30
Jan
2011

Ich hasse Bergspitzen

Der Herr Kulturflaneur hat neuerdings eine Panorama-Obsession. Deshalb wollte er heute auf den Titlis. Ich setzte ihm keinen Widerstand entgegen. Ich hatte mich dieses Jahr erfolgreich gegen Skiferien gesträubt. Ich konnte ihm nicht alles vergällen. Und auf dem Titlis war ich noch nie gewesen. Die Reise würde mir gefallen.

Dachte ich. Doch ich erkannte schon im Zug nach Engelberg, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Frau Frogg, die Gedränge nicht mag, fand alle Waggons gerammelt voll vor. Kein Wunder: In den Niederungen hockt bei uns wieder mal der Hochnebel. Wer konnte, floh in die Berge. Zwar gab es diesmal keine nervötenden Alleinunterhalter im Zug. Die Fahrgäste verbarrikadierten sich still hinter ihren Sonntagszeitungen. Aber eng war es. Eng.

Und doch wurde unsere Reise auf den Titlis ein lehrreicher Ausflug. Ich weiss jetzt: Als der Humanist Petrarca 1336 eine Bergspitze erklomm, verschaffte er sich ein Abenteuer, ein neues Selbstbewusstsein und seiner Zeit wichtige Erkenntnisse. Das hat offensichtlich viele beeindruckt - mit Folgen, ob denen Petrarca die Haare zu Berge stehen würden: Wenn ein Mensch des Jahres 2011 eine Bergspitze erreicht, dann hat er sich bereits Klaustrophobie, eine Erkältung und einen leeren Geldbeutel* verschafft.

Wobei... vielleicht hasse ich gar nicht Bergspitzen, sondern Bergbahnen. Und wer auf den Titlis fährt, lernt gleich drei Bergbahnen kennen. In der ersten, bis Trübsee, war ich ja noch guten Mutes. Beim Umsteigen in die zweite steht man dann lange bei Gedränge an der Kälte und ich bekam kalte Füsse. Aber da hielt mich noch das Staunen über die unglaublichen Wimpern der Skifahrerin neben mir bei der Stange. Herr T. und ich stellten uns später vergnügt vor, wie die junge Schöne mit diesen Borsten ihre Sonnenbrille hochstemmt.

Später steigt man zum zweiten Mal um, in eine spektakuläre Gondel.

Sie ist weltberühmt: Sie dreht sich während der Fahrt um die eigene Achse und gewährt einen spektakulären Rundblick.

Doch als wir auf sie warteten, waren meine Füsse eisig. Ich dachte nicht an spektakuläre Ausblicke. Ich dachte an amputierte Zehen und das Beresina-Lied**.

Bei der Ankunft oben hörte ich ein deutsches Kind mit leidende Stimme seinen Vater fragen: "Können wir jetzt endlich skilaufen? Kommt jetzt keine Gondel mehr?" So ähnlich fühlte ich mich auch. Ich hätte mich gerne ein bisschen bewegt. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich eine Bergspitze erreiche, ohne einen Meter Steigung zu Fuss bewältigt zu haben.

Aber wir waren beide so durchfroren, dass wir erst mal ins Restaurant gingen und - ausgezeichnet - assen.

Erst danach stellte Frau Frogg mit Erleichterung fest, dass man auf dem Titlis auch ein paar Meter zu Fuss gehen kann. Wenn Herr T. gerade nicht fotografierte, spazierten wir also und unterhielten uns angeregt über Panoramen.

Ich muss sagen: Der Ausblick auf dem Titlis ist grandios. Das Dumme ist: Man sieht dort so viele Berggipfel. Und wenn der Kulturflaneur Berggipfel sieht, will er sie erkennen, benennen und mir zeigen. Alle. Einmal unterbrach er sich mitten im Satz und rief: "Schau mal, da drüben, der zerklüftete Gipfel! Das ist das Schärhorn!" Ich reckte den Hals aus dem Kragen, schaute und sah das Schärhorn. Da blies ein Windstoss mir eisige Gischt ins Gesicht und ich dachte: "Die Bedeutung von Bergspitzen wird einfach massiv überschätzt."

Das Merkwürdige ist: Rückblickend finde ich unseren Ausflug schon jetzt richtig grossartig.

* Eine Fahrt von Luzern auf den Titles (Halbtax) kostet 64 Franken.

** Für Nicht-Schweizer und junge Leute: Das Beresina-Lied erinnert an die Schweizer Soldaten, die mit Napoleon nach Russland zogen - und dort in Scharen den Kältetod starben oder Zehen und Finger der Kälte opferten.
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Journal einer Kussbereiten

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