16
Sep
2010

Standfeste Freundin

Meine akademisch tätigen Freunde reisen zurzeit wie die Verrückten. English war gerade in Hawaii, mein Bruder in Istanbul. Acqua scheint in Liverpool zu sein. Und Veronika hat mir neulich genüsslich von ihren Ausflügen nach Helsinki und Heidelberg erzählt.

Nur ich sitze hier im Städtchen fest - mit einem Job, der meine Ohren schonen soll, wenig versprechenden Perspektiven und schon etwas blassgelb um die Nase. Das kommt vom Neid. Und von den Status-Ängsten. Ich war auch mal Akademikerin. Nicht, dass ich es je wieder sein möchte. Aber Liverpool oder Istanbul... das klingt richtig fies.

Ich brauchte Trost und rief meine Freundin Helga in Deutschland an. Sie ist zwar stolze Trägerin eines Doktortitels der Literaturwissenschaften, aber bei ihr brauche ich keine Status-Ängste zu haben. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mittlerweile - gerade so knapp - als Nanny. "Das ist das beste, was ich seit vielen Jahren getan habe", versichert sie mir jedes Mal, wenn ich sie anrufe. Sie scheint ganz gut mit wenig Geld zurecht zu kommen. "Weisst Du, ich habe ja mal richtig gut verdient." Sie arbeitete im Marketing. "Wenn ich eine Prada-Tasche wollte, dann kaufte ich mir eine Prada-Tasche", sagt sie. Jetzt sei ihr das nicht mehr wichtig. Und reisen, nein, das tue sie ja sowieso nicht gerne. Sie sei ganz froh, einen Grund zu haben, nicht mehr zu verreisen.

Und überhaupt: Sie sei mit den Kindern im Wald gewesen. Und da habe sie eine Blindschleiche gesehen - und einen Tintenfisch-Pilz! Grossartig sei das gewesen.

Doch diesmal sah es so aus, aus brauche sie vielleicht selber Trost: Der Vater "ihrer" Kinder hat seinen Job verloren. Klar, dass die Nanny jetzt gehen muss.

Ein bisschen verzagt klang sie schon. "Ich muss mir ja wieder einen Job suchen. Aber weisst Du, es gibt Dinge, die ich einfach nicht mehr tun will. Als ich noch im Marketing war, da stand ich an jeder Sitzung neben mir und dachte: 'Das bin doch gar nicht ich! Mein Gott: Was mache ich denn da?!'" Da wolle sie nicht mehr hin. Da verzichte sie gerne auf Prada-Handtaschen! Da streiche sie lieber den Gartenzaun ihrer Mutter.

Überhaupt: Das Leben sei doch viel zu kompliziert geworden! Sie sagte ein paar Dinge, die ein bisschen ähnlich klangen wie dieser Kommentar von rosawer neulich. Eben habe sie ein Inserat gelesen: "'Engagierte Putzfrau gesucht'! Ich meine: Da sträuben sich bei mir die Nackenhaare, wenn jeder um jeden Preis nach Höherem streben muss. 'Engagierte Putzfrau!' Kann man denn nicht einfach Putzfrau sein und seinen Job machen?! Will ich mit so einer Gesellschaft etwas zu tun haben?!"

Wir diskutierten hin und her. Nach mehr als einer Stunde hatten wir die Sache ausdiskutiert: "Ach, Helga", sagte ich, "ich bin ganz sicher: Du fällst schon wieder auf die Füsse!"

Da sagte sie: "Ich bin ganz sicher, dass ich sowieso auf den Füssen stehe!"

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la-mamma - 16. Sep, 20:40

der letzte satz ist (be)merkenswert! schön, wenn man so eine freundin hat.

romeomikezulu - 16. Sep, 20:54

Ja, ich möchte auch gern einmal dahin kommen.
Dahin, dass man sich freier bewegen und entscheiden kann und nicht immer die eigene wirtschaftliche Sicherheit (eigentlich doch nur eine Gewöhnung an den erreichten status quo) vor Augen hat.
Ich denke, da sind wir hierzulande ein wenig "speziell" ;-)

In anderen Ländern ist es gang und gäbe, alle paar Monate -spätestens Jahre- sich zu verändern.
Und zwar SO zu verändern, dass der Lebenslauf daraus jedem hier ansässigen Personaler die Haare zu Berge stehen lassen würde ;-).
Das ist auch eine Frage der gesellschafltichen Akzeptanz, dass ein Marketingbereichsleiter nie wieder richtig unterkommt, wenn er sich mal für 2 Jahre Entwicklungshilfe-Arbeit entschieden hatte.
Anderswo denk man da anders.

Aber trotzdem, es gibt sie ja - die Menschen wie Helga. Die auch HIER den Mut zur Veränderung haben. Es GEHT also :-).

diefrogg - 16. Sep, 21:27

Im Marketing...

muss das besonders gnadenlos sein. Im Journalismus gehts besser. Da sind Leute immer gefragt, die sich hinstellen können und funktionieren. Das ist wenigstens eine gute Nachricht. Dumm ist, wenn man nicht funktioniert. Aber ich glaube, auch damit kann man leben lernen.
Walter B - 16. Sep, 21:16

Eine schöne Lebenseinstellung

Ihrer Freundin, Frau Frogg, und eine vernünftige dazu. Wenn solche Standfestigkeit weiter verbreitet wäre, würden sich nicht die Prada-Handtaschen vermehren und die Blindschleichen aussterben, sondern umgekehrt ...

mia_ivinfo - 17. Sep, 14:03

Was für ein schönes Bild: weniger Prada, mehr Blindschleichen. Seufz.
diefrogg - 17. Sep, 15:03

Ja, wirklich!

Es hat mich gestern so verblüfft, dass mir das Kommentieren weggeblieben ist. Und das will etwas heissen...
acqua - 18. Sep, 22:26

Mir hingegen fallen dabei Handtaschen aus Blindschleichen- statt Schlangenleder ein... Spielverderberin.
diefrogg - 19. Sep, 10:42

Aber, aber, Acqua!

Geht das überhaupt?! Wir wollen hoffen, dass die Haut von Blindschleichen zu zart für so etwas ist. Überheupt: Die Vorstellung von Taschen aus Blindschleichen-Leder fühlt sich zum Glück nicht sehr Appetit anregend an.
acqua - 19. Sep, 17:44

Nö. Das geht glaubs nicht. Aber das Bild hat sich mir halt aufgedrängt.
acqua - 18. Sep, 22:24

Um den Neid in Massen zu halten, fühlte ich mich jetzt fast genötigt zu erzählen, dass ich die halbe letzte Woche halb krank war und dass ich nach dem gestrigen Rückflug erstens fast vierundzwanzig Stunden lang auf das Wiedererwachen meines ertaubten linken Ohres und zweitens auf die Hauslieferung meines verspäteten Koffers warten musste. Aber auch das wird dir alles nur ein müdes Lächeln abringen. Deshalb gebe ich es vielleicht doch besser direkt zu: Ja es war eine schöne Reise und ja ich habe Glück mit meinem Job. :-)

diefrogg - 19. Sep, 10:41

Ertaubtes linkes Ohr?!

Um Gottes Willen! Hoffentlich war die Genesung nachhaltig! Natürlich musst Du mir möglichst bald ALLES über Liverpool erzählen! Ich werde Dich mit Terminvorschlägen für ein Mittagessen überfluten!
acqua - 19. Sep, 17:43

Don't worry, luv! Das Ohr ist wieder offen. Der Druckunterschied war mir reingefahren. Die Terminvorschlagsflut erwarte ich freudigst.
seifenblasenpusterin - 19. Sep, 07:55

Ich mag deine Freundin Helga sehr. Viele Grüße von mir :)

diefrogg - 19. Sep, 10:44

Danke für die Grüsse :)

Ich bin immer noch etwas ambivalent solcher Genügsamkeit gegenüber. Ist sie nicht einfach die Akzeptanz einer Situation, die in einem gewissen Sinn unausweichlich ist?
mia_ivinfo - 19. Sep, 22:21

Aber Frau Frogg, was wäre denn die Alternative im Umgang mit mit einer unausweichlichen Situation? Eine unausweichliche Situation kann man ja nur akzeptieren, könnte man etwas anderes tun, wäre sie nicht unausweihlich? Oder habe ich da jetzt etwas furchtbar falsch verstanden?
seifenblasenpusterin - 20. Sep, 09:22

Nach bloßer Akzeptanz und Hinnahme einer unausweichlichen Situation klang es aber irgendwie nicht; jedenfalls nicht in deiner Beschreibung. Da klingt es nach einer aktiven und freien Entscheidung. Und nach bewundernswerter Konsequenz :)
diefrogg - 20. Sep, 14:54

@ seifenblasenpusterin

Also... ich bin mir da selber nicht ganz sicher. Jein, würde ich sagen. Wie so viele merkwürdige Lebenslagen scheint es sich um einen Prozess gehandelt zu haben, den man mit "halb zog es sie, halb sank sie hin", vielleicht annähernd umschreiben kann. Aus einer sich verkleinernden Anzahl Möglichkeiten hat sie, wie mir scheint, diejenige gewählt, mit der sie am ehesten leben konnte.

@ Mia: Zur Frage nach der Unausweichlichkeit: siehe oben. Du hast das natürlich nicht völlig falsch verstanden. Aber manche würden es als Missstand bezeichnen, wenn eine Frau Ende vierzig mit einem Doktortitel Kleinkinder hütet und dann auch noch arbeitslos wird. Linke würden sagen, da gäbe es einen Systemfehler. Rechte würden finden, die Frau müsse sich ein wenig mehr anstrengen. Als Betroffene muss man eine solche Situation durchaus nicht akzeptieren. Man kann:

- daran verzweifeln (die Du mit der IV-Situation in unserem Land vertraut bist, weisst Du wahrscheinlich, dass viele Leute das tun. Einige machen ab und zu einen Suizidversuch. Andere verschwenden ihre Energie mit aussichtslosen Versuchen, wieder in die Arbeitswelt hineinzukommen oder stürzen sich in sinnlose Projekte. Oder sie werden vor Verzweiflung noch kränker).
- Gleichartig Betroffene suchen und gegen den Systemfehler kämpfen

Natürlich finde ich die Gleichmut meiner Freundin bewundernswert. Ich fürchte, ich könnte eines Tages noch froh sein, sie zu haben.
mia_ivinfo - 20. Sep, 17:19

Ja, das ist natürlich die Frage, findet man sich mit der Situation ab und macht aus eigener Sicht «das Beste daraus» oder kämpft man gegen ein System, dass sich so schnell von heute auf morgen nicht ändern lässt... «Das Beste daraus» in Anführungszeichen, weil ja, wie du auch schreibst, wohl viele dies nicht als «das Beste» betrachten würden, was mich zu Frage führt: Darf man eigentlich heutzutage noch ungestraft NICHT das Beste aus sich/seiner Situation machen? Nach der anstehenden ALV-Revision MÜSSEN junge Arbeitslose Jobs auch «unter ihren Möglichkeiten» annehmen - aber wie sieht es denn aus, wenn ein Uni-Absolvent ganz freiwillig beschliesst, fortan als Lastwagenfahrer zu arbeiten? Heisst es dann nicht: Wofür hat der denn studiert? Welche Steuergeldverschwendung für dessen Studium?
Darf man glücklich sein, auch wenn man intellektuell und finanziell «seine Möglichkeiten nicht ausschöpft» (was auch immer das heisst)? Ist sowas im herrschenden Neoliberalismus nicht geradezu «unmoralisch»?
diefrogg - 20. Sep, 22:15

Das war genau...

die Frage, die mich die ersten sechs Monate dieses Jahres beschäftigt hat. Darf ich als Frau mit einem Uni-Abschluss überhaupt ein Armuts-Risiko eingehen? An manchen Tagen war es auch die Frage: Ist es gerecht, wenn ich meiner Krankheit wegen auf einen Wohlstand verzichte(n) (muss), den ich mir theoretisch selber schaffen könnte. Ich sprach darüber mit einem Bekannten, der sich ein bisschen auf diese ganze IV-Debatte versteht. Der sagte: "Ja, der Gesetzgeber findet das richtig."

Aber ich werde das ungute Gefühl nicht los, dass der Gesetzgeber im Moment vermeidet, gewissen Realitäten ins Auge zu blicken.
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