bei freunden

13
Sep
2015

Lexikon der Räusche

Mit meinem Syrien-Epos geht es hier so bald wie möglich weiter. Zuerst aber ein Abstecher in die neonwilderness, zum zwölften Wort der famosen Reihe *txt: "Rausch".


Der französische Poet Charles Baudelaire - was den Rausch betrifft, so hatte er den Durchblick (Quelle: veryimportantpotheads.com)

Enivrez-vous, befahl uns einst Charles Baudelaire - "berauscht Euch!" Baudelaire hat begriffen: Wenn wir nicht gerade gerade ums nackte Überleben kämpfen, brauchen wir den Rausch. Sonst lastet uns das Leben mit tödlicher Schwere auf den Schultern. Wir brauchen den Adrenalin-Kick, die Ekstase, den geistigen Höhenflug. Den Kater nehmen wir dafür in Kauf. Wenn die Sucht droht - naja, Schicksal. So könnte jeder von uns ein kleines Lexikon der Räusche schreiben. Baudelaire nennt den Wein, die Dichtung und die Tugend. Hier ist meins:

Alkohol-Rausch: Mit Nostalgie erinnere ich mich an die Wodka-Räuschchen, die ich ein paarmal in Russland hatte. Wodka macht in moderaten Mengen fröhlich und geistreich. Doch auch ein hübscher Weinrausch hat hat seine Qualität. Er lässt uns die ungeheure Tiefe von Dingen erkennen, die wir nüchtern gänzlich banal finden würden - und uns darüber in metaphysisches Gelächter ausbrechen.

Cannabis-Rausch: Nie mein Favorit - hier mehr dazu.

Kaffee-Rausch: Kaffee ist eine unterschätzte Droge. Wer es nicht glaubt, mache einen Entzug. Der erste Espresso nach zwei Tagen Kopfweh und Weltuntergang: Welch ein Genuss! Im Nu vertreibt er jede Granteligkeit und weckt in uns liebevolle Neugier auf die Welt.

Liebesrausch: Wir behaupten, die Liebe sei ein altruistisches Gefühl. Doch wenn wir uns verlieben, dann lieben wir oft unser schmerzhaft süsses Begehren mehr als sein Objekt. Verliebtheit macht schnell süchtig. Der kalte Entzug heisst Liebeskummer - die nachhaltigere Methode: Paarbeziehung, Zweierkiste oder Hochzeit. Da kommt dann im besten Fall die wahre Liebe.

Musik-Rausch: Dem lieben Gott kann auf Erden nur nahe sein, wer Musik hört. Deshalb sind 1000 Arten des Musik-Rausches bekannt. Zum Beispiel die Massen-Ekstase am Rock-Konzert; die Trance, wenn die eigene Stimme im Chor aufgeht; das einsame Hochgefühl auf YouTube.

Natur-Rausch: Wenn ich den Wald hochgekeucht bin, die Flecken der Herbstsonne auf dem dürren Laub gesehen habe und zuoberst über das Land blicke, dann fühle ich mich erhaben. Am nächsten Tag tun mir die Füsse weh - aber das ist kein Kater, denn ich habe Sport getrieben

Nikotin-Rausch: Diese Schwindel erregende Leichtigkeit im Kopf, dieser kurze Glücksmoment - dann der Kater: Kratzen im Hals und Schweratmigkeit.

Politischer Rausch: Man zelebriert das Wir-Gefühl, man erhitzt sich an Parolen. Man lässt sich von bodenständigen Rednern in Begeisterung versetzen. Man frönt süssen Glauben, dass Phrasen wahr werden, wenn möglichst viele sie wiederholen. Wir hatten geglaubt, nur die Musik (siehe Musik-Rausch) könne heute noch solche Massen-Räusche auslösen. Aber die Politik erlebt gerade ein Comeback als Rauschmittel. Nicht bei mir - Politik ist das einzige, was ich nüchtern und sachlich mag.

Schaffensrausch: Schriftsteller kennen sie - die heilige Ekstase beim Übertritt ins Reich der Fiktion. Journalisten kennen ihn - den wach haltenden Kick einer guten Story, einer Hammer-Nachricht. Aber, Warnung: Braucht Kraft und kann auf die Dauer gesundheitsschädigend sein.

Sport-Rausch: Siehe Natur-Rausch.

12
Jul
2015

50 Jahre, 7 Tage, 10 Minuten

An meinem 50. Geburtstag faulenzte ich mit dem Kulturflaneur in der Badi von Locarno. Ich liess den Blick über den See schweifen und über die vorbeigehenden Frauen. "Bin ich mit meinem Leben zufrieden? Habe ich das gut gemacht?" fragte ich mich. Wir waren in den Ferien, schon eine Weile. "Ja, ich bin zufrieden", dachte ich. Sonst nichts. Es war zu heiss zum Denken. Das war am 2. Juli.

Dann überschlugen sich die Ereignise. Am 3. Juli reisten wir nach Hause. Am 4. Juli trafen der Herr Steppenhund und Frau Columbo kurz vor 15 Uhr in Luzern ein. Um 17.35 Uhr umarmte mich bei der Kapellbrücke eine Frau mit Feuerbusch auf den Kopf - Katiza! Bei ihr: die Testsiegerin und La-Mamma (kurz: die Toll3sten Weiber) - und der 1. Offizier. Die Wiener Delegation für meine offizielle Geburtstagsfeier war komplett.

Zehn Minuten dauerte der Fussmarsch zu mir nach Hause - zehn Minuten, in denen wir uns besser kennen und mögen lernten als in bald zehn Jahren Netzbekanntschaft. Im Gärtchen hinter unserem Haus feierten wir ein lauschiges, lustiges, inoffizielles Festchen.

Am 5. Juli stieg das offizielle Fest. Es war... rauschend? Grossartig? Wunderbar? Ja, das alles und noch viel mehr! Die Toll3sten Weiber legten einen temperamentvollen Auftritt hin. Und ich lernte: Meine Freunde sind wunderbar, alle.

Leicht verkatert fand ich mich am 6. Juli zu einem wichtigen Termin mit meiner Familie ein. Auch hier wurde ich reich beschenkt.

"Jetzt holt mich der Alltag wieder ein", dachte ich am 7. Juli, als ich zur Arbeit ging. Aber es war noch nicht ganz soweit: Auf meinem Schreibtisch stand eine grosse Flasche Champagner. Ich dankte es meinem Chef mit einem besonders entspannten Lächeln (ohne sie vorher aufgemacht zu haben).

Den 8. Juli verbrachte ich mit dem Auspacken von Geschenken. Ja, ich bin zufrieden. Dankbar. Ich habe grosses Glück gehabt in so vielen Dingen.

2
Mai
2015

Deine fixen Ideen

Ich packte alle Sachen in ein Paket, die Du im Verlauf des Jahres zu mir gebracht hattest. Es war eine grosse Schachtel. Du hattest eine Bettdecke bei mir. Diese bescheuerte Bettdecke! Dieses Zeichen, dass Du Distanz brauchtest in meinem Bett. Distanz, meine Fresse! "Deins!" schrieb ich auf einen Begleitzettel, oder etwas in der Art. Dann schleppte ich das Paket auf die Post. Kaum war es weg, gingen mir die Augen über. Ich weinte pausenlos, wochenlang. Klassischer Fall von Liebeskummer.


(Quelle: post.ch)

Das ist lange her und kaum mehr der Rede wert. Und doch frage ich mich manchmal: Wie konnte ich zulassen, dass ausgerechnet Du mir das Herz brichst? Wir lebten nicht nur in zwei verschiedenen Städten. Wir lebten auf verschiedenen Planeten, Du und ich. Wir hätten nie zu einander gefunden. Ich wusste es von Anfang an - aber ich wollte es partout nicht einsehen. Schliesslich warst Du es, der Schluss machte. Tage nach meinem dreissigsten Geburtstag. Eine Katastrophe.

Sieben Wochen später schriebst Du mir einen Brief. Du hattest die fixe Vorstellung, dass man mit seinen Ex-Freundinnen freundschaftlichen Kontakt halten sollte. Du hattest schon eine andere. Ich hatte Tage zuvor erfahren, dass ich auch noch meinen Job verlieren würde.

Freundschaftlichen Kontakt mit Dir war das letzte, was ich brauchte. Ich schrieb zwei Sätze auf eine Karte aus grauem Recycling-Papier: "Bitte lass mich in Ruhe. Ich werde melden, wenn ich soweit bin."

Ich solle nicht so nachtragend sein, liessest Du mir ausrichten. Aber ich schwieg. Zwanzig Jahre verflossen, Freunde kamen und gingen. Da waren andere Männer. Dann kam Herr T. An Dich dachte ich nur noch selten - aber immer mit dieser vagen Vorstellung, dass da noch eine offene Rechnung zwischen uns sei.

Vor ein paar Wochen sass ich Dir dann plötzlich in einem Café gegenüber. Wir bestellten einen Salat und machten eine Viertelstunde zivilisierte Konversation. Dann wollte ich irgendwie mein Schweigen von damals erklären. Man muss doch irgendwo ansetzen. Ich begann. Du unterbrachst: "Ich habe keine Ahnung wovon Du sprichst. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, wie das damals alles gelaufen ist."

Ich war so fassungslos, mir blieb fast ein Salatblatt im Hals stecken.

Dies ist mein Beitrag zum famosen Projekt *txt. Das sechste Stichwort lautetet "deins". Vielleicht weil bloggen eine furchtbar ich-bezogene Sache ist, war es die schwierigste Aufgabe bis jetzt.

12
Apr
2015

Warten auf Grossvater

Mein Grossvater war bei seinen Kundinnen sehr beliebt. Er und Grossmutter hatten eine kleine Bäckerei in einem Schweizer Voralpendorf. Zweimal in der Woche packte er mächtige Kilobrote in den Kofferraum seines Autos und fuhr los. Er lieferte die Laibe direkt bei den Bauernhöfen ab. Das machten die Bäcker damals auf dem Land noch so. Manchmal fand meine Grossmutter, diesmal habe die Fahrt aber verdächtig lang gedauert. Dann machte sie ihm kleine Eifersuchtsszenen.

Wenn ich als Kind bei den Grosseltern in den Ferien war, durfte ich mit auf Grossvaters Fahrten. Das waren für mich immer grosse Abenteuer. Einmal stieg er bei einem Bauernhaus aus und sagte: "I chume grad wider." Auf Hochdeutsch: "Ich komme gleich zurück." Für alle, die nun im Schweizerdeutschen Satz das Wörtchen "gleich" vermissen - ja, er hätte auch sagen können: "I chume glii wider." Aber das hätte etwas ganz anderes bedeutet, nämlich: "Ich komme bald zurück." Ich erinnere mich aber genau, dass er das nicht sagte. Der Zeitabstand zwischen zwischen "gleich" und "bald" ist für ein wartendes Kind ja eine Ewigkeit. Und warten, ja, das tat ich. Denn er kam und kam nicht mehr aus dem Haus heraus.

Wenn ich so darüber nachdenke, wird mir klar, warum wir hierzulande Hochdeutsch eben doch als Fremdsprache empfinden: Nie wird für uns in banalen hochdeutschen Wörtern wie "gleich" oder "bald" oder "sofort" die die gleiche kindliche Ungeduld mitschwingen wie in den Wörtchen "glii" oder "grad" oder "jede Momänt".

Item. Ich sass im Auto und wartete. Mir wurde heiss. Aussteigen durfte ich nicht. Ich hätte ins Güllenloch fallen können, sagte Grossvater. Furcht ergriff mich. Was konnte mir alles passieren, während ich so allein in diesem Auto sass? Und überhaupt: Was machte Grossvater mit der Bäuerin da drin? Vielleicht das, was meine Grossmutter wieder so aus dem Häuschen gebracht hätte? Was das genau war, wusste ich noch nicht. Eine schrecklich lange Zeit verfloss.

Endlich kam Grossvater dann doch wieder.

Heute vermute ich, dass er höchstens zehn Minuten weg gewesen war.

Dies ist mein Beitrag zum fünften Wort des Projekts *txt in der neonwilderness. Es lautet: "gleich"

18
Mrz
2015

Der Sammler, der Waffenfabrikant


Kunstsammler und Waffenfabrikant E. G. Bührle (Bild von Dmitri Kessel, Quelle: buehrle.ch)

Neulich besuchten Herr T. und ich die Kunstsammlung von Emil G. Bührle (1890 bis 1956). Sie ist zu sehen in einer Villa in Zürich, bourgeois, exklusiv, nur nach Anmeldung.

Am Beispiel des Werkes unten erklärte uns eine Kunsthistorikerin eine Eigenheit der impressionistischen Kunst:


Claude Monet: Mohnfeld bei Vetheuil (Quelle: www.posterlounge.de)

Das Bild sieht nicht immer gleich aus. Steht man ganz nahe, so sieht man fast nur Farbtupfer. Je mehr Abstand man nimmt, desto mehr wird das Ganze zu einer blühenden Frühsommer-Landschaft bei labilem Wetter - bezaubernd.

In der Villa Bührle hängen solche Meisterwerke dicht an dicht. Bührle konnte sich sein Hobby leisten. Er war Waffenfabrikant in einer waffensüchtigen Zeit, ein begnadeter Händler und pingeliger Steueroptimierer. Kein sympathischer Charakter - aber ein schillernder.

Was brachte ihn dazu, sich eine solche Sammlung anzulegen? Reines Prestigedenken? Sollte die Schönheit dieser Werke vor allem ihn besser aussehen lassen? Oder hatte der studierte Kunsthistoriker Bührle eine andere Seite, eine tiefe Sehnsucht nach der befreienden Kraft der Kunst? War seine Sammlermanie gar ein Versuch der Sühne? Wollte er, dass Menschen wegen ihm nicht nur bluteten und verreckten - sondern Werke exquisiter Schönheit zu Gesicht bekamen?

Jedenfalls zeigt seine Geschichte, dass die Kunst die Welt nicht besser macht. Und wenn man lange genug darüber nachdenkt, werden die Waffen, die Kultur, die Bourgeoisie, wie die Kleckse eines grossen Bildes. Und man denkt so: Wie viel Abstand braucht es wohl, bis man sieht, was wirklich drauf ist?

Das ist mein neuer Beitrag für Herrn neonwilderness und sein famoses Projekt *txt - das Stichwort heisst "Bild".

4
Mrz
2015

Unerwünschtes Geschenk

Heute gibts hier keinen exklusiven Beitrag - aber einen Verweis auf einen Text, den ich mit circa zwei Dezilitern unverdünntem Herzblut geschrieben habe. Er ist eine persönliche Standortbestimmung und eine Essay über das Schreiben und die Einsamkeit. Er heisst Ein unerwünschtes Geschenk - erschienen auf dem Blog von avanti donne.

Es hätte auch ein Text für die Wörtersammlung auf neonwilderness werden können (No. 2). Aber ich musste entscheiden, wo meine Loyalitäten liegen - sie liegen bei meinen Kolleginnen. Vielleicht schaffe ichs ja beim dritten Wort.

22
Okt
2014

Das Date

Gestern war ich mit der Arbeitskollegin Karmesine zum Mittagessen verabredet. Als ich kam, wartete sie schon beim Sekretariat und plauderte mit der Sekretärin. Auf dem Weg zur Garage sagte sie: "Jetzt hat die mich gefragt, ob ich ein Date hätte." "Ein Date?" fragte ich nach. "Haben wir ein Date?"

Wenn es um Dates und derartiges geht, bin ich ja mittlerweile total von gestern. Ich meine: Ich lebe seit bald 15 Jahren in einer festen Beziehung. Und dann bin ich auch noch schwerhörig und bekomme eigentlich nur noch wenige dieser 100000 Konversatiönchen mit, in denen Sprache gemacht wird.

Ich fragte Karmesine, ob es auch ein Date sei, wenn eine heterosexuelle Frau und ihre Arbeitskollegin sich zum Mittagessen treffen. "Eigentlich ist ein Date ja ein Rendez-vous", sagte meine Kollegin. Also, das weiss ich auch - ich kann ja Englisch und Französisch. Wir Schweizer müssen ja oft zu Fremdsprachen greifen, wenn es um heikle zwischenmenschliche Vorgänge geht. Es ist ein Wunder, dass wir uns ohne Hilfe aus dem Ausland vermehren können.

Wobei: Meine Eltern nannten ein Rendez-vous auch noch "ein Rennen". Was ahnen lässt, wie viel Adrenalin bei so einem Anlass anno dazumal vergossen wurde. Nicht zuletzt von den Eltern, die fürchteten, dass ihre unansehnliche und dazu noch viel zu gescheite Tochter wieder einen schlechten Eindruck hinterlassen könnte. Sie würde als bedauernswerter Blaustrumpf enden - und was sollten dann die Nachbarn denken?

Also, anyway, ihr ahnt: Ich verabscheute Rendez-vous. Und ich hatte unglaubliches Glück: Ich war in einer Zeit jung, während der man einfach so mit Jungs abhängen konnte - ohne Leistungsdruck, ohne viel Getuschel und ohne Anstandsdamen. Wenn etwas daraus wurde, schön. Wenn nicht, meistens auch schön. Ich habe in meinem Leben vielleicht zwei Rendez-vous gehabt, die als solche zu erkennen waren. Und doch war ich nie lange single.

Jetzt aber ist das Rendez-vous wieder da - nur heisst es jetzt eben "das Date" und ist angeblich viel weniger stressig, weil ja dank Internet viel mehr Auswahl da ist. Karmesine experimentierte schon in den Neunzigern mit Internet-Dating. Sie erinnerte sich noch gut an die damaligen Regeln: "Man musste immer warten, bis der Mann sich wieder meldet. Wenn er sich nach drei Tagen nicht gemeldet hatte, dann war die Sache gelaufen."

Allerdings könnte das heute schon wieder anders sein. Ich kenne Internet-Daterinnen, die ihre Partner schon nach dem ersten Treffen mit so vielen SMS zuspammen, dass meine Mutter in hysterisches Warngeschrei ausgebrochen wäre. Man lief Männern damals nicht nach. Man machte sich rar.

Naja, vielleicht brauchen die Männer heute auch mehr Ermunterung als früher. Bei so viel Auswahl.

So kamen wir vom Hundertsten ins Tausendste - unter Frauen redet man doch über nichts angeregter als über die Liebe. Ich war nur einfach froh, dass ich zurzeit niemanden daten muss. Und nach einem fast zweistündigen Mittagessen weiss ich immer noch nicht, ob man auch ein informelles Treffen zwischen zwei heterosexuellen Frauen als "Date" bezeichnen kann. Oder wie das dann sonst heisst.

24
Sep
2014

Schaurige Liebesgeschichte

Mein Kleinverleger-Freund steht schwer unter Strom. Den ganzen Abend erzählt er mir von den Terminen, die er hat und gehabt hat und noch haben wird - und von seinen geschäftlichen Sorgen. "Und was liest Du so?" frage ich ihn. Ich meine... ein Kleinverleger muss doch lesen, oder?

"Drei Zeitungen im Tag, sonst habe ich keine Zeit zum Lesen", meint er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Vielleicht sieht er deswegen so kaputt aus.

Mir wird klar, wie privilegiert ich bin. Vom Leben unfreiwillig entschleunigt sitze ich da und lese. Zurzeit lese ich viel über die Liebe. Ich habe Fragen an die Liebe. Ich suche Antworten.

Also habe ich dieses Buch wieder mal gelesen. Völlig unzeitgemäss, weil nicht so spannend. Man weiss ja, wie es herauskommt: tragisch. Romeo und Julia beiden sterben - Aus, Ende.

Aber wie es dazu kommt, ist bei Gottfried Keller ganz grosses Kino. Schon die erste Szene ist Grauen erregend: Da treffen sich zwei Kinder, Knabe und Mädchen, auf dem verwilderten Niemandsland zwischen den Äckern ihrer Väter. Dort spielen sie nicht etwa Tökterlis* oder Müetterlis** oder sonst ein herziges Kinderspiel. Sondern sie zerlegen in sinnloser Zerstörungswut eine Puppe. In den hohlen Kopf des Spielzeugs stecken sie eine noch surrende Fliege und begraben ihn. Die symbolische Kraft dieser Szene - grossartig!

Dann bekommt die Leserin erzählt, wie die beiden Väter einander (oder sich selber?) finanziell und moralisch zu Grunde richten - einfach aus Stolz. Unablässig kreist die Geschichte um eine Ordnung und Wohlanständigkeit, die etwas zu ordentlich ist. Und um das Gegenteil, das aus ihr entsteht: um Verwilderung, um Niedergang, um Unrecht. Sehr schweizerisch, das alles. Da ist auch viel unterschwellige Komik drin, aber Keller lässt sie schön unterschwellig bleiben.

Und warum verlieben sich die beiden Kinder später, als junge Erwachsene mit prekärer Zukunft? Weil sie einander an die heile Welt ihrer Kindheit erinnern. Aber war sie so heil?

Über diese und andere Geschichten hätte ich gerne ein bisschen mit dem Kleinverleger geplaudert. Er ist schliesslich auch Germanist. Aber das hat ihn überhaupt nicht interessiert.

* Schweizerdeutsch: Doktorspiel
** Auch Schweizerdeutsch. Ich weiss nicht, ob es dazu eine Entsprechung im Hochdeutschen gibt. Kindliches Rollenspiel, oft mit Puppen, eine oder mehr Mütter kommen vor.

7
Sep
2014

Fremdbloggen

Wie so viele andere hier blogge ich jetzt auch fremd: Bei avantidonne. Gemeinsam.stark ist ein Blog von Schweizer Frauen mit einer Behinderung.

Es ist inspirierend, einmal unter anderen Rahmenbedingungen zu schreiben. Aber - um ehrlich zu sein - ich mache mir auch ein bisschen Sorgen. In letzter Zeit habe ich ein paar Leute gesehen, die sich mit Zweit- und Drittblogs verzettelt haben.

Ich weiss noch nicht, wie es hier weitergeht. Ich will hier weiter schreiben. Aber wie und was?

Nun ja, Konzepte sind ohnehin nie meine Stärke gewesen. Ich bin eher der Typ, der sich von der Muse küssen und dann von der Macht des Faktischen treiben lässt.

Ich glaube, ich bleibe einfach mal kussbereit.

6
Jul
2014

Fussball und Leichen

Die Bezeichnung "public viewing" ist zurzeit in der Deutschschweiz in aller Munde. Einige von uns glauben ja, das sei Englisch. Es handelt sich aber offenbar um einen so genannten Scheinanglizismus, auch "Denglisch" oder "Swinglisch" genannt, zu Deutsch: ein Ausdruck, der Englisch klingt, aber nicht Englisch ist. Englischsprachigen Lesern muss der in der Schweiz lebende Engländer Diccon Bewes jedenfalls erst erklären, was er beudeutet: "Das ist ein Ort, an den man geht, um mit vielen anderen Leuten ein grosses Sportereignis auf einem riesigen Bildschirm anzusehen - meistens unter freiem Himmel." (Da ich aus Erfahrung weiss, dass Englisch für viele deutschsprachige Leser ein Wegklick-Kriterium ist, habe ich Bewes hier kurz übersetzt).

Zwischenfrage: Braucht man die Bezeichnung "public viewing" in diesem Wortsinn in Österreich und Deutschland auch?

Falls nicht, so ist es nicht so schlimm. Denn auf Englisch heisst "public viewing" laut Bewes etwas ganz anderes, nämlich "die öffentliche Zurschaustellung einer Leiche" (das bestätigt auch das Englisch-Deutsch-Forum von leo.

Bewes hat dazu eine hübsche Pointe, aber die kann man nicht übersetzen. Wer einigermassen Englisch kann, sollte hier nachlesen.

Edit: Ein Freund hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die FIFA hier eine Denglisch-Vorreiterrolle einnimmt und ausdrücklich Regeln für "Public Viewing Events" festlegt (hier.
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