28
Sep
2010

Gefährliche Musik

YouTube und iTunes haben uns ein Universum aufgemacht! Wir älteren Semester hören heute Musik frei Haus, von der wir nie zu träumen gewagt hätten, dass wir sie einmal schnell an einem Abend herunterladen würden. Klar, diese Segnungen der Technik bringen Leute um Geld, die es eigentlich verdient hätten. Aber die grossen Musik- und Technologiekonzerne tun mir mässig leid. Ich meine: Ich habe nachgezählt. Ich habe in meinem 45-jährigen Leben ungefähr vier Generationen Musiktechnologie erlebt. Wer à jour bleiben wollte, musste im Schnitt alle zehn Jahre seine Infrastruktur auswechseln: Plattenspieler Mono, Plattenspieler Stereo, CD-Gerät, MP3-Player.

Und viel Sound ging verloren - weil der Plattenspieler kaputt ging. Weil es die alte Scheibe nicht auf CD gab. Oder weil kein Geld da war, neue Geräte zu kaufen.

Spült das Leben einem diese alten Konserven irgendwann plötzlich wieder ans Ohr, passieren zuweilen beängstigende Dinge. Es ist, als wollten sich die vergessenen Tonträger rächen.

Ich zum Beispiel hatte neulich ein seltsames Zusammentreffen mit Bruce Springsteen.

Ich muss dazu anmerken, dass ich Bruce Springsteen schon früher ein bisschen misstraut habe. Es gab mir bei ihm immer ein bisschen zu viele Vietnam-Veteranen, zu viele Schiessereien, zu viele nassgeschwitzte Bettlaken. Ich finde, der Mann nimmt sich einfach zu ernst. Kein Wunder, dass er sich für Parodien geradezu aufdrängt.



Die Jahre haben diesen Eindruck noch verstärkt. Dennoch bin ich kürzlich bei meinen Streifzügen auf YouTube bei ihm hängen geblieben. Und ich erinnerte mich: Ich hatte doch Ende der Achtziger mal eine Kassette mit einer halben Platte von Bruce Springsteen! Ältere Leute wissen noch, was Kassetten sind. Die Kassette hielt sich als Tonträger lange, weil sie billig und praktisch war. Man konnte darauf Platten von Freunden aufnehmen und sie dann im Zug auf dem Walkman hören.
Das tat ich mit meiner Springsteen-Kassette Ende der achtziger Jahre. Sicher zwei- bis dreihundertmal. Wenn ich am Wochenende von der Uni zu meinem damaligen Liebsten fuhr. Es waren unstete Jahre. Ich hatte wenig Zeit für Musik.

Spätestens 1993 verschwand die Springsteen-Kassette aber aus meinem Leben. Ich fuhr weniger Zug und konnte mir endlich ein CD-Gerät leisten.

Am Samstag wollte ich sie mir wieder mal anhören. Ich fand sie sogar. Und meine Stereo-Anlage aus den Neunzigern verfügt erst noch über ein Kassettendeck. Also: Nichts wie Kassette einwerfen und Knopf drücken. Doch jetzt zeigte sich: Das Kassettendeck hat inzwischen das Zeitliche gesegnet. Wahrscheinlich aus Frust. Weil es seit fünfzehn Jahren niemand mehr gebraucht hat.

Aber ich hatte ja noch mein Diktiergerät, auf dem Kassetten laufen. Ich habe es als Journalistin bis vor einem Jahr gelegentlich gebraucht - derweil meine Kollegen längst trendigere Dinger hatten. Ich warf die Kassette ein und holte die Kopfhörer meines MP3-Players. Das Diktiergerät lief nur noch auf einem Kopfhörer, aber das machte nichts: Ich höre ja links sowieso nicht besonders gut.

So steckte ich mir das Diktiergerät Bruce Springsteen in die Küchenschürze und machte mich an der Abwaschmaschine zu schaffen. Es hatte keine Rausch-Unterdrückung. Naja, für einmal geht das.

Es handelt sich um eine Platte mit Live-Aufnahmen. "Down to the River" hat ein endloses Intro. Ein Intro mit einem schleifenden, todtraurigen Synthesizer im Hintergrund, und Bruce erzählt ein bisschen aus seiner Jugend: Wie er ständig mit seinem Vater herumstritt. Wegen seiner langen Haare. Wie er ein Aufgebot für den Krieg bekam. Wie er hinging und...

Ungefähr an diesem Punkt stand ich da mit meinem Diktiergerät in der Küchenschürze und brach in Tränen aus.

Ich hatte keine Ahnung, weshalb.
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