiten. Will ich auch nicht. Wenn es um Erzeugnisse der Kultur geht, bin ich eine überzeugte Anhängerin von Pierre Bourdieu. Bourdieu schreibt in etwa: Mit der Kultur, die wir konsumieren, demonstrieren und zementieren wir unseren sozialen Status. Er zeigt in einer Studie aus den sechziger Jahren sehr deutlich: Opernkonsumenten gehören zur Oberschicht. Mehr muss man dazu nicht sagen.

Eigentlich schade, dass ich mich in der Oper immer etwas gelangweilt habe. Vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen, wenn es nicht so gewesen wäre.

Aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern.

Dafür gibt es ein paar Fragen, die ich gern einer Musikwissenschaftlerin gestellt hätte. Zum Beispiel:

Wie hat YouTube unsere Wahrnehmung von Musik verändert?
Warum kommt uns einiges, womit wir gross geworden sind, heute pubertär vor? Anderes aber noch viel grösser als damals?
Liegt es an meinen fortgeschrittenen Jahren, dass mir viel Musik dieses Jahrzehnts etwas beliebig, etwas müde vorkommt?

Naja, machts nichts. It's only rock'nroll.

18
Mai
2011

Meine Schallplatten

Am letzten Wochenende hat mir mein Bruder den Teil meiner Schallplattensammlung zurückgegeben, den er sich nach meinem überstürzten Auszug von zu Hause unter den Nagel gerissen hatte.

Wie rohe Eier trug ich acht LPs durch die halbe Schweiz nach Hause. "Das ist das schwarze Gold meiner Jugend", dachte ich. Ich fieberte darauf, sie zu hören. Aber dann bekam ich merkwürdig zwiespältige Gefühle. Vieles kam mir ein bisschen pubertär vor.

Zum Beispiel die Scheibe hier:


Und nicht nur, weil sie bei "Black Dog" einen Sprung hat. Naja, vielleicht hatte ich zu hohe Erwartungen. Nach meinen Hörstürzen entdeckte ich Led Zeppelin neu und hielt "IV" eine Zeitlang für die Mutter aller Alben. Ich sah und hörte Led Zeppelin auf YouTube auf und ab. Aber als ich dann das Vinyl-Teil hörte, verstand ich auch, warum ich es mit 20 zu Hause liegen liess und lieber Jimi Hendrix ins Erwachsenenleben mitnahm. Sie klingt irgendwie flacher als die YouTube-Videos. Merkwürdig.

Oder die hier:


Kansas, "Point of Know Return"; solide Rockmusik, aber der geniale Touch fehlt.

Gleich links liegen liess ich die hier:


Bob Marley & the Wailers: "Exodus". Kann man die heute überhaupt noch hören?

Die hier habe ich mir für ein andermal gespart.


Denn plötzlich wusste DJ Philemon, mein innerer Plattenaufleger, sehr genau, was er hören wollte:


Pink Floyd: "Wish you were here". Das erstaunte mich. Mein Bruder hatte mir die Platte richtig aufdrängen müssen. "Doch, das war Deine", sagte er. Aber nun war ausgerechnet sie es, der ich eine Chance gab, mir auch heute noch etwas zu sagen. Und nicht etwas "The Wall" von Pink Floyd. Die halte ich heute definitiv für Gymnasiasten-Zeug halte.

Aber DJ Filemon hat eben zuweilen merkwürdige Anwandlungen.

Ich hörte. Hörte, wie da eine Band mit Synthesizern grosses Pathos inszeniert. Sollte ich ihnen das abnehmen? Ich weiss es immer noch nicht.

16
Mai
2011

Gebt mir ein Auto!!!

Am 30. September 2009 hatte ich einen krassen Schwindelanfall. Oberarzt Pfiffig diagnostizierte ihn später stolz als Tumarkin-Attacke - ohne natürlich ein Mittel zu kennen, das weitere verhindern könnte. Seither habe ich kein Autosteuer mehr berührt.

Ich habe das Autofahren nicht vermisst. Ich lebe ja in einem Land mit einem gut ausgebauten öffentlichen Verkehr.

Aber dann passierte es. Ausgerechnet in einem öffentlichen Verkehrsmittel.


(Das Bild habe ich bei flickr abgekupfert, den jungen Mann darauf kenne ich nicht).

Das ist der Tellbus, ein famoses, zweistöckiges Fahrzeug. Er ist ein Pendlerbus, der morgens und abends Altdorf und Luzern verbindet. Neulich machte ich einen Ausflug im Tellbus - mit meinem Gottenbuben Tim (6), der ein Fan doppelstöckiger Busse ist. Natürlich sassen wir oben ganz vorne. Dafür sorgte Gotte Frogg, die das Drängeln im Bus bei alten Weibern in Griechenland abgeguckt hat. Alte Weiber in Griechenland können drängeln wie sonst niemand in Europa.

Und natürlich versuchte ich klein Tim auf der Fahrt zum Telldenkmal auch ein bisschen Tell-Mythologie zu vermitteln. Aber das war hoffnungslos. Das Bild vom armen Walterli mit dem Apfel auf dem Kopf verblasste neben Tims Begeisterung über die Autobahn. "Schau, der Bus überholt einen Lastwagen!" quietschte er zwischen Buochs und Beckenried begeistert. Einer der Momente, die er wohl noch lange nicht vergisst.

Ich verstand ihn ja so gut! Denn kaum hatte der Duft der A2 meine Geruchsnerven erreicht, erinnerte ich mich: Diese Strasse ist nicht irgendeine Autobahn. Es ist eine Strasse, die nach Gefahr und nach Glück, nach wildem Wetter, nach Bergen und nach dem Süden riecht. Riesige Laster kriechen auf ihr dem See entlang wie erschöpfte Dinosaurier. Einmal befuhr ich sie mit brandneuem Fahrausweis, ganz allein und geriet in einen heftigen Regenschauer. Ich hatte eine Auto, das ich nicht kannte. Ich hatte Lüftung nicht im Griff und die Scheibe lief an. Ich hatte 100 Sachen und sah plötzlich nur noch Nebel. Ich war verloren.

"Mach das Fenster auf!" zischte irgendeine innere Stimme. Ich kurbelte die Scheibe ein paar Zentimeter hinunter. Kalte Luft und Wasser wirbelten ins Auto. Dann sah ich den hellblauen Lastwagen vor mir wieder. Ich war gerettet.

Manchmal, nur manchmal, verstehe ich Menschen, die gerne Auto fahren.

11
Mai
2011

Sie ist ständig müde

Meine Freundin Theres ist einmal ein Arbeitstier gewesen. Sie hatte ihre Abteilung bestens im Griff - auch den Chef. Bis sie vor einem Jahr schwer stürzte und sich am Kopf verletzte. Seither leidet sie an chronischer Müdigkeit und kann nicht mehr richtig arbeiten.

Man muss sie mit Samthandschuhen anfassen. Man darf sie nicht mal anlächeln und fragen: "Wie gehts?" Das heisst: Man darf natürlich. Aber man muss damit rechnen, dass sie als Antwort eine Gähn-Attacke bekommt. Oder diesen leidenden Blick, der in etwa sagt: Wenn ich dürfte, würde ich Dir für eine solche Frage die Fresse polieren!

Ich kenne dieses Gefühl. Ich bin auch schon krank gewesen und die Leute haben mich angestrahlt und gefragt: "Wie gehts?!" Sie wollten mit ihrem Lächeln Kraft und Lebensfreude vermitteln und einfach nicht verstehen: Ich empfand es als Diskriminierung durch das Schicksal, dass mein Gegenüber überhaupt so aufgestellt lächeln konnte - und als Antwort auch noch ein Lächeln zurückerwartete.

Ich kenne dieses Gefühl, und ich mag Theres. Und doch bin ich ein Jahr lang immer wieder in dieselbe Falle getappt. Ich habe sie gefragt: "Wie gehts?" - und sie dabei angelächelt.

Gestern habe ich endlich den richtigen Dreh gefunden. Ich begegnete ihr auf der Strasse. "Hallo Theres", sagte ich lächelnd. Dann neigte ich ernst, aber nicht zu teilnehmend den Kopf und fragte: "Gehts?"

Sie sagte: "Ja, es geht. Ich will nicht sagen, dass es gutgeht. Aber es geht."

Das war ok. Und ich kann dieses Wissende Kopfneigen im Umgang mit gesundheitlich angeschlagenen Menschen durchaus zur Nachahmung empfehlen. Ungefähr.

Und noch eine Empfehlung: Unbedingt in dieses Video reinschauen. Eine Wucht!

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