31
Mrz
2014

Inspirierende Behinderte

Behinderte in den Medien - das sind Menschen, die trotz ihrer Einschränkung strahlen. Sie leisten Überragendes und reden ihre Schwierigkeiten im Alltag klein. Und sie sind erst noch inspirierend - weil sie doch trotz ihrer misslichen Lage sooooo tapfer sind.

Ich kann Euch gar nicht sagen, wie ich auf einen Artikel gewartet habe, der das Phänomen einmal einer kritischen Analyse unterzieht! Bei Mia auf ivinfo gibt es jetzt einen solchen: Hier. Es heisst dort "Inspirations-Porno." Ein paar Auszüge aus dem Artikel von Stella Young in meiner Übersetzung:

"Lasst mich die Absicht dieses Inspirations-Pornos beim Namen nennen. Er ist da, damit Nicht-Behinderte ihre Sorgen relativieren können. Sie können sagen: 'Also, wenn dieses Kind keine Beine hat und trotzdem lächeln kann ... sollte ich mich niemals wegen meines Lebens schlecht fühlen.'

So machen diese Bilder jene zu Objekten und Ausnahmen, die sie darzustellen vorgeben. Sobald wir nur hinterfragen wie wir dargestellt werden, rutschen wir sofort ans andere Ende der Skala und werden 'bitter' und 'undankbar'. Wir versagen dabei, die Erwartungen der anderen zu erfüllen."

Die Behauptung 'die einzige Behinderung ist eine negative Einstellung' erlegt die Verantwortung für die Benachteiligung ... direkt den Menschen mit Behinderung selber auf. Doch damit beschuldigt sie die Opfer. Sie behauptet, dass wir komplette Kontrolle darüber, wie die Behinderung unser Leben beeinflusst. Dazu kann ich nur eins sagen: Fickt Euch ins Knie!"

Bravo! Bravo! Bravo!

26
Mrz
2014

Das Verlangen

Seit Tagen versuche ich, mein rebellierendes Gehör wieder zur Ruhe zu bringen. Ich arbeite ein bisschen. Ich gehe spazieren. Ich widme mich meinen Freunden. Ich blogge ein bisschen. Ich sehe fern. Ich putze. Ich lese. Ich versuche, genug zu schlafen und vernünftig zu essen.

Manchmal denke ich an eine Passage, die ich kürzlich in der Autobiografie des Arztes und Alkoholikers Olivier Ameisen gelesen habe. Er schildert seinen Zustand nach seinem x-ten Entzug so: "Unterdessen fühlte ich mich wie ein Schatten meiner selbst. Pflichtgemäss versuchte ich, starke Gefühle zu vermeiden, die meine Stimmung zu sehr heben oder zu tief sinken lassen konnten. Ich litt unter dem, was einer meiner Psychiater später als die 'konformistische Abgestumpftheit' derjenigen bezeichnete, die versuchten, abstinent zu leben, während die zugrunde liegende Verstimmung unbehandelt bleibt."* So ähnlich ging es mir.

Ich hatte ein Gefühl, für das es in meinem Wortschatz keine hochdeutsche Vokabel gibt. Jedenfalls keine, die auch nur annähernd seine Macht umschreibt. Auf Schweizerdeutsch nennen wir es "s'Riisse"**, auf Englisch nennt man es "craving": das das Verlangen des Süchtigen nach seinem Stoff. Ich hatte Verlangen nach meiner Story.

Mit der Zeit merkte ich, dass das nicht nur ein einzelnes Verlangen war. Es war ein ganzes Bündel verschiedener Verlangen - so man denn dieses platte Wort überhaupt in den Plural setzen kann. Am Anfang war da nur ein wachsendes Unbehagen über ein gesellschaftliches Phänomen. "Darüber hat noch niemand geschrieben" dachte ich. "Ich habe ein Thema gefunden", dachte ich. Denn, ja, da war die Sehnsucht, vielleicht, nur vielleicht, doch noch etwas zu schaffen, was Bestand hat. Und da war der Wunsch, über mein kleines Fleckchen Erde hinauszusteigen, und sei es nur in ein selbst erschriebenes Luftschloss.

Und dann war da plötzlich dieser Kitzel, der Welt eine Liebesgeschichte zu erzählen, die ich vor vielen Jahren erlebt habe. Um sie überhaupt erzählen zu können, musste ich sie sogar für mich selbst ins rosige Licht der Fiktion setzen. Damit ich sie nicht auf Anhieb erkannte. Und da war es wieder - das erotische Knistern, das lodernde Verlangen von damals.

Ich glaubte, ich hätte längst mit der Sache abgeschlossen. Sind wir nicht alle einmal jung gewesen und haben an den Käfiggittern des Möglichen gerüttelt?! Ich stand im Badezimmer mit dem Putzlappen in der Hand. Da verblasste das rosige Licht der Fiktion. Vor mir stand, in grelles Neonlicht getaucht, die Wahrheit: Ich will, ich muss, die richtigen Worte finden, um diese alte, so erstaunlich wortlose Story zu einem würdigen Ende zu führen. Einfach so. Für mich allein.

Ich stand da und brach in Tränen aus. Ich weinte so heftig, dass ich für ein paar Minuten zu putzen aufhören musste.


* Olivier Ameisen: Das Ende meiner Sucht, gebundene Ausgabe von 2009, S. 108.
** ungefähr: das Reissen, das Wort stammt, glaube ich, aus der Sprache der Junkys.

22
Mrz
2014

Herr Wichtig am Telefon

Neulich morgens hatte ich eine Mail von Herrn Wichtig im Posteingang. Er werde mich gegen Mittag anrufen, schrieb er. Es war ein schlechter Tag. Ich hörte schlecht, telefonieren fiel mir auch mit maximaler Lautstärke auf dem Telefon-Lautsprecher schwer. Aber es schien mir nicht angebracht, auf einen Austausch per Mail zu bestehen.

Ich schrieb: "Ja, gerne. Ich bin hier." Sollte ich ihm auch schreiben, er müsse deutlich mit mir sprechen? Ich hatte noch nie mit ihm telefoniert. Vielleicht war er einer dieser Herren Wichtig, die ihre Autorität beweisen, indem sie leise sprechen. Dann müssen sich alle Zuhörer nach vorne neigen und an ihren Lippen hängen. Da hat niemand Zeit, über Widerstand nachzudenken.

Ich schrieb es ihm dann doch nicht.

Um elf klingelte das Telefon. Es war Herr Wichtig. Er schmurgelte an mein Ohr: "Grüezi, hiss wichsch ihajsa dasch arrrwürr." "Wie bitte?!" fragte ich. Er wiederholte, was er gesagt hatte - natürlich etwas vollkommen Irrelevantes, wie "ich habe Ihnen doch geschrieben, dass ich anrufen würde." Oder: "Wie geht es Ihnen?" - ohne dass er darauf eine andere Antwort als "gut" erwartete. Oder etwas in der Art. Das gehört zu den Peinlichkeiten an der Schwerhörigkeit: Dass man nachfragt, und es stellt sich heraus, dass die Leute etwas total Unwichtiges gesagt haben, zum Beispiel "schönes Wochenende!" "Hier bin ich also!".

Ich bat ihn, deutlich zu sprechen. Er tat es. Es kennt meinen Fall - denn, ja, für gewisse Leute bin ich ein Fall, eben auch für Herrn Wichtig. Es war sehr nett von ihm, dass er mich überhaupt anrief.

Es war eine dieser saublöden Situationen, in denen man sowieso leicht in eine Huscheli*-Rolle gerät. Und als Schwerhörige erst recht. Die Leute nehmen einen dann von Anfang an nicht so recht ernst.

Zum Glück hatte Herr Wichtig eine laute Stimme und eine sehr klare Artikulation. Möglicherweise hat er sogar eine etwas feuchte Aussprache. Das konnte ich am Telefon aber nicht beurteilen. Und ausserdem ist er ein so vielbeschäftigter Mann, dass er gar keine Zeit hatte, sich zu überlegen, ob ich nun ein Huscheli sei.

* Schweizerdeutsch für eine Frau ohne Selbstbewusstsein.

16
Mrz
2014

Enttäuscht

Ist es gesund, wenn ich mich einer neu entdeckten Leidenschaft fürs Geschichtenschreiben mit Haut und Haar hingebe? Das habe ich mich hier gefragt. Zweifel sind berechtigt. Ich habe eine chronische Krankheit. Ich habe ein empfindsames Gehör. Deshalb habe ich schliesslich eine Abmachung mit mir getroffen: Ja, ich schreibe. Ich tue alles, was ich glaube, tun zu müssen. Aber ich höre auf damit, wenn mein gutes Ohr versagt. Ich höre auf, wenn ich die Kirchenglocken draussen nur noch mit dem Hörgerät höre. Ich höre auf, wenn der Verkehr draussen klingt, als läge Schnee auf der Strasse. Ich höre auf, wenn ich aus dem Radio in Herrn T.s Zimmer nur noch "pfs" und "schs", aber keine zusammenhängenden Sätze mehr verstehe. Wenn Musik nur noch quäkt und nicht mehr klingt. Ich höre auf, wenn ich Gefahr laufe, nicht mehr telefonieren zu können.

Soweit ist es jetzt.

Das ist ein klares Zeichen. Das heisst: Ich muss aufhören. Ich bin jetzt nur noch nicht ganz sicher, was aufhören in dieser Situation genau heisst.

9
Mrz
2014

Liebeskrank

Das Schreiben ist meine älteste Liebe. Ich begann zu schreiben, als ich fünf war. Ich weiss nicht, warum. Man weiss ja meist nicht, warum man Dinge tut, wenn man fünf ist. Meine Nichten, acht und elf, schreiben auch. Es muss eine vererbbare Krankheit sein.

In meinen Teenager-Jahren kam das Schreiben aus einem tief liegenden Teil meines Gehirns, in dem im Grunde viel Unsagbares ist. Schreiben war der Austragungsort meiner Tagträume, eine Selbst-Projektion. Eine Auseinandersetzung mit den Vorgängen des Erwachsenwerdens. Mit 13 verlor ich mich in einem Projekt, das zwei Jahre meines Lebenszeit frass. Bis ich merkte, dass ich nicht nur auf dem Papier Teenager sein wollte, sondern auch im wirklichen Leben. Beides - so erschien es mir jedenfalls damals - ging nicht.

Mit 20 nahm ich dann doch an einem Literaturwettbewerb teil. Man schickte mir nicht einmal mein Manuskript zurück. Das wertete ich als sehr schlechtes Zeichen.

Dennoch studierte ich Literaturwissenschaften. Aber ich vertraute der Literatur im Grunde nicht. Ich merkte, dass ich ihr eigentlich noch nie vertraut hatte. Wo hätte ich dieses Vertrauen auch lernen sollen? Ich kam aus einem relativ bildungsfernen Haushalt und war ein Mädchen. Der Haushalt und die Arbeit waren immer und aus Myriaden von Gründen ehrenwerter als die Literatur.

Dennoch veröffentlichte ich am Ende meines Studiums einen kleinen Roman, einen Fortsetzungsroman in einem lokalen Magazinchen. Es war ein Experiment, und es floppte.

Das machte nichts. Ich war sowieso andersweitig beschäftigt: Ich musste mir eine Existenz aufbauen. Ich wurde Journalistin. Das schien folgerichtig, und ich lernte viel: dass Schreiben per definitionem öffentlich ist und folglich die Kunst des Kommunizierbaren. Man denkt beim journalistischen Schreiben immer zuerst an die Sache und dann sehr schnell an den Leser. Journalistisches Schreiben passiert vornehmlich im vordersten Teil des Bewusststeins.

Genau mit dieser Geisteshaltung schrieb ich auch meinen Blog und meinen Krimi. Der Krimi bescherte wenigstens meiner Freundin Helga und mir ein paar glückliche Gespräche. Den Blog kennt ihr.

Bald werde ich 49. Als Journalistin habe ich mehr oder weniger ausgedient. Ich habe Zeit zu pröbeln. Ich merke, wie ich literarisch in meine Teenager-Zeit zurückdrifte. Wie aus kleinen Projekten wieder diese Wülste werden, in die ich alles hineinpacken will - und die mich emotional absorbieren wie ein schwieriger Liebhaber. 48 Jahre Leben, aus dem tieferen Teil meines Gehirns bestürmen mich die Ideen, die Erinnerungsfetzen, die Dramen.

Halten sie der Realität einer sauberen Recherche stand? Hat das alles überhaupt noch einen Sinn? Wo führt es hin?

Wäre es nicht gesünder, wenn ich mich einfach aufs Sofa legen und die Bücher anderer Leute lesen würde? Ich weiss es nicht. Es beunruhigt mich.
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