13
Sep
2010

Tabletten, Tabletten, Tabletten

Sie heisst Rebekka, und wir haben uns seit vielen Jahren nicht gesehen. Jetzt sitzen wir zusammen auf der Münster-Plattform in Bern. Es ist ein irrsinnig schöner Frühherbst-Tag. Ihre bildhübsche Vierjährige spielt selbstvergessen im Kies, da erzählt sie es mir hinter vorgehaltener Hand: Eines Tages konnte sie nicht mehr schlafen. "Wenn es Abend wurde, geriet ich in Panik. Im Bett lag ich da mit rasendem Puls. Mit der Zeit war ich total erschöpft. Manchmal schien mir die Aufgabe, ein Mittagessen zu kochen, monströs und unlösbar." Statt dessen sass sie da und weinte. Den ganzen Tag, wenn die Kinder es nicht merkten. Ihr Mann schickte sie schliesslich zum Psychiater. Der gab ihr das Übliche: Zoloft, Remeron, Temesta.

Mein Mund fiel auf. Rebekka war für mich immer die Verkörperung von Selbstkontrolle und Eleganz gewesen. An der Uni waren wir ein ungleiches Paar: Sie die Klasse-Frau, ich der Freak. Ich wusste nie, ob ich sie etwas oberflächlich finden oder furchtbar beneiden sollte. Sie heiratete einen etwas steifen, aber durchaus liebenswürdigen Berner Anwalt. Fand einen Job an einem Berner Gymnasium. Hatte zwei Töchter. Verschwand von der Bildfläche. Und jetzt das.

Wenige Tage später, ein Apéro unter Kastanienbäumen mit meiner Kollegin Franziska. Irgendwann kommen wir auf das Burnout zu sprechen, das sie vor einer Weile hatte. Sie ist freie Journalistin und verdient gut, wenn auch unregelmässig. Ihrem Mann hat die Krise in der Branche das Geschäft ruiniert. Der Sohn pubertierte. Das Burnout hatte sie. Sie bekam das Übliche: Remeron und Temesta.

Ich kann beim Thema gut mitreden. Während meiner Hörstürze im letzten Herbst schlief ich nächtelang nicht. Panik verfolgte mich 24 Stunden. Als ich wieder einmal im Spital auftauchte, sagte ich zum Assistenzarzt, der gerade Dienst hatte: "Am liebsten wäre es mir, wenn sie mich für fünf Tage ins Koma versetzen könnten." Er begriff und gab mir fünf Temesta mit auf den Weg, später ein Dauerrezept. Wahrscheinlich hat er mir das Leben gerettet. Mein Hausarzt gab mir Remeron dazu - weil Temesta süchtig macht. Im Moment nehme ich beides. Das Remeron in einer grossen, das Temesta nur noch in einer winzigen Dosis. Ich bin immer noch zuversichtlich, den Entzug irgendwann ganz zu schaffen.

Wenn ich die Fahrgäste in einem Zug anschaue, dann frage ich mich in letzter Zeit oft: Wie viele von diesen scheibar so normalen, so geschäftigen Leuten kommen nur mit Tabletten durch die Nacht?

Was ist früher mit solchen Leuten passiert?

Edit: Natürlich gehört dieser Song zu diesem Eintrag:



Ich habe glatt vergessen, was für ein flotter Song das ist!

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walküre - 13. Sep, 20:02

Was meinen Sie mit "früher" ? Es hat zu jeder Zeit Substanzen gegeben, die in der Lage waren, Einfluss auf die menschliche Psyche zu nehmen. Ansonsten sehe ich heute eine kritischere Auseinandersetzung mit dieser sensiblen Thematik - im Gegensatz zu etlichen Jahrzehnten davor; als ich ein Kind war, nahmen beispielsweise so viele Frauen in dem ländlichen erzkatholischen Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, Schlaftabletten, dass es mir völlig normal schien, dass erwachsene Frauen ohne solche Substanzen nicht über die Runden kommen ...

rosawer - 14. Sep, 09:37

meine Grossmutter,

so habe ich vor ein paar Wochen von meinem Cousin gehört, ist 1960 mit 50 Jahren an Medikamentenmissbrauch gestorben. Meine Mutter hat 20 Jahre lang Lexotanil genommen. Dann kam ein kalter Entzug, sie hat es geschafft. Manchmal, aber der Preis ist sehr hoch. "Mother's little helpers". Für mich gehört es zum Feminismus der 70er und 80er Jahre, der zu einer Sensibilisierung führte: der Durchsetzung von Normen zu Lasten von Frauenleben wurde die Anerkennung der Verschiedenheit von Frauenleben entgegengesetzt. Frauen sollten nicht mehr durch Abhängigkeitsverhältnisse zum "Funktionieren" gezwungen sein. Aber zunehmend beobachte ich, wie der Druck zum "Funktionieren" wieder enorm angestiegen ist. Heute geht es darum, bei höchster Individualität gleichzeitig höchst "marktförmig" zu sein. Markt verstehe ich dabei als umfassend: privat und beruflich, gesellschaftlich und individuell. Eine kapitalistische Durchdringung bis ins Innerste und Intimste des Menschen.
Bei Kindern ist das sehr gut zu beobachten: Wer nicht angpasst ist, wer in der Klasse auffällt, wer dann nicht gute Noten bekommt - der bekommt gleich Ritalin. Man kann sich als Eltern schon dagegen wehren - aber dann ist man selber schuld, wenn das Kind es nicht ins Gymnasium schafft, wenn das Kind keine gute Matura macht, wenn das Kind dann keinen guten Job kriegt ....
diefrogg - 14. Sep, 13:07

@walküre: Da hat sich das katholische Milieu meiner Kindheit offenbar anders ausgewirkt. Es mag sein, dass bei der einen oder anderen Nachbarin Valium ein Thema war. Wenn es tatsächlich so war, dann wussten wir es nicht. Denn Thema "Mother's little helpers" war in unserer Umgebung höchstgradig tabu. Auch glaube ich nicht, dass meiner Urgrussmutter Medikamente zur Verfügung standen, als in den dreissiger Jahren (!) ihr Mann abhaute, nie Alimente zahlte, und sie buchstäblich hungerte, damit ihre vier Kinder zu essen hatten. Wahrscheinlich war nicht einmal genügend Geld für die eine oder andere Flasche Klosterfrau Melissengeist oder ein mittleres Besäufnis da. Dasselbe gilt für meine Grossmutter väterlicherseits, die erleben musste, dass ihr Mann auf dem gemeinsamen Bauernhof bankrott ging. Beide Frauen starben, bevor sie 60 waren.
@rosawer: Ja, ok, das gabs. Auch eine Grossmutter von Herrn T. war für ihren hohen Treupel-Konsum berüchtigt. Sie starb nach einer langen Demenz-Erkrankung. Die Familie vermutet heute, die Demenz sei Folge ihres Medikamenten-Konsums gewesen.
Deine Analyse von Individualität und Marktfähigkeit bringt vieles auf den Punkt, was mir im Moment so durch den Kopf geht.
@beide: Es ist eine Tatsache, dass der Absatz von Psychopharmaka in den letzten Jahren markant gestiegen ist - auch, weil die Medikamente besser geworden sind. Ich habe vor ein paar Jahren einen Bericht darüber geschrieben, kann mich aber an keine Zahlen mehr erinnern. Die Ärzte verschreiben Tabletten heute mit besserem Gewissen, und das ist zweifelsohne für viele ein Segen. Aber gleichzeitig beginne ich mich zu fragen, ob nun doch die Visionen von George Orwell ("1984") und Aldous Huxley ("Brave New World") Wahrheit zu werden beginnen. Bei beiden Autoren gehört zum modernen Leben selbstverständlich der Konsum von Antidepressiva.
steppenhund - 14. Sep, 23:42

Ich betrachte das einmal von der männlichen Seite.
Vor zwanzig Jahren hatten wir in der Toastmasters-Gruppe zwei Mitglieder, die bei Eli Lilly arbeiteten. Manche ihrer Probereden handelten von Prozac, das damals gerade "in" oder in Einführung war - inklusive all der damit verbundenen Diskussionen.
Mich hatte das Thema nicht sonderlich interessiert. Irgendwie ignorierte ich die ganze Materie.
Vor 4 Jahren wurde bei mir ein beginnendes Burnout diagnostiziert. (inklusive der damit verbundenen Depression) Ich bekam irgendein Antidepressivum. "Irgendein" deswegen, weil ich mittlerweile schon längst vergessen habe, wie es hieß. Ich weiß nur, dass man die Dinger nicht so einfach absetzen kann. Es hieß, man müsse sie mindestens 6 Monate lang nehmen. Bei der frühesten Gelegenheit trachtete ich danach, dieses Medikament abzusetzen.
Ich habe nie in meinem Leben ein Schlafmittel genommen. (Außer vielleicht im Spital ohne mein Wissen.) Ich schlafe tatsächlich seit einigen Jahren sehr schwer ein. Ich bin überzeugt, dass es besser wäre, regelmäßigen Sex zu haben. Aber das kann ich nicht mehr so leben wie in früheren Jahren. Ich persönlich lehne es strikt ab, Schlafmittel zu nehmen. In den seltensten Fällen sind Schmerzmittel zugelassen, wie damals bei der beginnenden Nierenkolik, die in Belgrad anfing.
Heutzutage habe ich kaum Migräne oder Kopfschmerzen, was vermutlich mit der gestiegenen Qualität von Wein abhängt. Doch selbst wenn ich einen Kater hatte, habe ich nichts genommen.
Gut, was will ich jetzt damit sagen? Meine Schwester, eine Ärztin, nimmt sehr wohl die entsprechenden Mittel und verschreibt sie auch. Sie argumentiert, dass es für den Organismus schonender ist, ohne Schmerzen mit Medikament als mit Schmerzen ohne Medikament zu leben. Ich sehe das durchaus ein. Ich bin einfach in der glücklichen Lage, dass ich mich da noch nicht nach der Decke strecken muss. Kopfschmerzen bekomme ich meditativ weg. Ich konzentriere mich auf den Punkt, wo es am meisten weh tut, nach einer halben bis zu einer ganzen Stunde ist der Schmerz weg.

Ich mag keine Medikamente (außer mein Blutdruckmittel, das fresse ich mit Vergnügen.) Und ich kann nicht einmal sagen, dass ich es aus drogenablehnenden Gründen tue. Schließlich habe ich mich oft genug in meinem Leben besoffen.

Es ist vermutlich eher die Angst, dass ich nicht nachvollziehen kann, was psychogene Pharmaka mit mir anstellen. Ich verstehe es nicht und daher macht es mir Angst. Und ich glaube niemandem von der Pharmabranche, dass irgendetwas total sicher ist. Das hat man bei Contergan auch gesagt. In der heute schnelllebigen Zeit glaube ich nicht, dass es ausreichend aussagekräftige Langzeittests gibt.

Und doch geht diese ganze Eloge glatt am Thema vorbei. Warum gibt es Burnout? Gab es das früher ebenso häufig oder ist es ein Resultat veränderter Lebensbedingungen, erhöhter Ansprüche, die wir an uns selbst stellen? Das ist doch der eigentliche Punkt an der Sache. Funktioniert haben die Leute früher auch. Mit 60 und mehr Arbeitsstunden, unter schlechteren Bedingungen, vielleicht mit Burnout, aber keinem solchen, dass bis zum Selbstmord treibt.

Wenn wir heute Medikamente brauchen, um unsere Zeit überstehen zu können, dann haben wir etwas falsch gemacht. Grundfalsch. Da habe ich nur Mitleid mit den Menschen, die wirklich von den Medikamenten abhängen.
Richtig kann das aber nicht sein!

diefrogg - 16. Sep, 17:10

Na, dann wünsche ich,

dass Sie nie mehr in die Lage kommen, wo Ihnen jemand ein solches Medikament verschreiben will! Ihre Sichtweise ist wahrscheinlich eine typisch männliche. Es ist ja bekannt, dass Männer in Stress-Situationen eher dem Alkohol zusprechen, Frauen den Tabletten. Was offenbar aus männlicher Sicht auch Sinn macht. Die Folgen übermässigen Alkoholkonsums sind ja - im Gegensatz zur Langzeitwirkung von Antidepressiva - sehr gut erforscht! (Wobei ich Ihnen keinesfalls übermässigen Alkoholkonsum unterstellen möchte. Ich kenne aber Männer, bei denen der Alkohol in Stress-Situationen zum Problem werden kann).

Was die Tabletten betrifft, so gilt für mich zumindest: Okay, es kann sein, dass ich in 20 Jahren gaga bin. Aber ehrlich gesagt: Lieber erst in zwanzig Jahren als in zwei Wochen!
turntable - 15. Sep, 23:47

immer einen passenden song auf lager, die werte Diefrogg;-)
grüße

diefrogg - 16. Sep, 17:10

Tja, frau frogg...

hatte diesmal ein bisschen Hilfe von netten Kommentatorinnen!
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