an der tagblattstrasse

2
Sep
2011

Fax von einem Amokläufer

Die Diskussion über Extremismus von neulich hat mir ein Erlebnis aus dem Jahr 2001 in Erinnerung gerufen. Es war im Mai oder Juni jenes Jahres, als ich ein Papier aus dem Faxgerät im Büro fischte. Die Seite war vollgetippt mit einem wirren Gezeter über die Zuger Verkehrsbetriebe. Gezeichnet von einem gewissen Fritz Leibacher.

Ich arbeitete damals bei einer mittelgrossen Tageszeitung irgendwo in der Schweiz. Nicht in Zug. Solches Geschreibe sieht man bei einer Zeitung alle paar Tage. Wir waren nicht interessiert und nicht zuständig. Ich leitete das Schreiben an jemanden weiter, der Herrn Leibacher freundlich unser Desinteresse zu verstehen gab.

Am 27. September 2001 betrat Fritz Leibacher das Gebäude, wo gerade das Zuger Kantonsparlament tagte. Er war als Polizist verkleidet und trug mehrere Schusswaffen. Im Kantonsratssaal eröffnete er das Feuer. 14 Menschen starben im Kugelhagel. Viele, viele wurden verletzt. Viele leiden noch heute an den Folgen des Amoklaufs.

Ich war gerade in England in den Ferien. Erst später fiel mir jenes Fax wieder ein. Ich habe seither oft darüber nachgedacht. Ich sehe mich heute noch damit vor jenem Faxgerät stehen. Der Spannteppich unter meinen Füssen war stahlblau. Das Schreiben enthielt keinerlei Drohungen. Nur leicht paranoides Geschreibe. Vielleicht ein bisschen dringlicher und paranoider als anderes Geschreibe, das ich in all den Jahren gesehen habe. Aber ich würde mit einem ähnlichen Schreiben heute möglicherweise dasselbe tun.

Es hätte ja auch nichts geändert, wenn ich anders reagiert hätte. Leibacher hatte schon vorher ganz Zug und Umgebung mit seinen Wahnideen drangsaliert. Niemand war zuständig. Niemand sah die Katastrophe kommen.

Ich habe mir einfach die Vorstellung abgeschminkt, dass ich fähig wäre, einen gewaltbereiten Extremisten im voraus zu erkennen.

31
Aug
2011

Experten mit kurzem Gedächtnis

Dieser Tage bin ich in der New York Times* einer Analyse von Elif Shafak begegnet. Titel: "Wie sich die Türkei dem Netz in die Arme wirft". Ein Zitat daraus: Politik-Experten sagen voraus, dass der verbreitete Gebrauch des Internet und anderer Kommunikationsmittel dem Mittleren Osten und dem Balkan eine vertiefte Sensibilität für Menschenrechte, die Zivilgesellschaft und die pluralistische Demokratie bringen werden. Eine global und digital vernetzte Bevölkerung ist weniger anfällig für extremistische Diskurse. "

Ich stutzte. Waren nicht noch vor wenigen Wochen die Medien voll von Experten-Meinungen über Anders Breivik? Und von solchen über die Rolle, die das Internet bei der Entwicklung seines rechtsextremistischen Wahns gespielt hat? Die verbreitete Auffassung von Experten war damals: Das Internet macht den Diskurs von Extremisten extremer. Es habe Breivik sicher nicht gebremst - sondern senem Wahn zusätzliche Nahrung geliefert. Kurz: Sie sagten ungefähr das Gegenteil von dem, was Shafak schreibt.

Womit ich keinesfalls sagen will, dass der Mittlere Osten künftig mehr Gewalt und Extremismus im Stil von Anders Breivik fürchten muss. Das kann ich schlicht nicht beurteilen.

Ich will lediglich sagen: Ich habe endlich verstanden, weshalb mich diese medial zubereiteten Instant-Thesen von so genannten Gesellschaftsexperten über das Internet so misstrauisch machen. Weil sie sich immer an einzelnen Vorfällen festmachen. Weil sie ein Gedächtnis von ungefähr zwei Wochen haben. Weil sie einen Einfluss des Internet sehen müssen - auch wenn er vielleicht gar nicht gegeben ist.

Statt Theoretiker-Geschwafel deshalb hier lieber einen Türkentango:



* Um ehrlich zu sein: Natürlich habe ich nicht die New York Times (NYT) selber gelesen. Sondern einen Zusammenschnitt der NYT, die jeweils der Print-Ausgabe des Tagesanzeigers beiliegt. Sie ist englischsprachig. Die Übersetzungen von Titel und Text sind von mir.

9
Mai
2011

Syrische Jungs

Bevor ich heute nach Hause ging, öffnete ich zufällig eine Ausland-Seite von morgen. Ich las einen Lead. Da stand "Syrien. Assads Soldaten durchkämmen in mehreren Städten alle Wohnungen und verhaften Tausende. In den Vororten von Damaskus sind schwere Kämpfe im Gang."

Es war das erste Mal, dass mich die Katastrophe in Syrien emotional erreichte.

Das ist merkwürdig spät. Denn ich bin schon einmal in Syrien gewesen. 1998 wars, im Oktober. Damals machte ich am Rand eines noch nicht allzu tief ausgetrampelten Touristenpfads im Norden des Landes dieses Bild.

Boys in Syria

Die Sprache der drei konnte ich nicht. Aber sie standen für mich bereit, noch bevor ich die Kamera richtig gezückt hatte. Ich musste nur abdrücken.

Ich muss gestehen: Ich hatte sonst keine Zeit für die Menschen in Syrien. Ich war mit einer Schweizer Gruppe unterwegs - auch beruflich. Der Röstigraben, der mitten in unserer Gruppe klaffte, beschäftigte mich mehr als die Syrer. Von ihrer Politik ganz zu schweigen - auch wenn die riesigen Bilder vom alten Assad jede Minute an den Diktator erinnerten. Überhaupt. Wer will solche Dinge schon genau wissen, so als Tourist.

Aber ich liebte Aleppo. Wenn die Sonne in Aleppo untergeht, leuchten die Mauern der Stadt in allen Regenbogenfarben auf. Und dann legen die Muezzine los. Es ist, als würde die Welt in einem Rausch aus Farben und Stimmen untergehen. Wenn der Orient eine Droge ist - eine Droge aus Licht, süsser Ruhe und Raum - dann hat Aleppo mich angefixt.

Ich liebte die Wüste. Ihr gleissendes Licht am Tag, ihr warmes Leuchten am Abend, ihre mörderische Kälte in der Nacht.

Die Jungs waren damals zwölf, dreizehn Jahre alt. Sie sind jetzt um die 25. Sicher ein gefährliches Alter, wenn Staatsterror herrscht. Ich habe nie mit ihnen gesprochen. Ich konnte ihnen nicht mal dieses Bild schicken.

Wo sie wohl sind?

20
Mrz
2011

Mitgefühl

Heute haben in den Sonntagszeitungen gleich mehrere Chefredaktoren und Chef-Kommentatoren mehr Mitgefühl für die Menschen in Japan gefordert - und weniger hysterisches Geschwätz über AKWs. "Was ist mit mir los?" dachte Frau Frogg. "Bin ich eine hysterische Westlerin auf dem Ego-Trip? Habe ich kein Mitgefühl für die Menschen in Japan?"

Die Antwort lautet: Natürlich bin ich eine hysterische Westlerin. Was könnte ich anderes sein? Dennoch habe ich natürlich Mitgefühl für die Menschen in Japan. Mir wird das Herz schwer, wenn ich den japanischen Premierminister auf Fernsehbildern aus Japan sehe. Links oben im Bild sieht man dann immer auch die Frau, die seine Aussagen in Gebärdensprache übersetzt. Dann muss ich an die Japanerinnen und Japaner denken, die täglich die Zumutungen einer Behinderung bewältigen müssen. Und jetzt noch das.... Und natürlich möchte ich weinen, wenn ich Bilder von den Menschen sehe, die zwischen den Trümmern des Tsunamis Spuren ihrer Angehörigen suchen.

Aber ich habe bislang kein Bedürfnis gespürt, dieses Mitgefühl öffentlich zu bekunden. Dafür habe ich einfach zu viele Ausland-Seiten einer Tageszeitung gemacht. Wer Ausland-Seiten macht, entscheidet jeden Tag über das Gewicht von buchstäblich Dutzenden von Todesfällen. Das ist in diesen Tagen nicht anders, wie mir ein Blick in die gestrige Ausgabe des "Tagesanzeigers" bestätigt: Es starben nicht nur Menschen in Japan und Libyen. Nein. In Pakistan starben am Freitag 40 Menschen bei einem amerikanischen Drohnenangriff. Sie waren den "Tagi" genau eine Nachricht wert. Verdienen ihre Angehörigen nicht auch mein Mitgefühl, ja, meine Empörung über jene, die ihr Leid verschulden? Und wie steht es mit den weiteren paar Dutzend Opfern in anderen Konflliktregionen dieser Welt, die es sehr wahrscheinlich gab - die aber die Zeitungen nicht einmal in ihren Randspalten erwähnten?

Bitte versteht mich nicht falsch: Ich will das menschliche Leid in Japan nicht herunterspielen. Ich denke hier lediglich laut nach. Ich meine: Chefredaktoren und Chef-Kommentatoren wissen, wie man die Auslandseiten einer Zeitung macht. Ich frage mich, weshalb sie in diesen Tagen so sehr an unser MItgefühl appellieren.

18
Mrz
2011

Atomare Gedächtnislücken

Gestern Abend sassen wir vor der Glotzkiste und sahen einen Dok über AKW-Störfälle. Bald kam Frau Frogg zur Erkenntnis: Des Menschen Glück und Fluch ist sein unglaublich selektives Gedächtnis. Ich meine: Wir hatten sogar in der Schweiz früher mal einen happigen Störfall (Lucens, 1969). Aber weiss das noch jemand? Mitnichten. Auch Tschernobyl: Vergessen. Da werden Berge von Büchern über psychische Traumata geschrieben. Aber ökologische Katastrophen scheinen nur direkt Betroffene zu traumatisieren. Der grosse Rest lässt sie jener Amnesie anheim fallen, über die nicht einmal Bücher geschrieben werden.

Meine Generation ist die erste Generation, die an der Schule ein ökologisches Grundwissen erworben hat. Unter meinen Studienkollegen gab es viele Öko-Freaks. Gegen AKWs waren wir sowieso. Aber dann passierte etwas: Ökologisches Bewusstsein wurde plötzlich unhip. Öko-Freaks galten als "Körnlipicker", als genussfeindliche Prinzipienreiter. Und genussfeindlich wollte niemand sein. Klar, einige von uns fuhren auch nach dem Liz noch Velo. Aber gleichzeitig entdeckte man die Pendelei, die Vielfliegerei als Status-Symbol. Man arbeitete an seinem sozialen Aufstieg. Man baute ein Häuschen – nach Minergie-Standard vielleicht. Aber ein Häuschen musste es sein.

Über unbequeme Fragen oder gar apokalyptische Szenarien wollte niemand nachdenken. Die Energielücke droht? Na, von mir aus, irgendjemandem wird schon etwas einfallen! Da greift es in meinen Augen etwas kurz, wenn wir jetzt plötzlich die Politiker der Heuchelei und der Kurzsichtigkeit bezichtigen. Ich meine: Wer von uns hat Politiker gewählt, die in ihre Wahlwerbung schrieben: "Bin vehementer AKW-Gegner"? Eben. Das Thema war einfach nicht auf der politischen Agenda. Wir haben es alle vergessen.

Jetzt raufen wir uns die Haare. Wir wollen Busse tun. Auch Frau Frogg schaltet einige ihrer Standby-Geräte aus. Wenigstens etwas Kleines kann man tun.

1601 fegte ein Tsunami über die Stadt Luzern. Er sei zwei Hellebarden (vier Meter) hoch gewesen, hiess es am Fernsehen. Für jene, die das nicht glauben: Hier mehr dazu. Man betrachtete das Verhängnis als Strafe Gottes. Die Regierung verhängte als Busse ein zweimonatiges Tanzverbot.

Ob Frau Frogg's Geräte in zwei Monaten wieder auf Standy laufen?

16
Mrz
2011

Tschernobyl

Bitte entschuldigt, wenn ich hier aus den ernsten Themen gar nicht mehr herauskomme. Die Atomkatastrophe in Japan geht mir sehr nahe. Nicht zuletzt deswegen, weil sie die Grundfesten unserer westlichen Zivilisation erschüttert - so augenscheinlich wie kaum etwas vor ihr.

Um zu verstehen, was jetzt passiert, ziehe ich meine Erinnerung an Tschernobyl bei. Ich war damals 21 und gerade in England. Ich arbeitete in einem anthroposophischen Heim für behinderte Kinder.

Mir ist Tschernobyl nicht zuletzt als Informations-Desaster in Erinnerung. Im Heim lasen wir mittags jeweils die "Times". Sogar eine renommierte Zeitung wie sie brachte die Masseinheiten für ausgetretene Radioaktivität konsequent durcheinander. So konsequent, dass selbst unkritische Zeitgenossinnen wie die junge Frau Frogg den Eindruck gezielter Desinformation bekommen mussten. Nach einigen Tagen verbot man uns jungen Frauen im Heim dann sowieso die Zeitungslektüre. Wir würden mittags die Kinder vernachlässigen, hiess es.

An einem jener Tage im April 1986 hatte ich dann frei und sass im Zug nach London. Im Nebenabteil sass ein Mann mit einer Zeitung in der Hand. Auf der Rückseite sah ich die Schlagzeile "Radioactive Cloud over Switzerland". Auf der ganzen, einstündigen Fahrt starrte ich mit schreckgeweiteten Augen die Schlagzeile an. Vielleicht bat ich den Mann sogar, ob ich den Artikel lesen dürfe, ich weiss es nicht mehr. Es dürfte das übliche Durcheinander zwischen Becquerel und - wie hiess das andere nochmal? - gewesen sein.

Jedenfalls sprang ich in Charing Cross aus dem Zug und suchte sofort die nächste Telefonkabine auf. Ich rief meine Mutter an. Die war ausgesprochen munter und ganz erstaunt, mich zu hören. Von der radioaktiven Wolke über unserem Land, über unserem Haus, verdammt, wusste sie nicht. "Bei uns hiess es, die radioaktive Wolke liege über England", sagte sie gänzlich unbesorgt.

Wenige Jahre später verschwand der Super-GAU von Tschernobyl aus dem öffentlichen Bewusstsein. Wo sind eigentlich die Filme über die namenlosen Helden von Tschernobyl, die ihr Leben für den Fortbestand der Menschheit opferten?

Zum Beispiel dafür, dass in den neunziger Jahren britische Popbands unbekümmerte, kleine Satiren wie die folgende machen konnten? Sie sei Euch zur Aufheiterung kredenzt. Anglophilen sei empfohlen, auf das breite Cockney im Text zu hören.



Wer das Video hier nicht sehen kann, sollte es mal hier versuchen. Leider ist das Bild dort ein bisschen blurred. Naja, passt.

12
Mrz
2011

Japan-Katastrophe kam ganz leise

Katastrophen erreichen unsere Redaktion stets ganz leise. Plötzlich läuft irgendwo im Grossraumbüro ein Fernseher mit ganz wenig Ton. Dann ein zweiter und dritter. Niemand schaut hin. Die meisten sind an Sitzungen. Man muss schliesslich reagieren. Ich muss nicht reagieren. Ich sitze zwar in einem Newsroom. Aber meistens bekomme ich zuletzt mit, was passiert. Ich schaute auch nicht hin.

Erst gegen 11 Uhr kam Schlafmütze Frogg dann endlich auf die Idee, auf dem Internet nachzuschauen, was eigentlich los sei. Ich las "atomarer Notstand". Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

Als die Kollegen von der Sitzung kamen, begann Phase 2 der Katastrophen-Bewältigung: Gelächter. "Na, ist Deine nächste Reise-Destination Japan?" fragte jemand den Kollegen, den wir den Katastrophen-Reporter nennen. Er war zufällig in Sharm el Sheik, als die Ägypter aufstanden. "Klar. Und auf der Durchreise schaue ich noch schnell in Libyen vorbei."

Phase 3 begann am frühen Nachmittag: Hektik. Die Kollegen vom Newsdesk suchten verzweifelt Leute, die ein paar Worte zur Sache schreiben könnten. Wie üblich hatte eigentlich niemand Zeit für das Unerwartete.

Ich hatte Zeit. Ich war ausserordentlich früh fertig mit meiner Arbeit. Ich meldete mich freiwillig. Eine halbe Stunde später hatte ich einen Atomkraft-Experten am Telefon. Ich habe so etwas seit meinen Hörstürzen vor bald anderthalb Jahren nicht mehr gemacht. Ein paar Alarmlämpchen leuchteten auf. Ich ignorierte sie.

Phase 4 ist wieder sehr still und dauert meist bis Druckbeginn kurz vor Mitternacht: Jeder erledigt seinen Job so speditiv wie möglich.

Ich war um 18 Uhr fertig. Als ich meinen Computer herunterfuhr, wusste ich nicht, welchem Gefühl ich mich zuerst widmen sollte:

- Der Bestürzung über die Katastrophe
- Der Euphorie, wieder geschrieben zu haben
- Der Angst, meine Ohren überfordert zu haben
- Dem Gedankensturm, den mein neues Wissen über AKWs erzeugte

Ich ging nach Hause und sah mir einen Kostümschinken an.

Heute eiert das gute Ohr ein bisschen. Ich lese zuerst mich selbst auf der Seite 4. Journalisten sind eitel. Dann lese ich alles andere, was ich über das Unglück in die Finger bekomme. Ich mache mir grosse Sorgen über das AKW Fukushima.

19
Feb
2011

Wilhelm Tell hoch aktuell

Wir haben in den achtziger Jahren am Gymnasium Wilhelm Tell für die Schule von Max Frisch nicht gelesen. Wahrscheinlich hielt unser Deutschlehrer Frisch für einen Nestbeschmutzer.

Ich habe die Lektüre gestern nachgeholt. Und ich muss sagen: Das Buch ist brandaktuell. Ich meine: Die städtische Schweiz reibt sich gerade die Augen über den Erfolg der SVP. Über das wuchtige Nein zur Waffeninitiative auf dem Land. Über den Erfolg fremdenfeindlicher Parolen. Viele Städter sind wütend. Und genau dieser Wut gibt Frisch in seinem Text von 1971 eine Stimme.

Frischs Ton oszilliert zwischen leisem Sarkasmus und gerade noch beherrschter Tobsucht, wenn er über die Urschweizer aus dem Mythos schreibt. Er tut es in der Rahmengeschichte aus der Sicht des so genannten fremden Vogtes. Dieser heisst bei ihm nicht Gessler, sondern von Tillendorf (historisch ebenso plausibel). Er ist ein nicht besonders tüchtiger, aber eigentlich ganz sympathischer Kerl. Doch mit den Leuten von Uri kann er gar nicht. Sie sind in seinen Augen unerträglich engstirnig und selbstgerecht. "Sie wussten, wie man Käse macht, und brauchten sich von der Welt nicht belehren zu lassen. Ein Scherz konnte genügen, um es mit ihnen zu verscherzen... Was nicht so war wie schon immer, schien ihnen bedenklich, geradezu des Teufels." (S. 19/20)

In einer seiner ausgedehnten Fussnoten zur Rahmengeschichte schreibt er dann: "Der Glaube an das Althergebrachte, eine Essenz urschweizerischer Denkart, wobei man Neuerungen mehr fürchtet als Rückständigkeit, hat sich bis zum heutigen Tag erhalten." (S. 53)

Frisch dekliniert sämtliche Mythen der konservativen Schweiz durch: Isolationismus, Fremdenfeindlichkeit, Schiessfreudigkeit und beteuert: Es seien ewige Schweizer Werte, dem urschweizerischen Geist leider nicht auszutreiben.

Als hätte er den Text gestern geschrieben.

In den letzten zwei, drei Jahrzehnten sah es so aus, als ziehe sich dieser urschweizer Geist allmählich in die hintersten Täler zurück. Aber die SVP hat ihm flattiert, ihn gefüttert. Jetzt ist er wieder da und bis weit in die Vorstädte herein vorgedrungen. Er ist bedrohlich für alle, die wir im Herzen oder auf dem Papier keine Urschweizer sind. Wir werden lernen müssen, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Wir wollen ja nicht enden wie Tillendorf.

* Max Frisch: "Wilhelm Tell für die Schule", Suhrkamp Taschenbuch, 2004.

1
Feb
2011

Frau Frogg und das Frauenstimmrecht

Klein Moni war sechs, als die Familie eines Tages nach der Sonntagsmesse einen Umweg machte. Es war 1971. Der Umweg führte zu einem Haus, das sonst nie jemand beachtete. An jenem Tag aber stand seine Tür offen und Leute gingen aus und ein. Auch Papa ging hinein. Mama blieb mit uns draussen. "Wo geht Papa hin?" fragte der kleine Bruder Andreas.

"Papa geht stemmen", sagte Mama. Natürlich meinte sie "stimmen", vielmehr "abstimmen". Aber das begriff Moni erst einige Zeit später. In unserem Dialekt ist ein kurzes "e" sehr ähnlich wie ein offenes "i".

Moni wusste schon, was "stemmen" war: eine Tätigkeit von Würde, eines dieser geheimnisvollen Rituale der Erwachsenen. Im Jahr zuvor hatte Mama es ihr erklärt, als Papa im Haus drin war. "Weisst Du, da gibt es ein paar Leute in der Schweiz. Die wollen, dass viele Ausländer das Land verlassen. Das heisst dann, dass Crispin vielleicht wieder zurück nach Portugal muss." Crispin war ein Kindergarten-Kamerad von mir, ein Einwandererkind. "Aber", sagte Mama, "in Portugal hat Crispins Papa ja keine Arbeit. Da wäre es doch eigentlich nicht in Ordnung, wenn er wieder zurück müsste, oder?" Ich gebe zu: Mutter Frogg's Art, uns zu die Politik beizubringen, war nicht ganz wertfrei. "Also, jedenfalls gehen jetzt alle Schweizer Männer deswegen stemmen. Das heisst: Sie dürfen auf einen Zettel schreiben, ob die Ausländer wieder aus der Schweiz weg müssen oder nicht." Dass Papa damals über die so genannte Überfremdungs-Initiative von James Schwarzenbach abstimmte, habe ich erst später gelernt.

Aber diesmal, in meinem sechsten Jahr, ging es um etwas anderes. Mama erklärte: "Jetzt entscheiden die Männer, ob die Frauen auch stemmen dürfen. Denn bis jetzt durften immer nur die Männer in dieses Haus hinein und einen Zettel ausfüllen. Aber viele finden, die Frauen sollten das auch dürfen. Jetzt schreiben die Männer da drin auf einen Zettel 'Ja' oder 'Nein'. Und wenn mehr als die Hälfte der Männer in der ganzen Schweiz 'Ja' schreibt, dürfen die Frauen auch stemmen."

"Und was schreibt Papa?" fragte Moni.

"Papa schreibt 'Ja"", sagte Mama.

Er war nicht der einzige. Am 7. Februar 1971 führte die Schweiz das Frauenstimmrecht ein - nach unzähligen Anläufen.

52 Jahre nach Deutschland.
41 Jahre nach der Türkei.

Am 7. Februar ist das 40 Jahre her. In diesen Jahren ist Moni Frogg erwachsen und älter geworden. Aber ich erinnere mich an diesen Sonntag. Er hat mich gelehrt:

- Die Direkte Demokratie mag eine gute Staatsform sein. Aber sie ist halt etwas langsam.
- Das Volk hat nicht immer beim ersten Anlauf recht.
- Nicht wegen jeder Veränderung fällt uns der Himmel auf den Kopf.
- Wer Steuern zahlt sollte auch mitbestimmen dürfen. Das ist fair und hat sich bewährt.

23
Jan
2011

Sturmgewehr in der Küche

In den neunziger Jahren war ich in Basel Untermieterin bei einem Kumpel namens Nino. Ich übernachtete in seiner Wohnung zwei, drei Nächte die Woche. Damit ich nicht jeden Tag drei Stunden pendeln musste. Nino lebte weit weg und war manchmal am Wochenende da. Ich schlief im Wohnzimmer, er hatte ein Schlafzimmer. Ich sah ihn nie.

Das Haus lag in einer heruntergekommenen Gegend. Es wartete sterbensmüde auf den Abbruchhammer. Dieser konnte wegen der geplanten, neuen Schnellstrasse jeden Tag auffahren. Die Wohnungen waren billig und schlecht unterhalten. Ninos Absteige dämmerte wie eine verwahrloste Alte dem Ende entgegen. Zum Gefühl allgemeiner Verkommenheit trug bei, dass Nino sein Sturmgewehr* gut sichtbar in der Küche aufbewahrte.

Mich störte das nicht sehr. Als Journalistin teile ich mit vielen meiner Berufskollegen ein bemerkenswertes Desinteresse an Fragen der Innendekoration. Anders meine Freundin, die Stauffacherin. Sie ist Bildhauerin und puncto Raumgestaltung eine Autorität - ästhetisch wie moralisch. "Ich besuche Dich nicht mehr, wenn diese Knarre weiter in Deiner Küche rumsteht", sagte sie.

Also schrieb ich Nino einen Zettel: "Lieber Nino, Könntest Du bitte Dein Sturmgewehr aus der Küche nehmen? Es stört meine Gäste. Herzliche Grüsse und ein schönes Wochenende, Frau Frogg".

Das Gewehr verschwand, und ich vergass es sofort.

Wochen später kam mein Freund English zu Besuch. Er schlief im Bett von Nino im anderen Zimmer.

Am Morgen kam er in die Küche, in seinen Augen eine Mischung aus Schrecken und Faszination. Er sagte: "There's a gun in my bedroom." Aha. Nino hatte jetzt also sein Sturmgewehr im Schlafzimmer abgestellt.

English fürchtete sich echt ein bisschen. Ich meine: Er war mit Schweizer Gepflogenheiten nicht vertraut und kannte Nino ja nicht. Wie konnte er wissen, ob der Herr dieser verslummten Absteige nicht plötzlich auftauchen und ein bisschen herumballern würde?

Am 13. Februar stimmen wir darüber ab, ob unsere Männer ihre Waffen künftig im Zeughaus deponieren sollen. Ich werde Ja stimmen, ohne deswegen Herzblut zu vergiessen. Ich hatte zum Glück nie einen schiesswütigen oder suizidalen Mann, Freund oder MItbewohner. Ich finde einfach, Sturmgewehre in Privatwohnungen passten schon nicht in die neunziger Jahre. In unsere Zeit passen sie noch viel weniger.



* Für nichtschweizer Leser: Die meisten Schweizer Männer meiner Generation waren auch Soldaten. Damals mussten sie zwischen Einsätzen ihr Gewehr mit nach Hause nehmen. Heute kann mann es im Zeughaus lassen. Die Norm ist aber immer noch, dass mann es nach Hause nimmt.
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diefrogg - 11. Jan, 15:20
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diefrogg - 9. Jan, 18:14
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