11
Mai
2011

Sie ist ständig müde

Meine Freundin Theres ist einmal ein Arbeitstier gewesen. Sie hatte ihre Abteilung bestens im Griff - auch den Chef. Bis sie vor einem Jahr schwer stürzte und sich am Kopf verletzte. Seither leidet sie an chronischer Müdigkeit und kann nicht mehr richtig arbeiten.

Man muss sie mit Samthandschuhen anfassen. Man darf sie nicht mal anlächeln und fragen: "Wie gehts?" Das heisst: Man darf natürlich. Aber man muss damit rechnen, dass sie als Antwort eine Gähn-Attacke bekommt. Oder diesen leidenden Blick, der in etwa sagt: Wenn ich dürfte, würde ich Dir für eine solche Frage die Fresse polieren!

Ich kenne dieses Gefühl. Ich bin auch schon krank gewesen und die Leute haben mich angestrahlt und gefragt: "Wie gehts?!" Sie wollten mit ihrem Lächeln Kraft und Lebensfreude vermitteln und einfach nicht verstehen: Ich empfand es als Diskriminierung durch das Schicksal, dass mein Gegenüber überhaupt so aufgestellt lächeln konnte - und als Antwort auch noch ein Lächeln zurückerwartete.

Ich kenne dieses Gefühl, und ich mag Theres. Und doch bin ich ein Jahr lang immer wieder in dieselbe Falle getappt. Ich habe sie gefragt: "Wie gehts?" - und sie dabei angelächelt.

Gestern habe ich endlich den richtigen Dreh gefunden. Ich begegnete ihr auf der Strasse. "Hallo Theres", sagte ich lächelnd. Dann neigte ich ernst, aber nicht zu teilnehmend den Kopf und fragte: "Gehts?"

Sie sagte: "Ja, es geht. Ich will nicht sagen, dass es gutgeht. Aber es geht."

Das war ok. Und ich kann dieses Wissende Kopfneigen im Umgang mit gesundheitlich angeschlagenen Menschen durchaus zur Nachahmung empfehlen. Ungefähr.

Und noch eine Empfehlung: Unbedingt in dieses Video reinschauen. Eine Wucht!

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Eugene Faust - 11. Mai, 17:46

Geht's? - tatsächlich ein Riesenunterschied1

(Video- wow!)

walküre - 11. Mai, 19:20

Wenn es mir langfristig gesundheitlich schlecht geht und ich von jemanden, der um meinen Zustand nicht weiß, gefragt werde, wies mir geht, empfinde ich das nicht als Affront. Woher soll dieser Mensch auch von meinen Problemen wissen ? Giftig werde ich allerdings, wenn diese Frage (in unverfänglichem, heiterem Plauderton, wohlgemerkt - eine besorgtes "wie gehts" hat wiederum andere Qualitäten) von jemandem kommt, der genau weiß, wie schlecht ich beinander bin. Dieses Verhalten lässt dann nämlich für mich genau zwei Rückschlüsse zu: Entweder der Mensch ist absolut oberflächlich, ich bin ihm komplett gleichgültig und hat von einem Mal aufs andere vergessen, dass ich gesundheitlich schwer angeschlagen bin, oder er will meinen Zustand nicht wahrhaben - aus welchen Gründen auch immer. Beides reizt mich extrem zu unfreundlichen Reaktionen.

diefrogg - 11. Mai, 20:47

Dieses lächelnde...

"Wie gehts" war für mich auch lange Zeit mit der Hoffnung verbunden, dass es ihr besser gehe - nicht mit Unkenntnis ihrer Lage oder gar Unwillen, sie zu erkennen. Vielleicht auch mit der Hoffnung, ich könnte mit einem Lächeln Mut machen. Falsch, kreuzfalsch. Das verstehe ich jetzt. Aber wie anerkennt man, dass es jemandem beschissen geht - und dass sogar ein Lächeln mit zu vielen Erwartungen verbunden ist? Das musste ich einfach noch lernen. Sowas gabs in meinem Repertoire bis jetzt nicht. Und mir ist auch niemand so begegnet, als ich selber krank war. Damals hat mich der krankhafte Optimismus meiner Umwelt manchmal schier tobsüchtig gemacht.

Ich bin froh, dass ich jetzt möglicherweise wenigstens für mich herausgefunden habe, wie das gehen kann.
walküre - 11. Mai, 20:57

Ja, die Hoffnung, es könnte dem betreffenden Menschen besser gehen, ist auch eine Möglichkeit. Nur, dass auch diese Hoffnung meines Gegenübers bei mir eine Abwehrreaktion hervorrufen würde, weil ich sie früher oder später als eine Art Erwartungsdruck empfinden würde. Ich HABE gefälligst endlich wieder gesund zu werden, damit die heile Welt meines Gegenübers wiederhergestellt ist oder gewahrt bleibt. Krankhafter Optimismus, genau das ist es.
(Ich weiß, ich bin mitunter ein sehr schwieriger Mensch.)
diefrogg - 11. Mai, 21:12

Das hat nichts...

mit "schwierig" zu tun. Ich glaube, es ist allgemein menschlich. Nur sind viele von uns nicht besonders geübt im Umgang mit kranken Menschen - oder willens, uns in ihre Lage zu versetzen.

Ich frag' mich grad: Was ist gesund? Manche Leute sind nicht im strengen Sinn gesund und halten doch eine Menge an mitmenschlicher Rohheit aus. Es hat wohl damit zu tun, wie gut man selber mit sowas umzugehen gelernt hat.
ConAlma - 16. Mai, 18:21

ich frage mich

warum ein lächeln mit erwartung verbunden sein soll? kann es denn nicht einfach ein GEBEN sein? ich mein, wenn ich einem nicht so fiten menschen ohne lächeln begegne, lindert das seinen zustand genauso wenig! lächeln kann doch auch wissend sein, freude der begegnung ausdrücken unabhängig davon, wie's um den anderen bestellt ist. freude über den menschen an sich.

diefrogg - 16. Mai, 21:20

Ja, das dachte ich auch.

Aber wenn man selber betroffen ist, wirkt es nicht so. Es ermüdet einen, angelächelt zu werden. Es macht einen wütend (man hat ja selbst keinerlei Grund zu lächeln). Es sei denn, es handle sich um ein besonders mildes, nicht zu hoffnungsfrohes Lächeln.
canela.wordpress - 18. Mai, 08:49

die massiven sah ich ein paar mal auf der bühne. auch dort sind sie spektakulär, finde ich zumindest. was das ansprechen von kranken oder gar menschen, die jemanden verloren haben, angeht: ich sage einfach, dass ich mich unsicher fühlen würde und nicht wisse, wie ich fragen soll. aber es mich interessieren würde, was in ihnen abgehe. ich wurde immer mit einem redeschwall belohnt.

diefrogg - 18. Mai, 18:25

Redeschwall ist...

ein gutes Zeichen. Immer. Darauf kann man sich, glaube ich, verlassen.
Täuschblume - 20. Mai, 17:51

a little late, but

das Video ist eine unglaubliche Wucht, gefällt mir.
Auf dem Heimflug gestern von Bristol sagte mein Begleiter zu mir:
Vielleicht sehen wir ja die Eiffelturmspitze aus den Wolken ragen.
Ich war geneigt das zu glauben ..... und nach dem Anschauen dieses Videos sowiso.

Für das Thema "wie gehts" glaube ich brauchts einen guten Spürsinn. Überhaupt das Fragen an sich kann ja bereits das Problem sein,
oder das Nichtfragen oder das Gefragtwerden oder das Nichterfragtwerden. Ich finde das eine sehr delikate Sache.

diefrogg - 20. Mai, 20:14

Oh! Da warst ja schon...

in Bristol! Ich habe in den letzten Tagen ein paarmal an Dich gedacht. Bin dann gespannt auf Deinen Reisebericht.

Natürlich glaube ich Dir jedes Wort, wenn Du dann behauptest, Du hättest tatsächlich den Eiffelturm gesehen ;)
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