30
Jan
2014

Masseneinwanderung

In einer Woche stimmt die Schweiz über die Initiative "Gegen Masseneinwanderung" ab. Wer noch nicht weiss, was sie verlangt, kann hier nachlesen. Hier die Kurzversion: Sie will die Zuwanderung begrenzen.

Eins vorweg: Ich bin eine vehemente Gegnerin dieser Vorlage. Aber mit dieser Überzeugung stehe ich wohl auf verlorenem Posten. Ich glaube: Unsere Region wird der Initiative wuchtig zustimmen. Ich bekomme bei der Arbeit täglich und sehr direkt mit, wie die Leute in den Kantonen Luzern, Ob- und Nidwalden, Uri und Schwyz ticken. Ok, das ist eine konservative Region. Aber die neuesten gesamtschweizerischen Umfragewerte haben meine bange Ahnung bestätigt: Die Initiative könnte durchkommen.

Es ist nämlich so: Plötzlich kennt hier jeder jemanden, der seine Stelle an eine billige Arbeitskraft aus der EU verloren hat. Jeder weiss auf einmal, dass der Patron im nahen KMU lieber Deutsche anstellt als seine eigenen Söhne und Töchter. Plötzlich fällt manch einem ein, dass er seit 2007 keine Lohnerhöhung gesehen hat. Hallo?! Was ist denn nun mit dem Wohlstand passiert, den die Personenfreizügigkeit angeblich gebracht haben soll? Einem ist die Wohnung schon zum zweiten Mal von rumänischen Diebesbanden leergeräumt worden - jetzt stimmt er Ja und hofft darauf, dass es wieder Grenzwächter gibt. Einer ist traurig, weil die schöne Wiese am Oberhubel zugebaut wird - nicht von Ausländern, sondern von Schweizern, die vom Eigenheim träumen. Aber das muss man ja nicht so genau nehmen. Der andere ärgert sich, weil in einem vollgestopften Zug ein paar Migranten laut reden. Wieder einer regt sich darüber auf, dass reiche Ausländer in der Schweiz fette Villen an schönster Seelage haben - und er findet kaum noch eine Dreizimmerwohnung unter 2000 Franken. Und überhaupt: die Masslosigkeit! Die Dekadenz!

Und was tun die Initiativgegner von der Partei der Arbeit bis zu den Freisinnigen? Sie behaupten, sie würden die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen. Aber von einem griffigen Kündigungsschutz für gestandene Mitarbeiter redet kein Mensch. Auch die Arbeitgeber sind gegen die Vorlage. Aber keiner von denen erklärt den Leuten, dass nicht die Ausländer schuld sind an stagnierenden Löhnen - sondern die Weltwirtschaftskrise. Ein neues Raumplanungsgesetz haben wir zwar letztes Jahr angenommen. Aber niemand sagt uns, warum dieses neue Gesetz die Gräslein und Käferlein am Oberhubel nicht schützt. Und dem letzten müsste mal jemand erklären, dass die laut redenden Jugendlichen im Zug seine AHV zahlen.

Es ist und bleibt ja so: Ich würde am liebsten den Fernseher aus dem Fenster schmeissen, wenn ich den Blocher darin sehe. Aber ich muss gestehen: Der Alte hat diesmal mehr Farbe als der ganze blässliche Bundesrat und die ganzen quäkenden Parteichefs zusammen. Denen fällt nichts anderes ein, als mit der Rache der EU zu drohen.

Trotzdem: Wer einen Schweizer Pass hat und noch nicht abgestimmt hat, sollte es jetzt schnellstens tun. Denn, oh ja, eine Annahme wird das Wachstum stoppen - nämlich so, dass die sozial Schwachen noch schwächer werden. Insbesondere die Bezüger von Alters- und Invalidenrenten und anderen Sozialleistungen. Und nicht vergessen: Es muss NEIN auf dem Stimmzettel stehen!

29
Jan
2014

Wachstum im Steuerparadies


In der Nähe von Melchsee-Frutt, unterhalb des Tannensee-Staudamms.

Wenn ich jeweils auf Melchsee-Frutt ankomme, vergesse ich schnell alle Unannehmlichkeiten des Reisens. Ich liebe dieses Fleckchen Erde auf 1920 Metern über Meer! Weil es in einer phantastischen Mondlandschaft liegt. Weil es so still ist - es gibt dort keine Autos - nur ein paar Pistenfahrzeuge. Weil ich mit Herrn T. schon so viele Schneestürme und zärtliche Stunden hier verbracht habe. Und weil es (noch) ein stinkbiederer Familien-Winterferienort ohne mondäne Allüren ist.

Aber seit unseren letzten Skiferien 2009 hat sich hier oben vieles verändert - einiges bereitet mir Unbehagen. Etwa der offensichtliche Hunger nach Wachstum. Oder die Art, wie man sich hier neuerdings um Luxus-Gäste bemüht.

Dass man auf die Fundamente des 2004 abgebrannten Kurhauses ein neues Hotel gebaut hat, kann ich nachvollziehen. Die Architektur finde ich ansprechend - und soll es meinetwegen Frutt Lodge heissen, auch wenn das nicht heimatlich tönt.


(links im Bild)

Soll die Lodge vier Sterne haben. Und soll sie meinetwegen einem chinesischen Investor namens Yunfeng Gao gehören. Dass sich ein Ausländer das Prunkstück des Kurorts unter den Nagel gerissen, hat in der Gegend allerdings in vielen Herzen die Angst vor der Überfremdung wachsen lassen.

Mich jedoch beunruhigen die unauffälligen neuen Häuschen weiter unten viel mehr.


(Die Betonrohbauten im Hintergrund)

Sie stehen da, wo viele Jahre lang die Ruinen eines zerfallenen Hotels romantisch über dem Melchsee thronten. Zurzeit sucht ein Immobilienmakler Käufer für die 43 neuen Wohnungen - und es handelt sich nicht etwa nur um kleine Ferienlogis, sondern auch um geräumige 4,5-Zimmer-Wohnungen, durchaus als Eigentumswohnung gedacht.

Im Prospekt ist eine ganze Seite der Tatsache gewidmet, dass der Kanton Obwalden (in dem Melchsee-Frutt liegt) ein "steuerlich attraktiver Kanton" ist (böse Zugen sagen: eine Steueroase). Obwalden sein ein Kanton, in dem "Wirtschaft, Tourismus, Politik und Verwaltung ... eine Einheit" bildeten (böse Zungen sagen: "Säuhäfeli - Säudeckeli"*). Soll die Frutt ein Zweitwohnsitz für Geldsäcke werden? Und dann? Discos? Mondänes 24-Stunden-Shopping? Läden, in denen die Verkäuferin mit Röntgenblick zuerst mal Dein Tasche mit dem Portmonee durchleuchtet? Edler Food in winzigen und dennoch unerschwinglichen Portionen?

Herr T. und ich runzeln die Stirn. Doch dann stemmen wir uns gegen den eisigen Wind und gehen zurück in unser Zimmerchen im Traditionshotelchen Posthuis.


(Quelle: amazonaws.com)

Wir stellen erleichtert fest: Hier ist alles beim Alten. Dasselbe, freundliche Wirtepaar. Die Küche gutbürgerlich, nahrhaft und reichlich und nicht ohne Raffinesse. Der Bau unverändert - heimelig, praktisch und ohne Luxusgedönse. Und auf dem Bürostuhl in der Réception turnt ein Enkelkind der Hotlelière.


* "Säuhäfeli - Säudeckeli" - Schweizerdeutsch für Mauscheleien zwischen lokalen Geld- und Machteliten.

26
Jan
2014

Tabuthema

Verreisen, Bahnfahren, Umsteigen, Fliegen - das alles ist für Frau Frogg mit der leisen Angst vor Hörverlusten verbunden. Vor jeder Abreise legt sie deshalb Anzeichen der Überforderung an den Tag: Reizbarkeit, leichte Demenz, Momente der Panik.

Als wir am Dienstag ins nahe Skigebiet Melchsee-Frutt aufbrachen, kam ein aussergewöhnliches Symptom dazu: Bauchkrämpfe.

An dieser Stelle eine Warnung an meine männlichen Leser: In diesem Beitrag geht es um das Tabuthema Menstruationsbeschwerden. Eventuell mitlesende Gynäkologen bitte ich ausdrücklich, hier weiterzulesen. Allen anderen nehme ich es nicht übel, wenn sie aufhören.

Ich habe seit vielen Jahren eine Spirale und daher kaum noch Unterleibsschmerzen. Aber am Dienstag im Brünigzug jagte mir jede hastige Bewegung einen Krampf durch den Bauch.

Im Abteil nebenan überschüttete eine dynamische Oma ihre kleine Enkeltochter lautstark mit ihrer Liebe. Normalerweise beobachte ich solche Szenen mit amüsierter Nachsicht. Aber diesmal hätte Frau Frogg gerne die Augen verdreht. Diese dumpfe Irritation... "Eindeutig prämenstruelles Syndrom, kurz PMS", hörte ich im Kopf meine ferne Freundin Helga dozieren. Was haben wir früher über die Unzulänglichkeit der Gynäkologie angesichts von Menstruationschmerzen diskutiert! "Wenn Männer sowas bekämen, gäbe es dagegen längst das perfekte Medikament!" Auch meine Mutter zitierte in meinem Kopf eine ihrer Lebensweisheiten: "S'Züüg"* bekomme man eben immer im ungünstigsten Moment.

Überhaupt fühlte mich unangenehm in eine gnädig vergessene Vergangenheit zurückversetzt. In meiner Jugend hatte ich fast jeden Monat rasende Schmerzen. Plötzlich spürte ich wieder die Kälte unseres gymnasialen WC-Bodens unter mir. Ich legte mich jeweils auf ihn, wenn mich im Unterricht die Krämpfe überwältigten. Er war grau mit schwarzen Sprenkeln.

Die Frauenärzte waren desinteressiert. "Da kann man nichts machen", hiess es. Oder: "Das ist psychosomatisch." Oder: "Sie haben eben Ihre Weiblichkeit nicht akzeptiert." Ich hätte die Frauenärztin ohrfeigen sollen, die das damals sagte.

Und dann das: Am 16. November 2005 rammte mir eine Gynäkologin meine erste Spirale in den Bauch. "Sie haben aber einen stark verkrümmten Gebärmutterhals!" sagte sie, "Kein Wunder, dass Sie so heftige Krämpfe hatten. Sie hätten Mühe gehabt, schwanger zu werden!" Ich war zu benommen, um etwas zu sagen.

Wir sitzen im Postauto Sarnen-Stöckalp. Neben uns ein angeheitertes Rentnerquartett. Warum gibt es eigentlich in jedem zweiten öffentlichen Schweizer Verkehrsmittel ein angeheitertes Rentnerqaurtett?

Ein weiterer Krampf. Ich habe genug. In einer Tasche finde ich ein Algifor. Ich schlucke es, aber ich habe kein Wasser dabei. Die Tablette ist gross.

In der Luftseilbahn Stöckalp-Melchsee-Frutt spüre ich genau, wo sie in der Speiseröhre stecken geblieben ist und sich auflöst: direkt über dem Schlüsselbein. Jetzt tut es da oben weh.

* Zu Deutsch: "Das Zeug", umgangssprachlich für die Menstruation und ihre unangenehmen Begleiterscheinungen.

21
Jan
2014

Blog geschlossen

Freunde, hiermit mache ich diesen Blog für ein paar Tage dicht und verreise in die Berge. Bis ungefähr in einer Woche!

20
Jan
2014

Die freie Wildbahn

Menschen mit Hörproblemen werden Berufe mit tumultösem Sitzungsbetrieb oder Hintergrundlärm meiden. Sie werden eher nicht Radiofrau, Telefonistin oder Börsenmaklerin. Das ist das Wesen einer Behinderung: Sie hindert einen an gewissen Dingen - manchmal auch daran, seinen Traumberuf auszuüben. Auch ich übe nicht mehr die Tätigkeit aus, in der ich einmal glücklich gewesen bin. "Aber ich habe eine gute Lösung gefunden. Ich bin zufrieden", sagte ich neulich bei einem Treffen von Menschen mit Hörproblemen.

Nun können schwerhörige Menschen ausgezeichnet Gesichtsausdrücke lesen. Denn eine Miene sagt oft mehr als 1000 Worte - allerdings oft auch etwas anderes. Ich nehme an, dass meine sechs Gesprächspartner in meinen verzogenen Mundwinkeln lasen, dass das nur die halbe Wahrheit ist.

"Ich habe Mühe das zu glauben", sagte denn auch Frau Wolf, die im Unterschied zu mir seit ihrer Kindheit schlappohrig ist. Sie selber habe jahrelang damit gehadert, dass sie nie eine Tätigkeit in lauter und hektischer Umgebung habe ausüben können. "Das hätte ich geliebt. Ich habe mich oft gefragt: Wie ist das Leben für jemanden, der gut hört? Wie fühlt es sich an, all diese Möglichkeiten zu haben?" Frau Wolf ist eine lebhafte Person mit einem wachen Verstand. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie in einem betriebsamen Büro mit viel Ein und Aus und schnellen Reaktionszeiten glücklich gewesen wäre.

Neulich sah ich am Fernsehen einen Film über Labormäuse. Bei den bedauernswerten Nagern verändert sich in Gefangenschaft das Gehirn - weshalb sie oft ohne Ende im Kreis herumrennen. Hier sieht man so etwas, so ab Sekunde 16. Den Rest erspart man sich lieber.

"Wissen diese Tierchen, dass sie bedauernswert sind?" fragte ich mich. "Sind sie unglücklich, dass sie nicht in Freiheit leben können? Wissen sie überhaupt, dass es die freie Wildbahn gibt?" Plötzlich erinnerte ich mich an das, was Frau Wolf gesagt hatte. Ich muss gestehen: Ich fühlte mich diesen Mäusen ähnlich.

Nun muss ich mit aller Deutlichkeit sagen: Der Job, den ich heute habe, ist alles andere als ein öder Käfig. Ich mag ihn. Im Vergleich zu allem, was nach den gesundheitlichen Katastrophen des Jahres 2009 in meinem Arbeitsleben hätte passieren können, ist er eine prima Sache. Ich glaube sogar, dass ihn auszüben mein Gehör einigermassen stabil hält.

Es ist mehr der Mangel an Optionen, der mir manchmal das Gefühl gibt, wie eine gefangene Maus im Kreis zu rennen. Und während ich meine Kreise ziehe, nagt etwas an mir: Ich weiss nicht mehr, ob ich überhaupt in freier Wildbahn bestehen würde, wenn ich denn keine chronische Krankheit hätte.

Vielleicht ist es genau das, was auch Frau Wolf verunsicherte - dieses Nichtwissen, ob man den Herausforderungen gewachsen wäre, die die Erfüllung der eigenen Träume an einen stellen würden.
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