Wildes Kind
So. Hier also endlich eines der Bücher, die ich aus London mitgebracht habe. Ich habe es auf Grund eines Irrtums gekauft: Ich glaubte, es gehe darin um ein gehörloses Kind. Dabei ist alles etwas anders.
Doch der Reihe nach: T. C. Boyle erzählt in dieser Kurzgeschichtensammlung auch die Geschichte eines ausgesprochen unzivilisierten Geschöpfs. Es ist ein Kind, das Bauern irgendwo in Frankreich aus einem Wald zerren. Wir schreiben das Jahr 1797. Der Bub ist splitternackt und frisst lebende Frösche und Mäuse. Er klettert behände auf Bäume, beisst, kratzt, kackt in gute Stuben und büchst bei jeder Gelegenheit wieder aus. Er muss jahrelang allein im Wald überlebt haben. Wahrscheinlich hatte seine Familie ihn ausgesetzt.
Der Fall ist tatsächlich passiert und erregte im revolutionären und romantisch bewegten Frankreich viel Aufsehen.
Das Kind reagiert nicht auf Geräusche. Deshalb nimmt man zunächst an, er sei taub und schickt ihn in eine Taubstummen-Schule in Paris. Dort verzeichnet man gerade sensationelle Erfolge bei der Förderung hörbehinderter Kinder. Der Bub bekommt den Namen Victor und Ersatzeltern wie man sie sich damals vorgestellt haben dürfte: eine gütige Mutter und einen strengen, fordernden Vater.
Doch bald wird klar: Victor ist therapieresistent. Er lässt sich zwar halbwegs zähmen und verwöhnen. Aber er lernt so gut wie gar nicht. Vielleicht ist er gar nicht schwerhörig, sondern geistig behindert. Und vielleicht haben die Jahre im Wald ihn einfach für das menschliche Zusammenleben untauglich gemacht. Aber sicher ist nicht einmal sein Lehrer und Ersatzvater, Monsieur Itard.
Der arbeitet sich an seinem Schüler ab. Victor ist ein Prestige-Projekt. Aber schliesslich sieht Itard ein, dass er nichts erreichen wird und gibt ihn auf. Victor, seiner Wildheit beraubt, führt fortan die Existenz eines Menschen, den seine Behinderung ganz an den Rand der Gesellschaft gedrängt hat.
Die Geschichte hat übrigens eine fiktive Erzählerin. Boyle-Fans werden sie kennen. Es ist die Heldin dieses Romans:
Die gehörlose Lehrerin Dana Halter. Im Roman arbeitete sie an einer Geschichte über Victor. Die liegt nun vor - ohne dass Boyle den Bezug noch einmal herstellen würde.
Dana und Victor haben ein paar faszinierende Eigenschaften gemeinsam: Sie sind beide unglaublich zäh, unglaublich eigenständig und unglaublich stur. Es ist Victors Wildheit, die an dieser Geschichte in Erinnerung bleibt. Und Boyle wirft Fragen auf - über die menschliche Natur und die Zivilisation (oder Zivilisiertheit?) Und darüber, was eine gelungene Existenz ausmacht. Boyle verwirft die Romantik und bejaht sie doch - indem es Victors ungezähmten Zustand mit seinen langen, poetischen Sätzen eine solche Präsenz gibt. Eine Viersterne-Geschichte.
Hier noch etwas mehr dazu.
Am liebsten möchte ich jetzt als Kontrastprogramm Emile von Jean-Jacques Rousseau lesen.
Doch der Reihe nach: T. C. Boyle erzählt in dieser Kurzgeschichtensammlung auch die Geschichte eines ausgesprochen unzivilisierten Geschöpfs. Es ist ein Kind, das Bauern irgendwo in Frankreich aus einem Wald zerren. Wir schreiben das Jahr 1797. Der Bub ist splitternackt und frisst lebende Frösche und Mäuse. Er klettert behände auf Bäume, beisst, kratzt, kackt in gute Stuben und büchst bei jeder Gelegenheit wieder aus. Er muss jahrelang allein im Wald überlebt haben. Wahrscheinlich hatte seine Familie ihn ausgesetzt.
Der Fall ist tatsächlich passiert und erregte im revolutionären und romantisch bewegten Frankreich viel Aufsehen.
Das Kind reagiert nicht auf Geräusche. Deshalb nimmt man zunächst an, er sei taub und schickt ihn in eine Taubstummen-Schule in Paris. Dort verzeichnet man gerade sensationelle Erfolge bei der Förderung hörbehinderter Kinder. Der Bub bekommt den Namen Victor und Ersatzeltern wie man sie sich damals vorgestellt haben dürfte: eine gütige Mutter und einen strengen, fordernden Vater.
Doch bald wird klar: Victor ist therapieresistent. Er lässt sich zwar halbwegs zähmen und verwöhnen. Aber er lernt so gut wie gar nicht. Vielleicht ist er gar nicht schwerhörig, sondern geistig behindert. Und vielleicht haben die Jahre im Wald ihn einfach für das menschliche Zusammenleben untauglich gemacht. Aber sicher ist nicht einmal sein Lehrer und Ersatzvater, Monsieur Itard.
Der arbeitet sich an seinem Schüler ab. Victor ist ein Prestige-Projekt. Aber schliesslich sieht Itard ein, dass er nichts erreichen wird und gibt ihn auf. Victor, seiner Wildheit beraubt, führt fortan die Existenz eines Menschen, den seine Behinderung ganz an den Rand der Gesellschaft gedrängt hat.
Die Geschichte hat übrigens eine fiktive Erzählerin. Boyle-Fans werden sie kennen. Es ist die Heldin dieses Romans:
Die gehörlose Lehrerin Dana Halter. Im Roman arbeitete sie an einer Geschichte über Victor. Die liegt nun vor - ohne dass Boyle den Bezug noch einmal herstellen würde.
Dana und Victor haben ein paar faszinierende Eigenschaften gemeinsam: Sie sind beide unglaublich zäh, unglaublich eigenständig und unglaublich stur. Es ist Victors Wildheit, die an dieser Geschichte in Erinnerung bleibt. Und Boyle wirft Fragen auf - über die menschliche Natur und die Zivilisation (oder Zivilisiertheit?) Und darüber, was eine gelungene Existenz ausmacht. Boyle verwirft die Romantik und bejaht sie doch - indem es Victors ungezähmten Zustand mit seinen langen, poetischen Sätzen eine solche Präsenz gibt. Eine Viersterne-Geschichte.
Hier noch etwas mehr dazu.
Am liebsten möchte ich jetzt als Kontrastprogramm Emile von Jean-Jacques Rousseau lesen.
diefrogg - 20. Aug, 10:58
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