11
Nov
2012

Die Stimme am anderen Ende

Neulich habe ich meinen Schreibtisch aufgeräumt. Nur ein Gegenstand liegt noch unordentlich hier: mein alter MP3-Player. Ich kann mich nicht dazu überwinden, ihn wegzuräumen. Wenn ich es täte, wäre das wie ein Eingeständnis: Ich werde ihn lange Zeit nicht mehr brauchen - vielleicht nie mehr.

Denn man sollte sich von den letzten, geistreichen Einträgen der Frau Frogg nicht täuschen lassen: Gesundheitlich geht es mir nicht gut. Ich hatte Ferien und habe auf Besserung gehofft. Leider vergebens. Telefonieren ist für mich immer noch ein Abenteuer - und für die Person auf der anderen Seite auch. Werde ich sie annähernd verstehen? Werde ich ihre Stimme erkennen? Oder werde ich - gerade noch und wie durch Wolken - hören, dass auf der anderen Seite jemand spricht?

Beim Fernsehen komme ich nur noch hie und da ohne Untertitel zurecht. Solltet Ihr mich auf der Strasse antreffen, bitte schaut mich an beim Sprechen, redet deutlich und haltet die Hände nicht vor den Mund. Sonst verstehe ich Euch nicht.

Neulich habe ich die Gräfin getroffen, eine Bekannte. Sie hat Multiple Sklerose und tuckert in einem motorisierten Rollstuhl durch ihre Stadt. Sie ist nicht eine Frau, die ihre Tapferkeit vor sich herträgt. Sie wirkt verletzlich, manchmal verzweifelt. Nur wer ihr zuhört, lernt: Sie ist eine Kämpferin.

"Wie hast Du es aushalten gelernt, dass Du gewisse Dinge einfach nicht mehr kannst?" habe ich sie gefragt. Sie denkt kurz nach. Dann sagt sie ruhig: "Einfach Augen zu und durch."

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https://froggblog.twoday.net/stories/202637689/modTrackback

walküre - 12. Nov, 13:00

Ein Gedanke bei der Lektüre dieses Eintrags, auch in Anbetracht meines persönlichen Umfeldes:

In der Nähe der +/- 50 hat das Leben offenbar für die meisten Menschen ein paar recht überraschende Aspekte parat, die Gesundheit betreffend; so manches verliert dadurch seine bisherige Selbstverständlichkeit. Wenn ich wüsste, wie man damit gedeihlich umgeht, würde ich es kundtun, aber so verhält es sich - unerfreulicherweise - wohl dergestalt, dass jede/r für sich selber mit seiner gesundheitlichen Problematik zurechtkommen muss. Mitunter würde man sich einen Deus ex machina wünschen.

diefrogg - 13. Nov, 19:29

Ja, diese 50 Jahre!

Ich gehe allmählich auf sie zu - und beginne mich erstmals in meinem Leben zu fragen, ob ich es immer noch attraktiv finde, älter zu werden ;)

Neulich habe ich "On the Road" verfilmt gesehen - eine Geschichte, die die Blaupause für das Benehmen späterer Generationen von Jugendlichen hergestellt hat - kurz: Sex, Drogen und Rock'n'Roll, und alle wollen Künstler werden. Er zeigt auch, was danach passiert: Die einen werden bieder erwachsen - mit Kindern, Geldsorgen und langweiligen Jobs. Die anderen werden hip erwachsen - sie werden Künstler. Und dann gibts noch die, die ausbrennen und am Wegrand liegenbleiben - und denen die anderen dann immer nachtrauern.

Ich dachte immer, so mit 30 wisse man, zu welcher Gruppe man gehört. Aber gerade stelle ich fest, dass man auch mit 50 irgendwie am Wegrand liegenbleiben kann. Ist das dann - auf heutige Verhältnisse gemünzt - spätpubertär? Oder ist man mit 50 schon alt?

Hm. Versteht überhaupt jemand, was ich sagen will? Wenn nicht: Nicht nachfragen, bitte. Ich glaube, ich kanns nicht erklären.
walküre - 14. Nov, 17:49

Doch, ich glaube, ich verstehe Sie.

Dennoch gibt es auch vermeintliche Spießer, die ihr Leben mittig umkrempeln und diesen Vorgang sowie dessen Ergebnisse genießen, und genauso Künstler, die zu echten Spießern werden (furchtbar, und traurig irgendwie). Dass SIE am Wegesrand liegenbleiben werden, kann ich mir allerdings nicht vorstellen, dafür sind Sie à la longue zu kämpferisch und zu klug.
diefrogg - 15. Nov, 20:30

Ihr Wort in Gottes Ohr,

Frau Walküre! Und ich hoffe, er ist NICHT schwerhörig!
Falkin - 12. Nov, 18:28

"Einfach Augen zu und durch",

genau das ist, was mich Eugenie lehrte. Anders hätte ich mit der Erkrankung und ihren Ausartungen nicht umgehen können. Mittlerweile belüge ich meine Ärzte. Ich behaupte, alles gehe vorzüglich, die Schmerzen seien erträglich, die Bewegungsfreiheit nur noch unwesentlich eingeschränkt. Das sind die Vorraussetzungen für die Rückkehr an meinen Arbeitsplatz, in dessen letzten umstrukturierenden Vorbereitungen Arbeitgeber und ich stecken. Ich denke bis zu der Hand vorm Mund. Alles andere muss sich ergeben von dem Blickwinkel, der sich aus den winzigen Nanometern des zurückgelegten Weges neu ergibt.

...ich war stets eine sehr reflektierte und auch umständlich denkende Person. Stets wog ich "wenn.s" und "aber", bevor ich mich zu lange gedreht und gewendeten Entscheidungen durchrang. Die Spontanität war stets nur eine vorgegebene. Das exzessive Lebensaufen rückblickend ein Wegrennen. Mich hat die Krankheit ins Jetzt gemeißelt. Unwiderruflich.

Ich habe das Hadern, den Zorn aufgegeben. Auch legte ich es ab, Energie darauf zu verschwenden, mir selbst meine Beschränkungen nicht zu verzeihen. Es geht nicht anders, Frau Frogg. Davon bin ich überzeugt. Würde man allen anderen Widersachern, die in einer wüten das Ruder überlassen, geschähe nur eines: Seele und Geist würden in Mitleidenschaft gezogen.

Augen zu und durch. Von Herzen wünsche ich Ihnen Kraft und Mut an jeder kleinen Biegung, mit jedem noch so winzigen Schritt, den sie in und mit Ihrer Erkrankung bewältigen. Und ich verspreche Ihnen, wenn wir uns treffen, werde ich sie anschauen beim Reden, damit Sie alle meine Worte verstehen, auch jene zwischen den Zeilen.

Herzlichst. Wie Sie sicherlich wissen.

diefrogg - 13. Nov, 19:41

Ach, Frau Falkin!

Das ist ein grossartiger Kommentar! Vielen Dank! Und sich seine Beschränkungen verzeihen - ein guter Ratschlag. Trifft sehr genau ins Schwarze!

Dass Sie sich ihren Platz in der Arbeitswelt mit der Machete zurückerobern macht mir grossen Eindruck! Chapeau! Möge es gelingen und Sie auch glücklich machen! (Wobei ich inständig hoffe, dass Sie sich nicht zu viel zumuten - aber das können Sie selber besser beurteilen als ich hier vor dem Bildschirm ;)
Jossele - 13. Nov, 12:28

"Augen zu und durch", na ja, klingt gut, aber beim Über die Straße gehen tät ich den Rat nicht befolgen.

Es gibt Schicksal, willkürlich dahergewürfelt, und uns bleibt nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden.
So oder so, immerhin leben wir und haben teil.
Dazu gehört Mut, und den wünsche ich ihnen, so er sich zwischendurch dünn machen möchte.

diefrogg - 13. Nov, 19:43

:))

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