23
Jan
2011

Sturmgewehr in der Küche

In den neunziger Jahren war ich in Basel Untermieterin bei einem Kumpel namens Nino. Ich übernachtete in seiner Wohnung zwei, drei Nächte die Woche. Damit ich nicht jeden Tag drei Stunden pendeln musste. Nino lebte weit weg und war manchmal am Wochenende da. Ich schlief im Wohnzimmer, er hatte ein Schlafzimmer. Ich sah ihn nie.

Das Haus lag in einer heruntergekommenen Gegend. Es wartete sterbensmüde auf den Abbruchhammer. Dieser konnte wegen der geplanten, neuen Schnellstrasse jeden Tag auffahren. Die Wohnungen waren billig und schlecht unterhalten. Ninos Absteige dämmerte wie eine verwahrloste Alte dem Ende entgegen. Zum Gefühl allgemeiner Verkommenheit trug bei, dass Nino sein Sturmgewehr* gut sichtbar in der Küche aufbewahrte.

Mich störte das nicht sehr. Als Journalistin teile ich mit vielen meiner Berufskollegen ein bemerkenswertes Desinteresse an Fragen der Innendekoration. Anders meine Freundin, die Stauffacherin. Sie ist Bildhauerin und puncto Raumgestaltung eine Autorität - ästhetisch wie moralisch. "Ich besuche Dich nicht mehr, wenn diese Knarre weiter in Deiner Küche rumsteht", sagte sie.

Also schrieb ich Nino einen Zettel: "Lieber Nino, Könntest Du bitte Dein Sturmgewehr aus der Küche nehmen? Es stört meine Gäste. Herzliche Grüsse und ein schönes Wochenende, Frau Frogg".

Das Gewehr verschwand, und ich vergass es sofort.

Wochen später kam mein Freund English zu Besuch. Er schlief im Bett von Nino im anderen Zimmer.

Am Morgen kam er in die Küche, in seinen Augen eine Mischung aus Schrecken und Faszination. Er sagte: "There's a gun in my bedroom." Aha. Nino hatte jetzt also sein Sturmgewehr im Schlafzimmer abgestellt.

English fürchtete sich echt ein bisschen. Ich meine: Er war mit Schweizer Gepflogenheiten nicht vertraut und kannte Nino ja nicht. Wie konnte er wissen, ob der Herr dieser verslummten Absteige nicht plötzlich auftauchen und ein bisschen herumballern würde?

Am 13. Februar stimmen wir darüber ab, ob unsere Männer ihre Waffen künftig im Zeughaus deponieren sollen. Ich werde Ja stimmen, ohne deswegen Herzblut zu vergiessen. Ich hatte zum Glück nie einen schiesswütigen oder suizidalen Mann, Freund oder MItbewohner. Ich finde einfach, Sturmgewehre in Privatwohnungen passten schon nicht in die neunziger Jahre. In unsere Zeit passen sie noch viel weniger.



* Für nichtschweizer Leser: Die meisten Schweizer Männer meiner Generation waren auch Soldaten. Damals mussten sie zwischen Einsätzen ihr Gewehr mit nach Hause nehmen. Heute kann mann es im Zeughaus lassen. Die Norm ist aber immer noch, dass mann es nach Hause nimmt.

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steppenhund - 23. Jan, 12:28

Irgendwie ist mir der Gedanke sympathischer, dass Schweizer ihr Sturmgewehr zuhause haben als Amerikaner, die jede mögliche Waffe einkaufen können.
Logisch ist das zwar nicht, aber anscheinend halte ich die Schweizer für vernünftiger als die Amis.

diefrogg - 23. Jan, 13:22

Ich glaube, es hat...

damit zu tun, dass man sich den Schweizer als grundbiederen, anständigen Typen in einem grundbiederen, anständigen Umfeld vorstellt. Dieser grundanständige Schweizer aus dem Mythos hat sein Gewehr nur deshalb zu Hause, weil unser Land als Kollektiv noch nicht bemerkt hat, dass der Zweite Weltkrieg vorbei ist und der Wehrmann deshalb nicht mehr allzeit wehrbereit sein muss. Kriminalität, Suizid, erweiterter Suizid,allgemeine Verwahrlosung haben in diesem Mythos keinen Platz. Aber die Zeiten ändern sich.

Den Waffen besitzenden Amerikaner dagegen kennen wir als schiesswütigen Bewohner des Mittleren Westens, der mit der Knarre unter dem Kopfkissen schläft und nichts dabei findet, das Recht auch mal in die eigene Hand zu nehmen. Oder als kokainsüchtigen Bewohner eines grossstädtischen Slums.

Sicher ist die Schweiz immer noch ein glückliches Land mit einer tiefen Kriminalität (nur Taschendiebstahl ist sehr verbreitet) und sozialen Spannungen, die man noch ignorieren kann, wenn man will. Aber ich finde, wir dürften hierzulande langsam aus dem Zweiten Weltkrieg aufwachen.

Aber danke für das Vertrauen, Herr Steppenhund ;)
Kulturflaneur - 23. Jan, 18:34

Trauriger Rekord

Leider, lieber Steppenhund, führt die hohe Verfügbarkeit von Waffen dazu, dass die Schweiz bei Suiziden mit Schusswaffen einen traurigen Rekord hält: 43,6 Prozent der 15- bis 24-jährigen Männer, welche Selbstmord begingen, setzen ihrem Leben mit einer Waffe ein Ende - deutlich mehr als in jedem anderen europäischen Land. Auch in der Statistik Morde mit Schusswaffen liegen wir auf Platz 19 weit vorne, hinter Portugal und Slovenien, aber noch vor Kanada und Deutschland. Das müsste nicht sein, die Knarren gehören ins Zeughaus und nicht in den Kleiderschrank, denn Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser!
diefrogg - 24. Jan, 17:29

Da fällt mir ein:

Vor Jahren habe ich einmal eine Suizidstatistik gelesen. Wahrscheinlich in den Achtzigern. Damals hatte die Schweiz die weltweit zweithöchste Suizidrate - hinter Japan. Man staunte, dass bei uns Suizide so häufig waren, fand aber keine Ursachen. Damals war die Heimabgabe der Schusswaffen in der Schweiz noch sakrosankt.

Kürzlich hat mir ein chronisch depressiver Mann erzählt, wie sich bei einer Depression ein Suizidwunsch aufbaut: Man fällt in eine Grube, sieht nichts Positives mehr, kann an kaum noch etwas anderes denken als Suizid. In einer solchen Phase sei es ein himmelweiter Unterschied, ob man zur Waffe im Estrich greifen könne - oder ob man die unendliche Anstrengung auf sich nehme, mit dem Auto zur nächsten Brücke zu fahren, die ja dann vielleicht auch noch mit Auffangnetzen versehen sei. Dazu reiche oft einfach die Kraft nicht. Zum Gang in den Estrich schon eher.

Seither frage ich mich, ob die hohe Suizidrate von damals mit der leichten Verfügbarkeit von Schusswaffen im Haushalt zusammenhing.
Wüstenfuchs - 24. Jan, 11:08

Herr Wüstenfuchs hatte seine Flinte auch immer im Haus. Gemütlich fand ich seine metallische Begleiterin nie und verbannt sie daher umgehend hinter den Schrank. Als der junge Wüstenfüchsen dann auf die Welt kam, entschloss sich der Vater das Sturmgewehr doch im Zeughaus zu deponieren und stiess dabei auf grosses Erstaunen und Unverständnis. Zwei Mal musste er darauf bestehen, dass er "ganz sicher sei" und das Gewehr gerne nicht mehr zu hause hätte. Der Mensch im Zeughaus hob irritiert eine Braue und nahm das Ding schliesslich doch in Gewahrsam. Da die Wehrpflicht des Herrn Wüstenfuchs kurz darauf endete, blieb sie auch dort und hat uns nie wieder besucht. Zum Glück.

walküre - 24. Jan, 18:34

Ich war einmal während meiner ersten Ehe an einem Punkt angelangt, an dem ich meinen damaligen Mann während einer Auseinandersetzung ohne mit der Wimper zu zucken erschossen hätte. Vor lauter Verzweiflung und ohnmächtiger Wut und damit das ganze Elend endlich ein Ende hätte. Ich bin heute sehr froh darüber, damals keine Waffe in Reichweite gehabt zu haben (Der Umgang mit Schusswaffen ist von der Handhabung her kein Problem für mich).

diefrogg - 25. Jan, 10:49

Oh ja, das Gefühl...

ohnmächtiger Wut kenne ich! Schiessen wäre mir allerdings nie eingefallen. Seltsam, nicht? Mein Vater besitzt einen alten Karabiner, der bei uns in einem Hausteil mit dem sinnigen Namen "Réduit" stand (wahrscheinlich werden nur Kenner der Schweizer Geschichte verstehen, wieso ich das sinnig finde). Ich sah das Gewehr jeden Tag, und doch wäre mir nie eingefallen, es in die Hand zu nehmen oder selber zu schiessen.

Als ich meinen Krimi schrieb, ging ich einmal mit dem Luftgewehr schiessen. Ich wäre wahrscheinlich keine schlechte Schützin. Aber es interessiert mich nicht.

Als ich einmal in einem Streit mit einem Mann wirklich die Fassung verlor, da habe ich... mein Gott, soll ich jetzt das erzählen...?... nein, lassen wirs.
katiza - 24. Jan, 19:35

Ich glaube auch, dass die Verfügbarkeit einer Schusswaffe leicht zu Kurzschlusshandlungen führen kann...in Sachen Freitod habe ich vor Jahren noch oft gehört, Österreich liege direkt hinter dem führenden Ungarn, damals existierten aber wohl für den übrigen Ostblock noch keine Zahlen. Aber die Schweiz verzeichnet mehr Suizide als Österreich und auch mehr mittels Schußwaffen.

Ich möchte keine Schusswaffe im Haus.

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