24
Sep
2014

Schaurige Liebesgeschichte

Mein Kleinverleger-Freund steht schwer unter Strom. Den ganzen Abend erzählt er mir von den Terminen, die er hat und gehabt hat und noch haben wird - und von seinen geschäftlichen Sorgen. "Und was liest Du so?" frage ich ihn. Ich meine... ein Kleinverleger muss doch lesen, oder?

"Drei Zeitungen im Tag, sonst habe ich keine Zeit zum Lesen", meint er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Vielleicht sieht er deswegen so kaputt aus.

Mir wird klar, wie privilegiert ich bin. Vom Leben unfreiwillig entschleunigt sitze ich da und lese. Zurzeit lese ich viel über die Liebe. Ich habe Fragen an die Liebe. Ich suche Antworten.

Also habe ich dieses Buch wieder mal gelesen. Völlig unzeitgemäss, weil nicht so spannend. Man weiss ja, wie es herauskommt: tragisch. Romeo und Julia beiden sterben - Aus, Ende.

Aber wie es dazu kommt, ist bei Gottfried Keller ganz grosses Kino. Schon die erste Szene ist Grauen erregend: Da treffen sich zwei Kinder, Knabe und Mädchen, auf dem verwilderten Niemandsland zwischen den Äckern ihrer Väter. Dort spielen sie nicht etwa Tökterlis* oder Müetterlis** oder sonst ein herziges Kinderspiel. Sondern sie zerlegen in sinnloser Zerstörungswut eine Puppe. In den hohlen Kopf des Spielzeugs stecken sie eine noch surrende Fliege und begraben ihn. Die symbolische Kraft dieser Szene - grossartig!

Dann bekommt die Leserin erzählt, wie die beiden Väter einander (oder sich selber?) finanziell und moralisch zu Grunde richten - einfach aus Stolz. Unablässig kreist die Geschichte um eine Ordnung und Wohlanständigkeit, die etwas zu ordentlich ist. Und um das Gegenteil, das aus ihr entsteht: um Verwilderung, um Niedergang, um Unrecht. Sehr schweizerisch, das alles. Da ist auch viel unterschwellige Komik drin, aber Keller lässt sie schön unterschwellig bleiben.

Und warum verlieben sich die beiden Kinder später, als junge Erwachsene mit prekärer Zukunft? Weil sie einander an die heile Welt ihrer Kindheit erinnern. Aber war sie so heil?

Über diese und andere Geschichten hätte ich gerne ein bisschen mit dem Kleinverleger geplaudert. Er ist schliesslich auch Germanist. Aber das hat ihn überhaupt nicht interessiert.

* Schweizerdeutsch: Doktorspiel
** Auch Schweizerdeutsch. Ich weiss nicht, ob es dazu eine Entsprechung im Hochdeutschen gibt. Kindliches Rollenspiel, oft mit Puppen, eine oder mehr Mütter kommen vor.

14
Sep
2014

Hütten im Steuerparadies

Küssnacht am Rigi ist ein schmucker Ort im Schweizer Steuerparadies Schwyz. Es liegt zwischen zwei Seen, unweit der Städte Luzern, Zug und Zürich - kein Wunder, dass hier viel gebaut wird.

Die untere Rigigasse mitten im Dorf entspricht indes gar nicht den Vorstellungen, die man von einem solchen Ort hat. Hier stehen mehrere alte Häuser leer, sind total verlottert, die Fensterscheiben kaputt.

Rigigasse
Untere Rigigasse (Bild vom pedestrian)

In dieser Ruine wohnten noch kürzlich portugiesische Immigranten, arme Leute, ihre Namen stehen auf den verrosteten Briefkästen.

Doch wenn man Gelegenheit hat, Denkmalpfleger hierher zu begleiten, klappt einem schon mal der Unterkiefer herunter vor Staunen. Da bleibt etwa die Archäologin vor der Nummer 21 stehen und sagt: "Also, das Holz für dieses Haus wurde 1404 geschlagen." Dann wurde es gleich verbaut - und die Bauleute verstanden ihr Handwerk: Die alten Wände seien klimatechnisch besser als viele neue Häuser, das Holz auch nach 600 Jahren kaum verwittert.

Zuerst stand das Gebäude woanders - aber irgendwann im Laufe der Jahrhunderte hat man es Balken für Balken numeriert, alles auseinandergenommen und dann an der Rigistrasse wieder zusammengebaut. Das machte man früher so mit Häusern in Schwyz.

Im Haus drinnen fühlen sich die Bodenbretter brüchig an, dünner Pissgeruch liegt in der Luft. Doch aufgepasst: An den 600 Jahre alten Wänden sind Reste einer ebenso alten Wandmalerei erkennbar - unter anderem die Füsse einer Jesusfigur am Kreuz. In der Wand sieht man Luftlöcher, in denen die Forscher allerhand uralte Fetische gegen den bösen Blick fanden.

Tatsache ist: Wohnhäuser in diesem Alter gibt es in der Schweiz sonst kaum noch. Dass dieses hier erhalten ist, dürfte mit der wirtschaftlichen Rückständigkeit zu tun haben, die in der Gegend lange herrschte. Im nahen Kantonshauptort Schwyz selber gab es Häuser, die sogar noch 100 bis 300 Jahre älter sind. Der Bauboom der letzten Jahre hat sie alle weggefegt. Am bekanntesten ist die unrühmliche Geschichte des Hauses Niederöst in Schwyz. Hier mehr dazu. Man lese auch den Kommentar, um zu wissen, wie die Leute hier ticken.

Was geschieht nun mit dem Objekt an der Rigigasse? "Nun, es wird hier bald gebaut - aber das Haus soll erhalten bleiben. Wir sind am Verhandeln", sagte der Denkmalpfleger.

Auch das Holzhaus gleich dahinter - im Bild unten links gut sichtbar - birgt eine Trouvaille.


(Quelle: www.saredi.ch, 10. März 2014)

Im hinteren Teil zeigt die Fachfrau die Reste einer um 400 Jahre alten Färberei - der Bau ist mindestens so alt. Bis vor einiger Zeit war er Wohnhaus und beherbergte eine Schnapsbrennerei. Und was passiert damit? "Wird abgerissen", sagt der Denkmalpfleger.

Speziellen Dank für diesen Beitrag gebührt dem pedestrian, der dabei war und ein viel besseres Zahlengedächtnis hat als frau frogg.

10
Sep
2014

Terroristen-Hund

Herr T. und ich sind unterwegs auf das Michaelskreuz. Es ist ein Lieblingsspaziergang von Herrn T., hier mit kulturflaneur'scher Hingebung beschrieben. Mir ist das Hörgerät ausgestiegen. Genau an der steilsten Stelle schiesst plötzlich ein Hund wie ein zotteliger Blitz zwischen uns den Berg hoch. Etwas in der Art:


(Quelle: www.hundund.de)

Er sieht auch noch beneidenswert gutgelaunt aus. Eine Sekunde und - schwupp - ist er zwischen dem Maisfeld und einer Birke verschwunden. Naja, es ist Jagdsaison. Wahrscheinlich hat er ein Tierlein gerochen.

Etwa 200 Meter weiter unten steht ein Schild mit der Aufschrift "Hunde an der Leine führen". Etwa dort steht nun auch eine Frau und ruft amüsiert: "Hannibal!? Fuuusss!? Hannibal?!"

Frau Frogg sagt ungnädig: "Na, was erwartet sie denn, wenn sie ihren Hund Hannibal nennt? Dass er vor einem Berg zurückschreckt?" Die humanistisch gebildete Spaziergängerin weiss ja: Berge und Hannibal - eine Ausgangslage mit viel dramatischem Potenzial.

"Das hast Du falsch verstanden", schmunzelt Herr T., "Er heisst nicht Hannibal. Er heisst Taliban."

"Umso schlimmer", findet Frau Frogg stirnrunzelnd.

Die Frau ruft nochmals. "Taliban!? Fuuusss?! Tabliban!??" Wenn der Hund eine starke Führung braucht, so ist diese Frau sicher nicht die richtige Besitzern.

Ich frage mich, wie sie klingen wird, wenn sie ihren Taliban neben einem erlegten Rehlein findet.

7
Sep
2014

Fremdbloggen

Wie so viele andere hier blogge ich jetzt auch fremd: Bei avantidonne. Gemeinsam.stark ist ein Blog von Schweizer Frauen mit einer Behinderung.

Es ist inspirierend, einmal unter anderen Rahmenbedingungen zu schreiben. Aber - um ehrlich zu sein - ich mache mir auch ein bisschen Sorgen. In letzter Zeit habe ich ein paar Leute gesehen, die sich mit Zweit- und Drittblogs verzettelt haben.

Ich weiss noch nicht, wie es hier weitergeht. Ich will hier weiter schreiben. Aber wie und was?

Nun ja, Konzepte sind ohnehin nie meine Stärke gewesen. Ich bin eher der Typ, der sich von der Muse küssen und dann von der Macht des Faktischen treiben lässt.

Ich glaube, ich bleibe einfach mal kussbereit.

2
Sep
2014

In Liverpool


The North Garden Restaurant (Bild von Herrn T.)

Es gibt in Liverpool eine charmante, kleine Chinatown. Sie besteht für Aussenstehende aus einem geschnitzten Tor und einer Strasse mit chinesischen Restaurants auf beiden Seiten. Alle waren bedenklich leer - nur "The North Garden" war bumsvoll. Also gingen wir in den "North Garden". Man will ja nicht in einem leeren Restaurant essen.

Die Kellnerin führte uns an einen Tisch, an dem bereits ein älteres Ehepaar sass. Einheimische, also, Engländer. Sie unaufdringlich blondiert, Typ Mammeli.* Er: Pensioniert, mit Glatze. Beide kleinbürgerlich. Sie hätten meine Eltern sein können - und doch beäugten wir einander zunächst voller Unbehagen.

Aber mit triefenden Schweinerippchen in den Händen kamen wir dann doch ins Gespräch. Weil wir so laut reden mussten, kam ich sogar ziemlich gut mit. Bald überlegten sie hin und her, was wir uns in Liverpool unbedingt ansehen müssten. Aber sie kamen auf keinen grünen Zweig.

"Ist das Beatles-Museum sehenswert?" fragte ich. Ich meine: Ich wäre da nie hineingegangen. Aber ich hatte einen Hintergedanken: Wenn man schon Leute in diesem Alter in Liverpool trifft, dann könnte es ja sein, dass sie einmal John Lennon am Ärmel gestreift haben. Oder so. Und Frau Frogg hätte dann schon gerne gewusst, wie das gewesen ist.

Tatsächlich: Der alte Herr erzählte bald, er habe die Beatles im Cavern Club gesehen. Noch bevor sie berühmt gewesen seien. Sogar zweimal. Das muss anno 1961 oder '62 gewesen sein.



"Hat man damals schon gesehen, dass die einmal so berühmt werden würden?" fragte ich.

"Oh no!", sagte der alte Herr. "Da spielten sieben Bands, alle zwei oder drei Songs. Damals gab es hier so viel Musik! Keiner wusste, was daraus werden würde."

Mutti hatte schon eine Weile nichts mehr gesagt. Das war Herrn T. - ever the Ladies' man - aufgefallen. Er fragte: "Und Sie? Haben Sie die Beatles gemocht?"

Da schmunzelt sie: "Nein, nein, ich stand eher auf die Rolling Stones."


* Schweizerdeutsch und - tschuldigung - leicht despektierlich für eine liebenswürdige, pummelige Frau mittleren Alters ohne ein einziges Haar auf den Zähnen
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Journal einer Kussbereiten

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