26
Okt
2014

Heuchelei

Gerade lese ich dieses Buch. Darin bin ich über einen bemerkenswerten Satz gestolpert: "Ich bin immer davon ausgegangen, dass der Begriff 'Heuchelei' bewusste, absichtliche Täuschung anderer beinhaltet. Doch die höfliche englische Gleichmacherei scheint eine kollektive, sogar kollaborative Selbsttäuschung zu sein."*

Das schien mir so merkwürdig, weil für mich Heuchelei per definitionem ein Element von Selbstbetrug enthält. Aber vielleicht bin ich ja einfach naiv. Auch Wikipedia wusste keine klare Antwort.

Ich frage Euch: Wissen Heuchler, dass sie heucheln? Oder merken sie es selber nicht?

Kate Fox: "Watching the English" ; London - Hodder & Stoughton, 2014, Seite 139 im Trade Paperback, meine Übersetzung.

22
Okt
2014

Das Date

Gestern war ich mit der Arbeitskollegin Karmesine zum Mittagessen verabredet. Als ich kam, wartete sie schon beim Sekretariat und plauderte mit der Sekretärin. Auf dem Weg zur Garage sagte sie: "Jetzt hat die mich gefragt, ob ich ein Date hätte." "Ein Date?" fragte ich nach. "Haben wir ein Date?"

Wenn es um Dates und derartiges geht, bin ich ja mittlerweile total von gestern. Ich meine: Ich lebe seit bald 15 Jahren in einer festen Beziehung. Und dann bin ich auch noch schwerhörig und bekomme eigentlich nur noch wenige dieser 100000 Konversatiönchen mit, in denen Sprache gemacht wird.

Ich fragte Karmesine, ob es auch ein Date sei, wenn eine heterosexuelle Frau und ihre Arbeitskollegin sich zum Mittagessen treffen. "Eigentlich ist ein Date ja ein Rendez-vous", sagte meine Kollegin. Also, das weiss ich auch - ich kann ja Englisch und Französisch. Wir Schweizer müssen ja oft zu Fremdsprachen greifen, wenn es um heikle zwischenmenschliche Vorgänge geht. Es ist ein Wunder, dass wir uns ohne Hilfe aus dem Ausland vermehren können.

Wobei: Meine Eltern nannten ein Rendez-vous auch noch "ein Rennen". Was ahnen lässt, wie viel Adrenalin bei so einem Anlass anno dazumal vergossen wurde. Nicht zuletzt von den Eltern, die fürchteten, dass ihre unansehnliche und dazu noch viel zu gescheite Tochter wieder einen schlechten Eindruck hinterlassen könnte. Sie würde als bedauernswerter Blaustrumpf enden - und was sollten dann die Nachbarn denken?

Also, anyway, ihr ahnt: Ich verabscheute Rendez-vous. Und ich hatte unglaubliches Glück: Ich war in einer Zeit jung, während der man einfach so mit Jungs abhängen konnte - ohne Leistungsdruck, ohne viel Getuschel und ohne Anstandsdamen. Wenn etwas daraus wurde, schön. Wenn nicht, meistens auch schön. Ich habe in meinem Leben vielleicht zwei Rendez-vous gehabt, die als solche zu erkennen waren. Und doch war ich nie lange single.

Jetzt aber ist das Rendez-vous wieder da - nur heisst es jetzt eben "das Date" und ist angeblich viel weniger stressig, weil ja dank Internet viel mehr Auswahl da ist. Karmesine experimentierte schon in den Neunzigern mit Internet-Dating. Sie erinnerte sich noch gut an die damaligen Regeln: "Man musste immer warten, bis der Mann sich wieder meldet. Wenn er sich nach drei Tagen nicht gemeldet hatte, dann war die Sache gelaufen."

Allerdings könnte das heute schon wieder anders sein. Ich kenne Internet-Daterinnen, die ihre Partner schon nach dem ersten Treffen mit so vielen SMS zuspammen, dass meine Mutter in hysterisches Warngeschrei ausgebrochen wäre. Man lief Männern damals nicht nach. Man machte sich rar.

Naja, vielleicht brauchen die Männer heute auch mehr Ermunterung als früher. Bei so viel Auswahl.

So kamen wir vom Hundertsten ins Tausendste - unter Frauen redet man doch über nichts angeregter als über die Liebe. Ich war nur einfach froh, dass ich zurzeit niemanden daten muss. Und nach einem fast zweistündigen Mittagessen weiss ich immer noch nicht, ob man auch ein informelles Treffen zwischen zwei heterosexuellen Frauen als "Date" bezeichnen kann. Oder wie das dann sonst heisst.

12
Okt
2014

800 Kalorien

Die Helfer dieser Welt sind zurzeit masslos überfordert, auch finanziell. Kürzlich hiess es bei uns am Radio, das UNO-Welternährungsprogramm müsse jetzt die Essensrationen für Syrien-Flüchtlinge kürzen: Fortan bekämen sie nur noch 800 Kalorien. Das sind etwa zwei Handvoll Haferflocken, heisst es. Betroffen sind vier Millionen Menschen. Es fehlt Geld für mehr.

Hier der ganze Bericht.

Am Tag nach dieser Meldung brach die Froggs zu einem opulenten Familientreffen in einem Viersternhotel im Südtirol auf. Jedes von uns nahm dort - vorsichtig geschätzt - zwischen 2500 und 3000 Kalorien täglich zu sich.

Ich weiss, es ist Miesmacherei. Aber die Meldung hat mich verfolgt. Seit den Schlankheitskuren meiner Teenager-Jahre weiss ich, wie viel 800 Kalorien sind: zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Der Magen ist hohl. Fahrradpedalen leisten den Beinen doppelt so viel Widerstand wie normal. Rennen? Eine Zumutung. Man würde am liebsten nur daliegen - aber dann würde der Kreislauf schlappmachen, und das Elend wäre komplett.

Mit einer merkwürdigen Mischung aus Dankbarkeit und schlechtem Gewissen betrachtete ich beim Essen unsere reich gedeckte Tafel - all die Schlutzen und Knödel und das Entrecôte. Vor dem Essen gingen wir jeweils ins hoteleigene Bad. Und meine 13-jährige Nichte entdeckte das Laufband im Fitnessraum. Laufen liegt ihr, sie gewinnt zu Hause immer das Schulhaus-Rennen, notfalls barfuss. Wir nennen sie deshalb manchmal auch liebevoll den Usain Bolt vom Lindenberg. Durch das Fenster des Fitnessraum sah ich ihr entrücktes Gesicht auf- und abwippen.

Einmal sagte sie: "Ich gehe jetzt laufen, damit ich nachher ohne schlechtes Gewissen so viele Kalorien essen kann."

24
Sep
2014

Schaurige Liebesgeschichte

Mein Kleinverleger-Freund steht schwer unter Strom. Den ganzen Abend erzählt er mir von den Terminen, die er hat und gehabt hat und noch haben wird - und von seinen geschäftlichen Sorgen. "Und was liest Du so?" frage ich ihn. Ich meine... ein Kleinverleger muss doch lesen, oder?

"Drei Zeitungen im Tag, sonst habe ich keine Zeit zum Lesen", meint er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Vielleicht sieht er deswegen so kaputt aus.

Mir wird klar, wie privilegiert ich bin. Vom Leben unfreiwillig entschleunigt sitze ich da und lese. Zurzeit lese ich viel über die Liebe. Ich habe Fragen an die Liebe. Ich suche Antworten.

Also habe ich dieses Buch wieder mal gelesen. Völlig unzeitgemäss, weil nicht so spannend. Man weiss ja, wie es herauskommt: tragisch. Romeo und Julia beiden sterben - Aus, Ende.

Aber wie es dazu kommt, ist bei Gottfried Keller ganz grosses Kino. Schon die erste Szene ist Grauen erregend: Da treffen sich zwei Kinder, Knabe und Mädchen, auf dem verwilderten Niemandsland zwischen den Äckern ihrer Väter. Dort spielen sie nicht etwa Tökterlis* oder Müetterlis** oder sonst ein herziges Kinderspiel. Sondern sie zerlegen in sinnloser Zerstörungswut eine Puppe. In den hohlen Kopf des Spielzeugs stecken sie eine noch surrende Fliege und begraben ihn. Die symbolische Kraft dieser Szene - grossartig!

Dann bekommt die Leserin erzählt, wie die beiden Väter einander (oder sich selber?) finanziell und moralisch zu Grunde richten - einfach aus Stolz. Unablässig kreist die Geschichte um eine Ordnung und Wohlanständigkeit, die etwas zu ordentlich ist. Und um das Gegenteil, das aus ihr entsteht: um Verwilderung, um Niedergang, um Unrecht. Sehr schweizerisch, das alles. Da ist auch viel unterschwellige Komik drin, aber Keller lässt sie schön unterschwellig bleiben.

Und warum verlieben sich die beiden Kinder später, als junge Erwachsene mit prekärer Zukunft? Weil sie einander an die heile Welt ihrer Kindheit erinnern. Aber war sie so heil?

Über diese und andere Geschichten hätte ich gerne ein bisschen mit dem Kleinverleger geplaudert. Er ist schliesslich auch Germanist. Aber das hat ihn überhaupt nicht interessiert.

* Schweizerdeutsch: Doktorspiel
** Auch Schweizerdeutsch. Ich weiss nicht, ob es dazu eine Entsprechung im Hochdeutschen gibt. Kindliches Rollenspiel, oft mit Puppen, eine oder mehr Mütter kommen vor.

14
Sep
2014

Hütten im Steuerparadies

Küssnacht am Rigi ist ein schmucker Ort im Schweizer Steuerparadies Schwyz. Es liegt zwischen zwei Seen, unweit der Städte Luzern, Zug und Zürich - kein Wunder, dass hier viel gebaut wird.

Die untere Rigigasse mitten im Dorf entspricht indes gar nicht den Vorstellungen, die man von einem solchen Ort hat. Hier stehen mehrere alte Häuser leer, sind total verlottert, die Fensterscheiben kaputt.

Rigigasse
Untere Rigigasse (Bild vom pedestrian)

In dieser Ruine wohnten noch kürzlich portugiesische Immigranten, arme Leute, ihre Namen stehen auf den verrosteten Briefkästen.

Doch wenn man Gelegenheit hat, Denkmalpfleger hierher zu begleiten, klappt einem schon mal der Unterkiefer herunter vor Staunen. Da bleibt etwa die Archäologin vor der Nummer 21 stehen und sagt: "Also, das Holz für dieses Haus wurde 1404 geschlagen." Dann wurde es gleich verbaut - und die Bauleute verstanden ihr Handwerk: Die alten Wände seien klimatechnisch besser als viele neue Häuser, das Holz auch nach 600 Jahren kaum verwittert.

Zuerst stand das Gebäude woanders - aber irgendwann im Laufe der Jahrhunderte hat man es Balken für Balken numeriert, alles auseinandergenommen und dann an der Rigistrasse wieder zusammengebaut. Das machte man früher so mit Häusern in Schwyz.

Im Haus drinnen fühlen sich die Bodenbretter brüchig an, dünner Pissgeruch liegt in der Luft. Doch aufgepasst: An den 600 Jahre alten Wänden sind Reste einer ebenso alten Wandmalerei erkennbar - unter anderem die Füsse einer Jesusfigur am Kreuz. In der Wand sieht man Luftlöcher, in denen die Forscher allerhand uralte Fetische gegen den bösen Blick fanden.

Tatsache ist: Wohnhäuser in diesem Alter gibt es in der Schweiz sonst kaum noch. Dass dieses hier erhalten ist, dürfte mit der wirtschaftlichen Rückständigkeit zu tun haben, die in der Gegend lange herrschte. Im nahen Kantonshauptort Schwyz selber gab es Häuser, die sogar noch 100 bis 300 Jahre älter sind. Der Bauboom der letzten Jahre hat sie alle weggefegt. Am bekanntesten ist die unrühmliche Geschichte des Hauses Niederöst in Schwyz. Hier mehr dazu. Man lese auch den Kommentar, um zu wissen, wie die Leute hier ticken.

Was geschieht nun mit dem Objekt an der Rigigasse? "Nun, es wird hier bald gebaut - aber das Haus soll erhalten bleiben. Wir sind am Verhandeln", sagte der Denkmalpfleger.

Auch das Holzhaus gleich dahinter - im Bild unten links gut sichtbar - birgt eine Trouvaille.


(Quelle: www.saredi.ch, 10. März 2014)

Im hinteren Teil zeigt die Fachfrau die Reste einer um 400 Jahre alten Färberei - der Bau ist mindestens so alt. Bis vor einiger Zeit war er Wohnhaus und beherbergte eine Schnapsbrennerei. Und was passiert damit? "Wird abgerissen", sagt der Denkmalpfleger.

Speziellen Dank für diesen Beitrag gebührt dem pedestrian, der dabei war und ein viel besseres Zahlengedächtnis hat als frau frogg.
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