20
Jan
2014

Die freie Wildbahn

Menschen mit Hörproblemen werden Berufe mit tumultösem Sitzungsbetrieb oder Hintergrundlärm meiden. Sie werden eher nicht Radiofrau, Telefonistin oder Börsenmaklerin. Das ist das Wesen einer Behinderung: Sie hindert einen an gewissen Dingen - manchmal auch daran, seinen Traumberuf auszuüben. Auch ich übe nicht mehr die Tätigkeit aus, in der ich einmal glücklich gewesen bin. "Aber ich habe eine gute Lösung gefunden. Ich bin zufrieden", sagte ich neulich bei einem Treffen von Menschen mit Hörproblemen.

Nun können schwerhörige Menschen ausgezeichnet Gesichtsausdrücke lesen. Denn eine Miene sagt oft mehr als 1000 Worte - allerdings oft auch etwas anderes. Ich nehme an, dass meine sechs Gesprächspartner in meinen verzogenen Mundwinkeln lasen, dass das nur die halbe Wahrheit ist.

"Ich habe Mühe das zu glauben", sagte denn auch Frau Wolf, die im Unterschied zu mir seit ihrer Kindheit schlappohrig ist. Sie selber habe jahrelang damit gehadert, dass sie nie eine Tätigkeit in lauter und hektischer Umgebung habe ausüben können. "Das hätte ich geliebt. Ich habe mich oft gefragt: Wie ist das Leben für jemanden, der gut hört? Wie fühlt es sich an, all diese Möglichkeiten zu haben?" Frau Wolf ist eine lebhafte Person mit einem wachen Verstand. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie in einem betriebsamen Büro mit viel Ein und Aus und schnellen Reaktionszeiten glücklich gewesen wäre.

Neulich sah ich am Fernsehen einen Film über Labormäuse. Bei den bedauernswerten Nagern verändert sich in Gefangenschaft das Gehirn - weshalb sie oft ohne Ende im Kreis herumrennen. Hier sieht man so etwas, so ab Sekunde 16. Den Rest erspart man sich lieber.

"Wissen diese Tierchen, dass sie bedauernswert sind?" fragte ich mich. "Sind sie unglücklich, dass sie nicht in Freiheit leben können? Wissen sie überhaupt, dass es die freie Wildbahn gibt?" Plötzlich erinnerte ich mich an das, was Frau Wolf gesagt hatte. Ich muss gestehen: Ich fühlte mich diesen Mäusen ähnlich.

Nun muss ich mit aller Deutlichkeit sagen: Der Job, den ich heute habe, ist alles andere als ein öder Käfig. Ich mag ihn. Im Vergleich zu allem, was nach den gesundheitlichen Katastrophen des Jahres 2009 in meinem Arbeitsleben hätte passieren können, ist er eine prima Sache. Ich glaube sogar, dass ihn auszüben mein Gehör einigermassen stabil hält.

Es ist mehr der Mangel an Optionen, der mir manchmal das Gefühl gibt, wie eine gefangene Maus im Kreis zu rennen. Und während ich meine Kreise ziehe, nagt etwas an mir: Ich weiss nicht mehr, ob ich überhaupt in freier Wildbahn bestehen würde, wenn ich denn keine chronische Krankheit hätte.

Vielleicht ist es genau das, was auch Frau Wolf verunsicherte - dieses Nichtwissen, ob man den Herausforderungen gewachsen wäre, die die Erfüllung der eigenen Träume an einen stellen würden.

18
Jan
2014

Zärtlichkeit

Geschäftsessen in stilvollem Ambiente. Kollege Launig, Chef der anderen Abteilung, hat das alles organisiert und kümmert sich liebevoll um das Wohl der Gäste. "Gehts Dir gut Fröschli?" fragt er mich, als wir mit Essen und Wein wohl versorgt sind.

"Wunderbar", kann ich gerade noch sagen, bevor Wanda einwirft: "He, Sepp, wie nennst Du Monika?!" Ihre Stimme hat einen Anflug von Verblüfftheit, aus der auch Missbilligung werden könnte. Sie hat ein spitzes Gesicht mit einem Hunger drin, den kein gutes Essen je stillen wird.

"Er nennt mich Fröschli", sage ich lächelnd, "Das macht er seit 1995."

Plötzlich bin ich wieder in jenem Grossraumbüro, in dem ich meine ersten redaktionellen Arbeiten für eine dem Untergang geweihte Zeitung verrichtetete. Wenn ich aufblickte, sah ich den Rücken von Launig. Er wand sich auf seinem Bürostuhl, schnauzte ab und zu jemanden an oder warf aufstöhnend einen Gegenstand auf den Tisch. Er war dabei, eine seiner legendären Kolumnen zu gebären.

Seither habe ich in all den Jahren höchstens 20 Sätze mit ihm gewechselt. Er nannte mich immer Fröschli. Als ich noch jung und ehrgeizig war, habe ich mir ein- oder zweimal überlegt, wie ich es ihm austreiben könnte. Aber irgendwie kam die richtige Gelegenheit dann doch nie.

Jetzt erkenne ich es als Ausdruck einer Zärtlichkeit wie ich sie schon ein paarmal unter langjährigen Berufskollegen beobachtet habe - auch wenn sie sich nicht besonders nahe stehen. Sie beruht auf einem uralten Wissen, das sie über einander haben. Manchmal - aber nicht nur - kommt sie unter dem Einfluss einer moderaten Menge Alkohol sehr berührend zum Tragen.

Aber das kann ich Wanda nicht erklären. Und es liegt nicht einmal daran, dass sie keinen Wein trinkt.

11
Jan
2014

Buchtipp

Eben ist dieses Buch endlich auf Deutsch herausgekommen. Die Übersetzung soll ausgezeichnet sein, stand im "Tages-Anzeiger". Das kann ich leider nicht beurteilen. Ich habe das englische Original gelesen.

Dennoch empfehle ich das Buch unbedingt, auch wenn ich einen Kritikpunkt habe. Ich habe es selber wie im Rausch gelesen - nach kleinen Anfangsschwierigkeiten, zugegeben. Alles an diesen Geschichten ist verknappt, komprimiert, fragmentarisch. Da steigt man nicht ein wie in einen 0815-Roman.

Vielleicht habe ich es nicht zuletzt deshalb so gemocht, weil es im Grunde über mich ist. Nun gut, es spielt in London - und zwar abseits der Touristenströme, in Kilburn, im wilden Nordwesten der Grossstadt. Dort, wo die Postleitzahlen mit NW beginnen eben. Wo viele Migranten leben. Aber zwei der Hauptfiguren sind Frauen, in denen ich mich ständig wiedererkannte.

Da ist Leah, das rothaarige Mädchen mit dem kleinbürgerlichen Hintergrund. Sie ist clever genug, um an die Uni zu gehen. Aber eigentlich weiss sie nicht, was sie dort mit sich anfangen soll - und wählt als Studienfach das in ihren Augen geringste Übel: Philosophie. Wir lernen sie kennen, als sie längst wieder nach Kilburn zurückgekehrt ist. Sie hat einen frustrierenden Job und ist verheiratet. Ihr Mann ist sexy, aber sonst stinkbieder. Geld ist wenig da. Sie kifft viel. Und sie tut merkwürdige Dinge, um nicht schwanger zu werden. Aber warum?

Leahs beste Freundin seit Kindertagen ist Natalie. Das heisst: Als Kind hiess sie Keisha. Im Unterschied zu Leah strotzt sie vor Zielbewusstsein. Sie kommt aus der afrokaribischen Unterschicht, und sie kämpft sich durch das britische Klassensystem nach oben: Sie wird Anwältin, ändert ihren Namen, heiratet einen Banker aus privilegiertem Hause, hat zwei Kinder. Aber dann steht sie da in ihrer Villa am schicken Ende von Kilburn und erkennt sich selber nicht wieder.

Das Buch fängt grossartig den Sound, die Sprache von London ein. Es beschreibt wunderbar die Beziehung, das Wesen und die Perspektiven der beiden Frauen. Auch das gesellschaftliche Klima rundum und die Malaise der beiden. Doch woher kommt Leahs Pessimismus, woher Natalies Selbstverlust? Die Erklärungsversuche im Buch greifen zu kurz (auch wenn sie hier sehr gut nachgezeichnet werden). Da fehlt mir im Buch etwas. Das ist mein Vorbehalt.

Vielleicht macht uns Smith eben doch nicht ganz nachvollziehbar, was es heisst, an einem Ort wie Kilburn aufzuwachsen.

Nun wüsstet Ihr gern, warum ich mich in diesen Figuren wiedererkannt habe. Aber da müsst Ihr jetzt selber raten.

Zadie Smith: London NW. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.

8
Jan
2014

Kleine Mädchen und die Ökonomie

Lego ist wieder da! Und wie! Zu Weihnachten bekam mein Gottenbub Tim (8) zwei Bausätze des Spielzeugriesen für eine Eisenbahn. Und meine Nichte Carina (8) steht ja so auf Lego Friends!



Für alle Nichtkenner: Lego Friends ist eine Linie für kleine Mädchen. Sind die Teile einmal zusammengesetzt, bedienen sie die allerpeinlichsten Girlie-Klischees. Pink dominiert. Es gibt fünf Freundinnen - und natürlich Pferde. Und man kann beim Spielen ohne Ende Frisuren, Accessoires und Schminkzeug herumschieben.

Carina besitzt schon vier oder fünf Friends-Bausätze. Lego muss boomen.

Wir spielten ein bisschen. Doch nach fünf Minuten hatte ich genug Frisuren umplatziert. Ich sehnte mich nach den guten, alten Lego, mit denen schon mein Bruder und ich gespielt hatten. Damals gab es multifunktionale Bausteine, mit denen sogar ich gerne Häuschen mauerte. Zum Spielen brauchte es dann einfach Phantasie. Mit diesem alten Steinen haben auch Carina und ich schon köstliche Stunden verbracht.

Aber eben. Heute macht man nicht mehr genügend Rendite mit Spielsachen, die zwei Generationen lang halten.

Wohl gerade der Zeitlosigkeit ihrer Produkte wegen kriselte Lego vor einer Weile. Ich erinnere mich noch gut an die langen Gesichter in unserer Region, als das Unternehmen 2005 seine Fabriken in Willisau und Steinhausen schloss. Sogar das Schweizer Fernsehen berichtete darüber. Das dänische Unternehmen verlegte ganze Produktionsketten nach Tschechien.

Und man kam weg von der Multifunktionalität. Damit Brüderlein und Schwesterlein derselben Generation gleich zweimal Lego brauchen, fabriziert man Mädchen-Spielzeug und Buben-Spielzeug. Pink für Mädchen. Eisenbahnen für Buben. Jetzt schreibt die Firma Rekordgewinne.

Ich finde es zwar gut, dass die Lego-Arbeiter in Tschechien Arbeit haben. Und doch jagt mir diese rosarote Wolke im Mädchenzimmer den kalten Schauer über den Rücken. Da werden Mädchen - und Buben - stereotype Rollenbilder geradezu aufgedrängt. Res Strehle, Ökonom und heute Chefredaktor des Tages-Anzeigers, hat solche Entwicklungen schon 1994 in diesem Buch* prognostiziert:

Im Kapitel "Das schlanke Patriarchat - Neuauflage des Sexismus" steht:"Der 'Sieg' der Marktwirtschaft und ihr Vordringen in neue Bereiche haben dazu geführt, dass den Frauen zugeschriebene Eigenschaften mit neuer Konsequenz vermerktet werden. 'Frauenspezifisches Marketing' heisst das Schlagwort, ... dazu gehört das handliche Kleinauto ('Panda') genauso wie das Light-Bier in der gestylten Flasche. Frau selber wird via Markt mit ihren angeblich frauenspezifischen Eigenschaften radikal in Wert gesetzt ..." (Seite 73 -4).

Soweit so gut. Nur: Wird das unseren geliebten, kleinen Mädchen dereinst im Erwachsenenleben schaden? Ja und nein, sagt Strehle. Frauen könnten innerhalb dieser Rollenklischees durchaus in Top-Positionen aufsteigen: "... als für die emotionale Stabilisierung des Personals zuständige Personalchefin, als für das Wohlbefinden der Medien verantwortliche Pressechefin" (S. 74).

Diese Vision finde ich jetzt nicht ganz so negativ wie Herr Strehle. Wichtig ist ja, dass Frauen die Option haben, in der Arbeitswelt gutes Geld zu verdienen - und durch ihre Arbeit auch neue Rollenbilder zu schaffen.

Und doch. Buben Eisenbahnen, Mädchen pink? Kann so reale Gleichheit entstehen?

*Res Strehle: "Wenn die Netze reissen - Marktwirtschaft auf freier Wildbahn" ; Zürich : Rotpunktverlag 1994 (und ein Dankeschön an den Kulturflaneur, der mich an das Buch erinnert hat)

4
Jan
2014

Schwindel

Am Silvesterabend hatte ich einen Schwindelanfall. Nichts Schlimmes. Etwa Stufe drei auf meiner achtstufigen Richterskala der Meniere-Schwindelanfälle. Am nächsten Morgen hatte ich ihn vergessen, war etwas verkatert und schrieb einen larmoyanten Neujahrs-Blogbeitrag.

Ich möchte auch nicht nachträglich klagen. Es geht mir hier nur darum, präzis zu beschreiben, wie es war.

Es passierte nach einem gemütlichen Abendessen bei Freunden. Wir waren zu viert, vertraute Bekannte, bei denen ich mich wohl fühle. Dann tat sich plötzlich Leere unter meinem Kopf auf. Es gibt diese zarte Stelle unter dem Rand des Schädels, genau da, wo sich hinter den Ohren der Schädelknochen leicht anhebt.



Kurz bevor Os temporale und Os occipitale aufeinander treffen.

Wenn man seine Finger fest auf die Stelle drückt, kann man seinen Puls spüren. Beim Meniere-Schwindel ist es, als würde dort das Gerüst aus Schwerkraft und Muskelspannung einstürzen, das den Kopf an seinem Platz hält. Man denkt nie an dieses Gerüst. Aber wehe, wenn es fällt! Dann gehen unfassbare Abgründe auf.

Wenn das Konstrukt nur an dieser Stelle einstürzt, kann ich damit umgehen. Ich kann meinem Rückgrat befehlen, gerade zu bleiben. Wenn ich stehe, kann ich mich irgendwo festhalten. Ich kann das Gleichgewicht in den Füssen und den Hüften suchen statt im Kopf. Ich hatte einen solchen Schwindelanfall letzten Herbst, als der Zahnart an meinem Gebiss herumschliff. Mein Kopf verweigerte den Dienst an der Schleifmaschine. Nur mein eiserner Wille konnte ihn halten.

An Silvester musste ich mich nicht sehr anstrengen. Der Schwindelanfall zog vorüber und kam nicht wieder.

Hatte ich zu viel getrunken? Ich glaube nicht. Ich war wohl so bei meinem vierten Glas Wein in drei Stunden. Von dieser Menge bekomme ich normalerweise keinen Schwindelanfall. Aber vielleicht forderte die ausdauernde weihnachtliche Fehlernährung mit Alkohol und Süssigkeiten ihren Tribut. Vielleicht war meinem System der hochfrequente Wechsel zwischen Familienfeierlichkeiten und dem Büro zu viel geworden.

Jedenfalls spinnen meine Ohren seither wieder. Hinter meinen Gehörgängen kleben Kugeln aus elektrisch geladenem Filz. Wenn Schall auf sie trifft, franst er aus.
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Journal einer Kussbereiten

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