16
Mrz
2011

Tschernobyl

Bitte entschuldigt, wenn ich hier aus den ernsten Themen gar nicht mehr herauskomme. Die Atomkatastrophe in Japan geht mir sehr nahe. Nicht zuletzt deswegen, weil sie die Grundfesten unserer westlichen Zivilisation erschüttert - so augenscheinlich wie kaum etwas vor ihr.

Um zu verstehen, was jetzt passiert, ziehe ich meine Erinnerung an Tschernobyl bei. Ich war damals 21 und gerade in England. Ich arbeitete in einem anthroposophischen Heim für behinderte Kinder.

Mir ist Tschernobyl nicht zuletzt als Informations-Desaster in Erinnerung. Im Heim lasen wir mittags jeweils die "Times". Sogar eine renommierte Zeitung wie sie brachte die Masseinheiten für ausgetretene Radioaktivität konsequent durcheinander. So konsequent, dass selbst unkritische Zeitgenossinnen wie die junge Frau Frogg den Eindruck gezielter Desinformation bekommen mussten. Nach einigen Tagen verbot man uns jungen Frauen im Heim dann sowieso die Zeitungslektüre. Wir würden mittags die Kinder vernachlässigen, hiess es.

An einem jener Tage im April 1986 hatte ich dann frei und sass im Zug nach London. Im Nebenabteil sass ein Mann mit einer Zeitung in der Hand. Auf der Rückseite sah ich die Schlagzeile "Radioactive Cloud over Switzerland". Auf der ganzen, einstündigen Fahrt starrte ich mit schreckgeweiteten Augen die Schlagzeile an. Vielleicht bat ich den Mann sogar, ob ich den Artikel lesen dürfe, ich weiss es nicht mehr. Es dürfte das übliche Durcheinander zwischen Becquerel und - wie hiess das andere nochmal? - gewesen sein.

Jedenfalls sprang ich in Charing Cross aus dem Zug und suchte sofort die nächste Telefonkabine auf. Ich rief meine Mutter an. Die war ausgesprochen munter und ganz erstaunt, mich zu hören. Von der radioaktiven Wolke über unserem Land, über unserem Haus, verdammt, wusste sie nicht. "Bei uns hiess es, die radioaktive Wolke liege über England", sagte sie gänzlich unbesorgt.

Wenige Jahre später verschwand der Super-GAU von Tschernobyl aus dem öffentlichen Bewusstsein. Wo sind eigentlich die Filme über die namenlosen Helden von Tschernobyl, die ihr Leben für den Fortbestand der Menschheit opferten?

Zum Beispiel dafür, dass in den neunziger Jahren britische Popbands unbekümmerte, kleine Satiren wie die folgende machen konnten? Sie sei Euch zur Aufheiterung kredenzt. Anglophilen sei empfohlen, auf das breite Cockney im Text zu hören.



Wer das Video hier nicht sehen kann, sollte es mal hier versuchen. Leider ist das Bild dort ein bisschen blurred. Naja, passt.

Trackback URL:
https://froggblog.twoday.net/stories/14878405/modTrackback

Eugene Faust - 16. Mär, 11:34

Auf die Schnelle könnte ich damit dienen


WDR-Doku Tschernobyl - Tage, die die Welt bewegten

(Ihr tube ist übrigens in D nicht verfügbar :( )

diefrogg - 16. Mär, 11:40

Edit:

Sehr sehenswert, aber nichts für schwache Nerven! Mir wurde beim Zuschauen übel.
steppenhund - 16. Mär, 11:36

Sehr interessant zu hören, dass Sie in England mit behinderten Kindern gearbeitet haben.
Meine Tochter hat nach der Matura ein Jahr Hausmutter für Behinderte in einen Dorf in der Nähe von Genf gespielt. Interessanterweise traf ich am Flughafen eine Verkäuferin, die da recht gut Bescheid wusste.
In meiner Verwandschaft gibt es eine gleichaltrige Schwägerin, die eine relativ wichtige Position in einem Dorf (Camphill) in der Nähe von Philadelphia besetzt. Mit der Thematik bin ich nicht nur über meine Frau und deren Familie sondern auch von meinem Vater her gut vertraut.
Die Desinformation, Tschernobyl betreffend, erleben wir jetzt wieder. Und sie ist erschreckend.
Heute sitze ich in der U-Bahn, höre Leute reden und denke mir, warum passiert nicht noch etwas Größeres, damit es uns endlich von der Erde putzt. Wir haben diesen Lebensbereich nicht verdient.

diefrogg - 16. Mär, 11:43

Ja, ich habe auch...

in einem Camphill gearbeitet. Daher rührt meine geradezu militante Abneigung gegen alles Esoterische. Wobei das Camphill wohl nicht allein schuld war. Ich bin in spirituellen Fragen sicher zur Skeptikerin geboren.

Mit Ihrem Erfahrungshintergrund würde ich wahrscheinlich im Moment auch verzweifeln, Herr Steppenhund! Allerdings habe ich den Eindruck, dass das mit der Kommunikation diesmal ein bisschen besser funktioniert. Chaotisch ist es wohl vor allem deshalb, weil die Situation vor Ort so chaotisch ist. Oder irre ich mich?
steppenhund - 16. Mär, 13:43

Die Kommunikation funktioniert sehr schlecht, will mir scheinen. Das ist dadurch bedingt, dass Tepco immer nur das unbedingt Notwendige zugeben will. Auf alle Fälle haben sie verabsäumt, sich vom Tag eins weg um die weiteren Reaktoren zu kümmern. (In der Kommunikation war da von 5 und 6 noch nicht einmal die Rede.)
Das Chaos ist eher durch das Erdbeben und den Tsunami verursacht. Ich glaube, dass die Japaner hier extrem antichaotisch - wenn auch verständlicherweise langsam verzweifelnd - reagieren.
-
Also meine Schwägerin würde ich nicht unbedingt als Esoterikerin empfinden. Das ist ziemliches Down-to-Earth-Management, was die da durchführen müssen. Ich weiß schon, dass manche Anthroposophen zu ziemlich exaltieren Anschauungen neigen, aber als Regel würde ich das nicht aufstellen.
Wesentlich ist bei der Arbeit mit behinderten Kindern, dass man die Behinderung nicht von vornherein als Defizit betrachtet, sondern den Menschen trotzdem ganzheitlich ansieht. Der Mensch wird nicht danach bewertet, wie weit er "in eine Norm Mensch" hineinpasst.
Was ich selbst erlebt habe, ist der beglückende Umgang mit Down-Syndrom-Kindern, die ja an sich schon sehr behindert wirken. Doch wenn man mit ihnen zu tun hat, stellt man auf einmal eine Quelle der Zufriedenheit und Freude (manche nennen es auch Liebe) fest, die eindeutig in ihnen den Ursprung hat. Und das ist irgendwie gar nicht esoterisch.

[OT] Eigentlich sollte ich ja beleidigt sein, weil Sie mich in Wien nicht treffen wollen;)
diefrogg - 16. Mär, 14:02

Aber Herr Steppenhund!

Natürlich will ich Sie in Wien treffen! Ich habe sogar schon Ihre E-Mail-Adresse auf Ihrem Blog gesucht, sie aber nicht gefunden. Da sie ohnehin weg waren, dachte ich, ich warte noch.und kündige uns später bei Ihnen an. Aber heute haben wir die Flüge gebucht. Wir sind 10. bis 14. April in Wien. Und es würde mich sehr freuen, Sie dort zu treffen!

Was das Camphill betrifft: In der Tat war das im Alltag eine ziemlich pragmatische Sache - und ich möchte hier keinesfalls Ihre Tochter oder Ihre Verwandte kritisieren, die sich für so eine Organisation einsetzen. Für einige der behinderten Kinder war jenes Camphill der einzig richtige Ort. Ich betreute damals ein 16-jähriges Mädchen, das man seine ganze Kindheit lang in ganz Südengland in konventionellen Heimen herumgeschoben hatte. Sie war sonst nirgends tragbar. Bei uns benahm sie sich ganz ordentlich. Sie fühlte sich wohl, war aber ein grosser Challenge für die junge Frau Frogg.

Richtiggehend Mühe bereitete mir das geistige Outfit meiner damaligen Camphill-Chefinnen und -Chefs. Ich fand sie zuweilen engstirnig, rationalen Argumenten und kritischen Fragen (sie kennen mich ;) unzugänglich. Da ich ab und zu halblaut solche stellte, galt ich gemäss anthroposophischer Temperatmentslehre als melancholische Phlegmatikerin - und damit eigentlich als eine Art Missgeburt. Camphill als Institution hatte für mich als junge Frau, die dort rund um die Uhr wohnte und viele, viele Stunden am Tag arbeitete, etwas Totalitäres. Dass man uns die Zeitungslektüre während der Katastrophe in Tschernobyl verbot, war symptomatisch. "Und der Schaden, den so etwas in der geistigen Welt anrichtet...!" war eine Bemerkung meines Vorgesetzten, an die ich mich gut erinnere. Mir reichten damals erst mal die Folgen der Verstrahlung für die reale Welt.
steppenhund - 16. Mär, 14:20

Wenn man mir die Zeitungslektüre während einer Zeit wie Tschernobyl verböte, würde ich ziemlich aggressiv reagieren. Die Ablehnung kann ich da recht gut verstehen. Aber es sind nicht alle so, ganz gewiss nicht:)
hans_karl_hartmann@yahoo.de
ConAlma - 16. Mär, 15:05

1986 war ich gerade mit der Ältesten schwanger. In der Geburtsvorbereitungsgruppe herrschte riesengroße Verwirrung darüber, was zu tun sei, wenn wir nicht stillen könnten. Eine Freundin hat sich einen unglaublichen Vorrat an Babymilchpulver und Babnahrungsgläsern zugelegt. Und hatte dann für 2 Jahre Milch. Ich hab mich drauf verlassen, dass ich sehr wohl in der Lage sein werde zu stillen, und bis auf die auf längere Sicht sehr verstrahlten Pilze war dann ohnhin die Lebensmittelsituation nicht so gravierend. Ich hab mich zu keinem Zeitpunkt unbehaglich gefühlt.
Aber die Meldungen aus Japan "strahlen" nun sehr wohl bis in mich hinein. Seit dem Wochenende bin ich von einer seltsamen Unruhe erfasst und kann mich über nichts richtig freuen.

diefrogg - 16. Mär, 15:20

Da hatten Sie damals...

ja Glück! Ich glaube, als Schwangere hätte ich mir grosse Sorgen gemacht. Aber vielleicht ist es ja genau diese Fähigkeit zur Zuversicht, die einigen von uns das Über-die-Runden-Kommen am Schluss überhaupt ermöglicht. Kommt noch dazu: Je mehr Medien man nutzt, desto grösser werden Katastrophen, vor allem die Unsichtbaren.
Täuschblume - 16. Mär, 15:56

Am 21. März ist wieder Welt Downsyndrom Tag.
Steht unter dem Motto Freude am Leben und die Webseite zeigt viele fröhliche Downsyndrom Kinder.
Ist etwas für das Gemüt.

Walter B - 16. Mär, 21:59

Ich glaube auch, dass die Katastrophe in Japan "die Grundfesten unserer westlichen Zivilisation erschüttert". Denn beim Unglück damals in Tschernobyl konnte man seine Technikgläubigkeit weiter am Leben erhalten, indem man sich – vielleicht nicht einmal so ganz bewusst – darauf stützte, dass es ja ein "Schrottreaktor" war. Zudem wurden generell die sowjetische Technik und auch Fähigkeit zur Krisenbewältigung stark angezweifelt. Diesbezüglich sind die Japaner, glaube ich, eher vorbildlich. An den Fähigkeiten und am Willen fehlt es nicht. Und trotzdem wirken alle (nicht nur die Japaner) eher hilflos angesichts der Verkettung unglücklicher Umstände – und angesichts der unglaublichen Zerstörungskraft des Spaltmaterials.

Anderseits ist unsere westliche Zivilisation in manchen Belangen durchaus in einem Zustand, der Erschütterung – und vielleicht eine Wendung zum Besseren – geradezu herausfordert.

Darüber soll allerdings nicht das unglaubliche Leid der JapanerInnen vergessen gehen.

rosawer - 17. Mär, 11:01

Nichts gelernt!

Was mich dieser Tage bewegt, ist, dass wir wohl aus der Geschichte nichts gelernt haben, wieso sollte sich dann jetzt irgendetwas ändern!? Hiroshima, übrigens auch in Japan, war doch ein klarer HInweis. Und Tschernobyl. Und jetzt Fukushima. Da ich in Deutschland wohne, ärgere ich mich zusätzlich über eine scheinheilige Regierung, die jetzt plötzlich Atomkraftwerke abschalten lässt, da eine Sicherheitsüberprüfung stattfinden soll. Es geht doch gar nicht um Sicherheit, sondern um Kohle. Nicht um die Zukunft, sondern um Reichtum, oder vielleicht auch nur um den Versuch, Wohlstand zu sichern. Und das, indem auf bestehende Strukturen beharrt wird, anstatt in den Vorwärtsgang zu gehen. Denn eines ist ja schon längst, schon so absolut klar: Unser Wohlstand, den wir auf dem Rücken der Natur, der 'anderen' zwei Dritteln der Erde und unserer Kinder erbeutet haben, der ist längst nicht mehr zu halten. Solche Dummheit lässt mich verzweifeln. Oder zynisch werden.
diefrogg - 17. Mär, 18:14

@Walter:

Nein, das sollte es tatsächlich nicht. Die Bilder, die man in den Nachrichten sieht, gehen auch mir sehr nahe. Da muss ich zum Glück nicht mehr Journalistin sein und einfach funktionieren...

@rosa: Ich glaube, wir erleben jetzt eins zu eins, wie volatil die Politik in so genannten Demokratien ist. Die Politiker merken jetzt, dass das Volk Taten sehen will und gibt ihm Taten. Dann wartet man ein bisschen ab und sieht zu, wie sich die Stimmung entwickelt. Was sollte man auch sonst tun? Wenn die Merkel jetzt sagen würde: "Leute, wir warten einstweilen ab - denn bei uns kann sowas nach menschlichem Ermessen nicht passieren, das haben wir vorher alles schön durchgerechnet..." Wer würde das den hören wollen?

Zu: "Unser Wohlstand ... ist längst nicht mehr zu halten". Diese Erkenntnis setzt sich in der Schweiz zurzeit zusehends durch. Leider auch im bürgerlichen Lager. Die Folge: Sozialabbau, weiterer Raubbau an der Natur. Die Verteilkämpfe, die diese Erkenntnisse verursacht, würde ich lieber nicht am eigenen Leib erleben. Ich tue es aber. Mein Reallohn sinkt seit Jahren.
Walter B - 17. Mär, 18:29

Ist es denn wirklich Wohlstand, den wir brauchen? Oder nicht vielmehr Lebensqualität und ein Leben in Würde – was nicht dasselbe ist. Ich denke, ein Leben in Bescheidenheit und Würde ist viel mehr Wert als ein Leben in Wohlstand – und kostet auch nicht so viel. Aber auf die Würde würde (!) ich zuletzt verzichten.
diefrogg - 17. Mär, 19:04

@ Walter

Was heisst Lebensqualität? Was heisst Würde? Ist es würdig, wenn ich zusehen muss, wie Banker abgarnieren, derweil meine Arbeitskraft - so loyal, intelligent und engagiert ich sie auch anwende - immer weniger Wert ist? Ein weites Feld. Die Frage nach dem Glück, letztlich. Ja, genau. Auch die wirft dieses Unglück wohl auf.

Nochmal @rosa: Versteh mich bitte nicht falsch. Ich weiss, dass ich materiell immer noch besser dastehe als die grosse Mehrheit auf diesem Planeten. Ich würde das auch gerne ändern, wenn ich denn wüsste, wie.
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