1
Nov
2014

Schwindel

Nachts habe ich Schwindelanfälle. Herr Menière schickt seine Grüsse. Wenn ich mich umdrehe, merke ich, wie die Welt unter meinem rechten Ohr wegfällt. Ich träume, ich sei an einer Ausstellung. Ich sehe ein Bild von Georges Braque, und es saugt mich wie ein Wirbel in seine Tiefen.



Ich falle wieder und wieder in dieses verdammte Bild hinein. Mir wird leicht übel. Seltsam, denke ich und noch um Traum merke ich mir den Titel der Ausstellung, damit ich später davon erzählen kann. Sie heisst "Braque - Picasso - Leger" oder war es "Braque - Picasso - Modigliani"? Ich bin nicht mehr sicher.

31
Okt
2014

Heute

Vor acht Jahren habe ich mein erstes Hörgerät erhalten. Für mein linkes Ohr. Im Herbst 2006. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich heute um ein zweites betteln würde - für mein rechtes Ohr - ich wäre gestorben vor Bestürzung und Angst.

Ich sage nicht, dass alles seither ein Sonntagsspaziergang gewesen ist.

Ich will bloss sagen: Es lohnt sich nicht, Angst zu haben. Das Unvorstellbare kommt, ob man sich davor fürchtet oder nicht.

26
Okt
2014

Heuchelei

Gerade lese ich dieses Buch. Darin bin ich über einen bemerkenswerten Satz gestolpert: "Ich bin immer davon ausgegangen, dass der Begriff 'Heuchelei' bewusste, absichtliche Täuschung anderer beinhaltet. Doch die höfliche englische Gleichmacherei scheint eine kollektive, sogar kollaborative Selbsttäuschung zu sein."*

Das schien mir so merkwürdig, weil für mich Heuchelei per definitionem ein Element von Selbstbetrug enthält. Aber vielleicht bin ich ja einfach naiv. Auch Wikipedia wusste keine klare Antwort.

Ich frage Euch: Wissen Heuchler, dass sie heucheln? Oder merken sie es selber nicht?

Kate Fox: "Watching the English" ; London - Hodder & Stoughton, 2014, Seite 139 im Trade Paperback, meine Übersetzung.

22
Okt
2014

Das Date

Gestern war ich mit der Arbeitskollegin Karmesine zum Mittagessen verabredet. Als ich kam, wartete sie schon beim Sekretariat und plauderte mit der Sekretärin. Auf dem Weg zur Garage sagte sie: "Jetzt hat die mich gefragt, ob ich ein Date hätte." "Ein Date?" fragte ich nach. "Haben wir ein Date?"

Wenn es um Dates und derartiges geht, bin ich ja mittlerweile total von gestern. Ich meine: Ich lebe seit bald 15 Jahren in einer festen Beziehung. Und dann bin ich auch noch schwerhörig und bekomme eigentlich nur noch wenige dieser 100000 Konversatiönchen mit, in denen Sprache gemacht wird.

Ich fragte Karmesine, ob es auch ein Date sei, wenn eine heterosexuelle Frau und ihre Arbeitskollegin sich zum Mittagessen treffen. "Eigentlich ist ein Date ja ein Rendez-vous", sagte meine Kollegin. Also, das weiss ich auch - ich kann ja Englisch und Französisch. Wir Schweizer müssen ja oft zu Fremdsprachen greifen, wenn es um heikle zwischenmenschliche Vorgänge geht. Es ist ein Wunder, dass wir uns ohne Hilfe aus dem Ausland vermehren können.

Wobei: Meine Eltern nannten ein Rendez-vous auch noch "ein Rennen". Was ahnen lässt, wie viel Adrenalin bei so einem Anlass anno dazumal vergossen wurde. Nicht zuletzt von den Eltern, die fürchteten, dass ihre unansehnliche und dazu noch viel zu gescheite Tochter wieder einen schlechten Eindruck hinterlassen könnte. Sie würde als bedauernswerter Blaustrumpf enden - und was sollten dann die Nachbarn denken?

Also, anyway, ihr ahnt: Ich verabscheute Rendez-vous. Und ich hatte unglaubliches Glück: Ich war in einer Zeit jung, während der man einfach so mit Jungs abhängen konnte - ohne Leistungsdruck, ohne viel Getuschel und ohne Anstandsdamen. Wenn etwas daraus wurde, schön. Wenn nicht, meistens auch schön. Ich habe in meinem Leben vielleicht zwei Rendez-vous gehabt, die als solche zu erkennen waren. Und doch war ich nie lange single.

Jetzt aber ist das Rendez-vous wieder da - nur heisst es jetzt eben "das Date" und ist angeblich viel weniger stressig, weil ja dank Internet viel mehr Auswahl da ist. Karmesine experimentierte schon in den Neunzigern mit Internet-Dating. Sie erinnerte sich noch gut an die damaligen Regeln: "Man musste immer warten, bis der Mann sich wieder meldet. Wenn er sich nach drei Tagen nicht gemeldet hatte, dann war die Sache gelaufen."

Allerdings könnte das heute schon wieder anders sein. Ich kenne Internet-Daterinnen, die ihre Partner schon nach dem ersten Treffen mit so vielen SMS zuspammen, dass meine Mutter in hysterisches Warngeschrei ausgebrochen wäre. Man lief Männern damals nicht nach. Man machte sich rar.

Naja, vielleicht brauchen die Männer heute auch mehr Ermunterung als früher. Bei so viel Auswahl.

So kamen wir vom Hundertsten ins Tausendste - unter Frauen redet man doch über nichts angeregter als über die Liebe. Ich war nur einfach froh, dass ich zurzeit niemanden daten muss. Und nach einem fast zweistündigen Mittagessen weiss ich immer noch nicht, ob man auch ein informelles Treffen zwischen zwei heterosexuellen Frauen als "Date" bezeichnen kann. Oder wie das dann sonst heisst.

12
Okt
2014

800 Kalorien

Die Helfer dieser Welt sind zurzeit masslos überfordert, auch finanziell. Kürzlich hiess es bei uns am Radio, das UNO-Welternährungsprogramm müsse jetzt die Essensrationen für Syrien-Flüchtlinge kürzen: Fortan bekämen sie nur noch 800 Kalorien. Das sind etwa zwei Handvoll Haferflocken, heisst es. Betroffen sind vier Millionen Menschen. Es fehlt Geld für mehr.

Hier der ganze Bericht.

Am Tag nach dieser Meldung brach die Froggs zu einem opulenten Familientreffen in einem Viersternhotel im Südtirol auf. Jedes von uns nahm dort - vorsichtig geschätzt - zwischen 2500 und 3000 Kalorien täglich zu sich.

Ich weiss, es ist Miesmacherei. Aber die Meldung hat mich verfolgt. Seit den Schlankheitskuren meiner Teenager-Jahre weiss ich, wie viel 800 Kalorien sind: zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Der Magen ist hohl. Fahrradpedalen leisten den Beinen doppelt so viel Widerstand wie normal. Rennen? Eine Zumutung. Man würde am liebsten nur daliegen - aber dann würde der Kreislauf schlappmachen, und das Elend wäre komplett.

Mit einer merkwürdigen Mischung aus Dankbarkeit und schlechtem Gewissen betrachtete ich beim Essen unsere reich gedeckte Tafel - all die Schlutzen und Knödel und das Entrecôte. Vor dem Essen gingen wir jeweils ins hoteleigene Bad. Und meine 13-jährige Nichte entdeckte das Laufband im Fitnessraum. Laufen liegt ihr, sie gewinnt zu Hause immer das Schulhaus-Rennen, notfalls barfuss. Wir nennen sie deshalb manchmal auch liebevoll den Usain Bolt vom Lindenberg. Durch das Fenster des Fitnessraum sah ich ihr entrücktes Gesicht auf- und abwippen.

Einmal sagte sie: "Ich gehe jetzt laufen, damit ich nachher ohne schlechtes Gewissen so viele Kalorien essen kann."
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Journal einer Kussbereiten

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