24
Aug
2010

Weltreise im eigenen Haus

Wenn ich fliege, bekomme ich Panikattacken. Ja, schon eine Zugreise kann mein Gehör tagelang derangieren. Und beruflich hat mich Herr Menière vom News-Flow der grossen Welt abgeschnitten. Dass meine Welt immer kleiner wird, gab mir in den letzten Wochen immer mehr zu denken. Umso mehr freute ich mich über die Erkenntnis, dass ich um die halbe Welt reisen kann, ohne unser Wohnhaus zu verlassen.

Als ich krank gewesen war, hatte ich meine tamilische Nachbarin vom Erdgeschoss etwas besser kennen gelernt.

Bei Frau Baggenstoss und Frau Baumgartner, den beiden alten Weibern im Haus, ist Mahika ja untendurch: Weil sie das Treppenhaus nicht so oft putzt wie sie ihrer Meinung nach sollte. Weil sie nicht oft genug Schnee schaufelt und dafür viel zu häufig wäscht. Aber mir ist das egal - auch wenn ich mir ein wenig Sorgen mache, dass das Schneeschaufeln wohl bald an mir hängen bleibt. Aber das ist eine andere Geschichte. Eins von den Minenfeldern in unserem alten Mietshaus, das ich jetzt mal lieber nicht betrete.

Jedenfalls lud Mahika mich neulich zu einer Tasse Tee ein.

Ich erwartete Räume mit asiatischem Dekor. Ihr wisst schon: Tücher, Glitzerzeug, roten Samt. Aber nichts von all dem. Ehrlich gesagt: Die Wohnung von Mahika sah nicht aus, als hätte diese viel Zeit zum Dekorieren.

Bald wurde mir auch klar, warum Mahika keine Zeit hat zum Treppenhausputzen, Schneeschaufeln und Dekorieren:

Sie hat eine 80-Prozent-Stelle in einer nicht eben gut bezahlten Branche
Im Sommer verkauft sie Souvenirs
Dazu putzt sie zwei Wohnungen
Zweimal im Monat kocht sie ein grosses Essen für eine Tamilen-Gruppe

Und dann hat sie auch noch eine fast erwachsene Tochter

Warum sie so viel arbeitet? Nun:

Sie unterstützt ihre Verwandten in Sri Lanka
Und ein Waisenhaus in ihrer Heimatstadt, von dem sie mir stolz Bilder zeigte

Ich war beeindruckt.

Und natürlich werden mir jetzt ein paar ewige Polit-Sauertöpfe damit kommen, dass sie garantiert die Tamil Tigers unterstütze oder etwas derartiges. Wisst Ihr was? Das geht mich nichts an. Im Zweifel lasse ich mich beeindrucken von der Leistung einer Frau, die nie jemand wirklich sieht, weil sie eine Migrantin ist.

Und dann zeigte sie mir etwas, was ich wirklich hinreissend fand. Aber das erzähle ich Euch ein andermal.
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Journal einer Kussbereiten

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