Daheim
Beim Kompost treffe ich Franz-Xaver. Wenn ich Franz Xaver überhaupt je treffe, dann beim Kompost. Er ist Chef der Kompost-Gruppe im Quartier meiner Eltern. "Wie geht es?" frage ich.
"Besser", sagt er mit Grabesstimme. Erst jetzt fällt mir ein, dass das eine verfängliche Frage ist. Letzte Woche fuhr mein Vater Franz-Xaver in die Notaufnahme - ein Altersgebrechen war ausser Kontrolle geraten, Blut floss reichlich. Ich drücke mein Mitgefühl aus. Ich bin mit Franz-Xavers Sohn durch diese Gegend gestreift, als sie noch eine Baustelle war. Franz-Xaver steht da und zittert. Der Alterstremor.
Es ist ein leuchtender Tag. Alles ist blau und golden. Die Zeit scheint stillzustehen, alles scheint stillzustehen.
Ich gehe weiter zum Haus meiner Eltern. Aus der Tür nebenan kommt Schorsch. "Wie geht es?" frage ich.
"Na, Du weisst wohl, was mit Hilde los ist", sagt er. Ja, ich weiss es. Hilde ist seine Frau, und sie weiss seit einem Monat, dass sie Krebs hat. "Also, Hilde ist seit gestern wieder im Spital. Wieder ein Absturz. Von der Chemo." Schorsch ist immer eine Autoritätsperson gewesen, ein Turm von einem Mann, stark, laut, integer. Und wie mein Vater schien er nie zu altern - ein Mittvierziger, seit ich mich erinnern kann. Jetzt ist er gealtert, um Jahrzehnte, scheint mir.
Ich gehe ins Haus meiner Eltern. Sie sind in den Ferien. Das Haus ist still und aufgeräumt.
Die Schriststellerin Zsuzsanne Gahse ist einmal hier in der Gegend gewesen. 1996 schrieb sie über ein Quartier hier: "Unterhalb der Weiden beginnen die Häuser, neue Häuser, die gerade angefangen haben, Häuser zu sein, und da gibt es Vorplätze, Gärten, Kinder, für die Kinder gibt es Fahrräder, Schlitten, Rutschen, Sandkästen, in den Gärten stehen die jungen Eltern. Sie werden an diesem Südhang wohnen bleiben, sie beginnen damit, ich kann ein Lineal nehmen und fünfzig Zentimeter für die nächsten fünfzig Jahre abstecken, in dieser Zeit werden die Eltern alt geworden sein, jetzt fangen sie ihr Leben an am Südhang. Ich weiss nicht, ob sie anfangen oder abschliessen."*
Hier bin ich aufgewachsen.
Ich erledige, was ich erledigen muss. Dann mache ich mich auf den Weg nach Hause. Nach ein paar Schritten kommt mir Iri entgegen, also Irene. Mit ihr bin ich zur Schule gegangen. Das heisst: Im Gegenlicht bin ich gar nicht sicher, ob es wirklich Irene ist, oder vielleicht ihre Tochter. Sie sieht genauso aus wie Iri vor 30 Jahren.
*Aus dem Kellnerroman.
"Besser", sagt er mit Grabesstimme. Erst jetzt fällt mir ein, dass das eine verfängliche Frage ist. Letzte Woche fuhr mein Vater Franz-Xaver in die Notaufnahme - ein Altersgebrechen war ausser Kontrolle geraten, Blut floss reichlich. Ich drücke mein Mitgefühl aus. Ich bin mit Franz-Xavers Sohn durch diese Gegend gestreift, als sie noch eine Baustelle war. Franz-Xaver steht da und zittert. Der Alterstremor.
Es ist ein leuchtender Tag. Alles ist blau und golden. Die Zeit scheint stillzustehen, alles scheint stillzustehen.
Ich gehe weiter zum Haus meiner Eltern. Aus der Tür nebenan kommt Schorsch. "Wie geht es?" frage ich.
"Na, Du weisst wohl, was mit Hilde los ist", sagt er. Ja, ich weiss es. Hilde ist seine Frau, und sie weiss seit einem Monat, dass sie Krebs hat. "Also, Hilde ist seit gestern wieder im Spital. Wieder ein Absturz. Von der Chemo." Schorsch ist immer eine Autoritätsperson gewesen, ein Turm von einem Mann, stark, laut, integer. Und wie mein Vater schien er nie zu altern - ein Mittvierziger, seit ich mich erinnern kann. Jetzt ist er gealtert, um Jahrzehnte, scheint mir.
Ich gehe ins Haus meiner Eltern. Sie sind in den Ferien. Das Haus ist still und aufgeräumt.
Die Schriststellerin Zsuzsanne Gahse ist einmal hier in der Gegend gewesen. 1996 schrieb sie über ein Quartier hier: "Unterhalb der Weiden beginnen die Häuser, neue Häuser, die gerade angefangen haben, Häuser zu sein, und da gibt es Vorplätze, Gärten, Kinder, für die Kinder gibt es Fahrräder, Schlitten, Rutschen, Sandkästen, in den Gärten stehen die jungen Eltern. Sie werden an diesem Südhang wohnen bleiben, sie beginnen damit, ich kann ein Lineal nehmen und fünfzig Zentimeter für die nächsten fünfzig Jahre abstecken, in dieser Zeit werden die Eltern alt geworden sein, jetzt fangen sie ihr Leben an am Südhang. Ich weiss nicht, ob sie anfangen oder abschliessen."*
Hier bin ich aufgewachsen.
Ich erledige, was ich erledigen muss. Dann mache ich mich auf den Weg nach Hause. Nach ein paar Schritten kommt mir Iri entgegen, also Irene. Mit ihr bin ich zur Schule gegangen. Das heisst: Im Gegenlicht bin ich gar nicht sicher, ob es wirklich Irene ist, oder vielleicht ihre Tochter. Sie sieht genauso aus wie Iri vor 30 Jahren.
*Aus dem Kellnerroman.
diefrogg - 11. Sep, 11:31
6 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
seifenblasenpusterin - 11. Sep, 17:37
Wie ich mein eigenes Erleben darin wiederfinde... dieses Gefühl von Verfall und Endlichkeit, das mich manchmal beschleicht, wenn ich am Ort meiner Kindheit bin. Dort hat sich in all den Jahren kaum etwas verändert - nur die Menschen, die alt geworden sind. Dieser Augenblick, wenn man das plötzlich merkt... fast gruselig. Viele Grüße an dich.
diefrogg - 11. Sep, 18:04
Ha, danke, Zora!
Ich freue mich, dass jemand diesen Text verstanden hat. Ja, gespenstisch, ganz genau.
Aber auf der anderen Seite hatte unter diesem goldenen Septemberhimmel auch alles seine fast schon poetische Richtigkeit. Trotz der Dramatik der Vorfälle - es herrschte ein Gefühl von Ordnung und Ruhe. Ich verstand es nicht.
Sei von mir auch herzlich gegrüsst!
Aber auf der anderen Seite hatte unter diesem goldenen Septemberhimmel auch alles seine fast schon poetische Richtigkeit. Trotz der Dramatik der Vorfälle - es herrschte ein Gefühl von Ordnung und Ruhe. Ich verstand es nicht.
Sei von mir auch herzlich gegrüsst!
Shhhhh - 12. Sep, 16:05
Durch Zufall habe ich einmal an der Zarge meiner Kinderzimmertür ein eingeritztes DG gefunden. Da wohnte ich längst nicht mehr in diesem Zimmer, vielmehr dient es heute der Unterkunft und Schlafstatt unserer Kinder, also den Enkeln meiner Eltern, die dieses Haus bewohnen. Vor meinen Eltern wohnten darin meine Großeltern, deren zweites Kind, mein Onkel, dieses Zimmer sein eigen nannte, bevor er auszog, das weiß ich wegen der Zarge, da hat er seine Initialen eingeritzt.
diefrogg - 13. Sep, 18:16
Ja, da hallen...
die Jahrzehnte durchs Haus! Das sind solche Momente, in denen man sich seinen Verwandten plötzlich viel näher fühlt - oder jedenfalls geht es mir jeweils so.
iGing - 16. Sep, 02:07
Ich habe meinen obigen Kommentar gelöscht (ohne zu wissen, dass Ihre Antwort dann mit gelöscht wird).
Weder wollte ich Ihnen jemals etwas vorwerfen noch Sie verletzen. Ich bitte um Entschuldigung!
Weder wollte ich Ihnen jemals etwas vorwerfen noch Sie verletzen. Ich bitte um Entschuldigung!
diefrogg - 16. Sep, 13:03
Kein Problem, Frau iGing!
Danke für Ihre freundliche Reaktion. Ich möchte Ihnen auf keinen Fall verbieten, sich hier in Diskussionen einzumischen. Sicher finden wir den richtigen Ton miteinander!
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