10
Apr
2008

London: Der wilde Osten

Jetzt bin ich mit meiner London-Retrospektive immer noch nicht fertig. Ich muss doch noch vom wilden Osten der Riesenstadt erzählen! In den letzten 20 Jahren sind dort gewaltige Landflächen total umgekrempelt worden. Lagerhallen wurden zu Lofts. Bürotürme schossen in die Höhe. Aus alten Hafenbecken wurden Tummelplätze für die Boote der Betuchten. Man kann sich kaum noch vorstellen, wo hier die weniger gut Situierten wohnen (auch wenn es sie weiter gibt, aber das ist eine andere Geschichte).

Und der Umkrempelungsprozess ist keineswegs vorbei. Heute verläuft die Front der Erneuerung mitten durch Greenwich. Einen Brückenkopf städtischer Eleganz gibt es dort direkt an der Themse, rund um die Station der Docklands Light Railway. Dahinter aber erstreckt sich eine Wüste. Riesige Areale mit zerfallenen Fabriken; einsame Hochhäuser inmitten von Brachlandschaften aus Schutt und Scherben. Vor einigen dieser mit Wellblech umfriedeten Felder stehen Bautafeln: Hier entstehen neue Wohnparadiese für Gutbetuchte. Manchenorts sind sogar die Baukrane schon bereit.

Und dann taucht mitten in dieser Mondlandschaft eine Fata Morgana auf und leuchtet geheimnisvoll in allen Regenbogenfarben:

DSCN0643

Das Laban Centre, eine Schule für Modern Dance, ein Bau der Architekten Herzog & de Meuron. Es war Veronikas Idee gewesen, dorthinzugehen. Der Anblick war surrealer Höhepunkt unserer London-Reise. Wer sich für Stadtentwicklung interessiert, sollte es uns nachtun und hingehen.

Er muss sich aber auf einiges gefasst machen: Als wir am frühen Abend durch ein von Wellblech gesäumtes Strässchen zum Gebäude gehen wollten, wurden wir von Polizisten aufgehalten: Sie jagten gerade ein paar Jugendliche, die ins verlassene Fabrikareal nebenan eingebrochen waren.

Als wir uns spätabends auf den Rückweg zur Bahnstation machten, war uns zwei Frauen die Gegend plötzlich gar nicht mehr geheuer. Am nächsten Abend bestätigte uns mein alter Kumpel Eagle Nose unseren Verdacht, dass die Gegend ziemlich rau ist. Er hat dort in jungen Jahren als Betriebsleiter einer Bäckerei gearbeitet - offenbar mit ziemlich schwierigen Burschen.

(Aus meinen Notizen vom 14. und 15. März 08)

8
Apr
2008

Ein grosser Moment

Vor rund einer halben Stunde habe ich den ersten Entwurf meines Krimis fertiggestellt.

Aber gratuliert jetzt lieber noch nicht. Ian Rankin macht bei seinen Büchern sechs Entwürfe (!!!) Und ich weiss immerhin schon, dass meine Arbeit, glaube ich, eben erst begonnen hat.

Aber dennoch: So weit bin ich noch nie mit einer so langen Geschichte gekommen. 96 Seiten...

7
Apr
2008

Die Wohlgesinnten 3

Nachdem ich meine Skrupel überwunden habe, beginne ich einige Stellen im Buch zu mögen. Ich habe den Eindruck, dass Littell darin eine Grundaussage verfolgt: Wenn Menschen (Männer?) sich zusammentun, um Geschäfte zu erledigen, dann entwickeln sie immer dieselben Verhaltensmuster. Egal, ob sie Aktien verkaufen, Computerprogramme herstellen oder Tausende von Menschen töten. Der Ton der Diskussionen im Buch erinnert teils verblüffend an Gespräche, die ich in Betrieben gehört habe: in Betrieben, wo Männer unter sich sind und ständig ihren Status und ihre Tatkraft unter Beweis stellen müssen. Ob Littell für diesen Effekt Anachronismen bewusst in Kauf nimmt, weiss ich nicht (hier werden sie beschrieben).

Gelegentlich erzeugt Littell in diesen Passagen eine Wirkung, die absurder Komik nicht unähnlich ist. Etwa, wenn Aue und sein Freund Thomas gerade von einer grossen Schlächterei in der Ukraine kommen und den Geburtstag von Aue in einem netten Restaurant feiern. Dort diskutieren die beiden dann höchst sachlich über Sinn und Unsinn ihrer Arbeit (S. 202). Aue äussert durchaus leise Kritik an der Judenvernichtung. Sie sei "ohne wirtschaftlichen und politischen Nutzen" und "in praktischer Hinsicht ohne Sinn und Zweck". Aber da gibt es keine Äusserung des Entsetzens oder der Verzweiflung, nur Sachlichkeit.

Oder auf den Seiten 300 bis 400 des Buches. Aue sitzt gerade im Kaukasus und bekommt etwas weniger Gräueltaten mit. Dafür verwickelt sich die SS in einen Machtkampf mit der Wehrmacht (Machtkämpfe - auch sie ein typisches Phänomen in den Abteilungen von Grossbetrieben). Der Streit wird über die Frage ausgetragen, ob die kaukasischen Bergjudenstämme von der Judenvernichtung ausgenommen werden sollen - zumal sie von strategischem Nutzen sein könnten (die Meinung der Wehrmacht). Oder ob sie eben doch gefährlich werden könnten (die Meinung der SS - wobei man den Eindruck nicht loswird, dass die SS in der Frage einfach ein Exempel statuieren will). Schliesslich wird eine Konferenz über die Frage abgehalten, in der eingehend und mit den lächerlichsten Argumenten über die Frage diskutiert wird. Monty Python könnten aus dem Stoff einen ihrer zynischen Sketches machen. Leider ist Littell nicht Monty Python: Er wälzt den Stoff so sehr in die Breite, dass auch dem interessiertesten Leser das Gesicht einschläft.

Für Aue wird die Affäre mit den Bergjuden übrigens zum Karriere-Stolperstein: Er wird Opfer einer Intrige und muss nach Stalingrad.

Ich bekomme unterdessen Sehnsucht danach, eine feministische Utopie zu lesen.

5
Apr
2008

Die Wohlgesinnten, 2

Ich Idiot! Ich hätte es wissen müssen: Jonathan Littell wird mir meine erste Frage nicht beantworten: Er wird mir nicht erklären, warum ein Mensch zum Massenmörder wird. Er wird es deshalb nicht tun, weil er aus seinem Helden, Maximilian Aue, einen Ich-Erzähler gemacht hat - und jeder erstsemestrige Literaturstudent weiss, dass Ich-Erzähler unzuverlässige Kreaturen sind: Sie werden beschönigen, auslassen, schummeln Und da ist in der Regel niemand, der nachfragt.

Auch nicht bei Aue. Und bei Aue kommt noch dazu, dass wir ihn zum vorneherein nicht mögen. Gar nicht mögen wollen. Weil er ein Nazi-Schlächter ist, die Personifikation des Bösen. Schon der erste Satz im Buch vertieft diese Abneigung: "Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist." Was für eine schwülstige Anbiederung! Was für ein peinlicher Versuch, uns eine Story ohne plausiblen Helden als Epos zu verkaufen!

Ja, klar, und dann spielt uns Aue als alter Mann in der Einführung die übliche Platte vor, die vom Rädchen im System: "Dann ist der Krieg gekommen, ich diente, ich wurde in schreckliche Ereignisse, in Gräueltaten verstrickt." (S. 38) Und später: "Ihr könnt niemals sagen: Ich werde nicht töten, das ist unmöglich, höchtens könnt ihr sagen: Ich hoffe, nicht zu töten." (S. 39). Nun gut, wahrscheinlich hat er ja recht. Aber sinngemäss sagte nach dem Krieg doch jeder, der Blut an den Händen hatte, dasselbe.

100 Seiten und einige Massenexekutionen in der Ukraine später sieht Aue die Sache schon etwas anders aus: Einige seiner Kollegen haben bereits Nervenzusammenbrüche gehabt oder sich wenigstens von der Front wegdegradieren lassen. Jetzt stellt Karrierist Aue sich anders dar: "Seit meiner Kindheit trieb mich der leidenschaftliche Wunsch nach dem Absoluten und nach Grenzüberschreitung; jetzt hatte mich diese Leidenschaft an den Rand der Massengräber in der Ukraine geführt." (136) Nein, jetzt kann er sich nicht mehr "für die Bequemlichkeit der bürgerlichen Gesetze, die laue Sicherheit des Gesellschaftsvertrags entscheiden". Was ist er doch für ein toller Hecht! Was für ein grossartiger, einsamer Wolf.

Aber sagen nicht viele andere von sich, sie hätten den Wunsch nach Grenzüberschreitungen? Hat die Frogg das nicht auch schon gesagt? Hätte sie das Zeug zur Verbecherin? Wir werden es hoffentlich nie wissen. Und wir werden keine Antwort von Littell bekommen, denn die Persönlichkeit seines Helden zerrinnt uns unter den Fingern. Eigentlich müsste ich das Buch nicht lesen. Ich könnte es einfach mit Iris Radisch halten, den Schinken verwerflich finden und weglegen.

Und doch mache ich weiter, in einer konzentrierten, fiebrigen Hast (das Buch ist dick, und ich will vor Weihnachten fertig sein). Ich gestehe: Ich kann mich dem schieren Wahnsinn dieser Geschichte (noch) nicht entziehen.

Übrigens bin ich bei weitem nicht die einzige. Lesenswert bloggt zu diesem Buch zum Beispiel der hier.

4
Apr
2008

Ich lese es doch

Jetzt habe ich es doch noch getan. Ich habe Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell gekauft.

Jenes hoch umstrittene Buch, in dem der Autor einen fiktiven einstigen Nazi-Schergen auf 1359 Seiten seine Geschichte erzählen lässt.

Ich habe lange gezögert. Denn im Grunde würde ich mir die Gräuelgeschichten des Holocaust gerne ersparen. Ausserdem weiss ich, dass ernst zu nehmende Leute sagen, den Tätern im Holocaust dürfe man nie, überhaupt nie, eine Stimme geben.

Und dennoch werde ich das Buch jetzt lesen. Aus zwei Gründen:

1) Mich beschäftigt die Frage, was einen Menschen zum Scheusal macht. Welche Charakterzüge braucht es dazu? WIe müssen die Umstände sein?

Ich werde Littell die Antwort nicht einfach machen, denn eben habe ich Schindlers Liste von Thomas Keneally gelesen. Keneally zeigt darin historisch fundiert, dass die Umstände einen Menschen nicht zwangsläufig zu reissenden Bestie machen: Keneallys Held Oskar Schindler jedenfalls ist am Anfang nichts als ein genusssüchtiger Kriegsgewinnler in einer weiss Gott verrohten Umgebung. Er könnte fürchterliche Dinge tun und sich später darauf herausreden, er sei nur ein Rädchen im System gewesen. Statt dessen rettet er 1200 Juden das Leben. Sein Gegenspieler dagegen, Lagerkommandant Amon Göth, ist tatsächlich eine Bestie. Ein machtbesoffener, mörderischer Sadist. Keneally hat eine Antwort auf die Frage, was Göth zum Scheusal macht: Er zeigt ihn als Psychopathen, dem der Krieg einfach das Bisschen Zivilisation weggefressen hat, das ihn wahrscheinlich sonst zu einem halbwegs erträglichen Mitglied der Gesellschaft gemacht hätte. Sollte ich feststellen, dass Littell auf viel mehr Seiten genau dasselbe sagt, könnte ich das Buch nach 100 Seiten weglegen.

Wenn da nicht...

2) Die Tatsache wäre, dass mein Krimi Wurzeln im 2. Weltkrieg hat. Damit ich bei der Diskussion über das Thema à jour bleibe, werde ich nicht umhin kommen, den Wälzer zu lesen.

Ich werde Euch auf dem Laufenden halten, wie ich zurechtkomme. Und ich werde darüber gerne mit mir streiten lassen.
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