30
Okt
2013

Ein schönes Tal

Wer meine letzten Beiträge über das Puschlav liest, denkt jetzt vielleicht: "Meine Güte, das ist ja ein schreckliches Tal! Dort gibt es ja nichts als vergessene Religionskriege und Totenschädel." Aber dieser Eindruck ist völlig falsch. Ja, das Poschiavo ist ein abgelegenes Tal. Seine Bewohner führten ein raues Leben, und viele tun das heute noch. Vielleicht gibt ihm gerade das seine herbe Schönheit.


(Irgendwo zwischen Poschiavo und Le Prese)

Für mich war das Tal die Entdeckung dieses Herbstes. Der Hauptort, Poschiavo, wirkt auf den ersten Blick wie irgendein Kaff in den Bergen. Aber der Kern des Städtchens - mit zwei Kirchen, einer katholischen und einer reformierten - prunkt mit einem barocken Sinn für Architektur. Jede Tür ist opulent geschnitzt, jedes Mäuerchen verziert.

Am Südende des Städtchens liegt eine besondere Sehenswürdigkeit: eine etwa 120 Meter lange Strasse mit Villen aus dem 19. Jahrhundert - das Spaniolenviertel, die Via dei Palazzi. Dort stellten heimgekehrte Auswanderer ihren Reichtum zur Schau. Sie hatten ihn in den Grossstädten Europas im Zuckerbäcker-Handwerk erworben.



Auf der anderen Strassenseit liegen die Gärten zu den Villen.

Die meisten Villenbesitzer waren protestantisch - denn es waren die Protestanten, die hier ein Handwerk erlernten und auswanderten. Die Katholiken waren Bauern und klebten an der Scholle.

Vielleicht hat mich das deshalb so fasziniert, weil mir solche Geschichten - Landflucht, Religionsgerangel, Schollenkleberei - auch wenn sie ein bisschen italienisch angehaucht sind irgendwie selber in den Knochen sitzen.

29
Okt
2013

Religionsstreit in der Metzgerei

Mitten im Sommer 2012 verstarb der Tigervater. Damals zogen wir für ein paar Tage bei seiner späten Liebe ein, der Serenissima. Tags gab es viel zu tun, und wir waren gefasst. Abends machten wir uns die Stunden leichter, indem wir einander Geschichten erzählten.

Die Serenissima ist im Puschlav aufgewachsen - und als wir neulich ein paar Tage dort unten waren, habe ich oft an sie gedacht.

Sie erzählte, dass es dort Katholiken und Protestanten gab - und dass die beiden Gruppen strikt getrennt lebten. "Wenn jemand redete, konnte man hören, ob er katholisch oder reformiert war. Die Katholiken sprachen Wörter anders aus als wir", sagte unsere protestantische Serenissima. Reformierte hätten nur bei Reformierten eingekauft und Katholiken nur bei Katholiken.

Aber dann habe ein protestantischer Metzger eine Katholikin geheiratet. Was für eine Unordnung! Viele Reformierte hätten gar nicht mehr bei ihm eingekauft.

Und dann habe er auch noch katholisch zu sprechen begonnen! Das sei das Letzte gewesen! Wie konnte er nur!

Sie könne sich nicht erinnern, was aus dem Paar geworden sei. Heute sei das ja alles Humbug. Aber wahrscheinlich hätten nur noch Katholiken bei ihm eingekauft.

25
Okt
2013

Das Haus der Totenschädel



Ossario von Poschiavo - Beinhaus von Puschlav

Die katholischen Alpentäler der Schweiz haben - oder hatten früher - einen sehr lebendigen Totenkult. An strategischen Stellen in den Dörfern standen so genannte Beinhäuser, auch Ossuarien genannt. Darin waren - dekorativ aufgereiht - die Totenschädel der lokalen Ahnen zu besichtigen.

Noch in den achtziger Jahren fanden wir im Calancatal in einem Studienlager vor jedem Dorf ein Beinhaus. Es lag jeweils am Dorfrand, direkt an der Hauptstrasse. Wir waren fast noch Teenager und völlig fasziniert. Aus unseren Städten und Vororten waren solche Bauten längst verschwunden.

Man hatte früher vielerorts Beinhäuser, weil in den Friedhöfen der Platz nicht für alle reichte. So nach 25 Jahren grub man die Toten aus, reinigte ihre Gebeine und verbrachte sie ins Ossuarium. Dort konnten sie auf engerem Raum ruhen.

Warum man sie so gut sichtbar präsentierte, weiss ich allerdings auch nicht. In jenen abgelegenen Bergtälern sah es so aus, als wolle an den Fremden damit sagen: "Seht her! Schon so viele unserer Vorfahren haben mit ihren Grinden* den Bergen hier getrotzt! Uns könnt ihr nichts anhaben."

Das Puschlav ist zwar keine strikt katholische Gegend (dazu später mehr). Aber der Hauptort Poschiavo besitzt ein solches Beinhaus - oder Italienisch: ossario. Es steht gleich neben der katholischen Kirche, mitten im Dorf - und es ist ein kleines architektonisches Schmuckstück, 1732 erbaut.

Die Bilder zwischen den Schädeln erinnern die Betrachterin mit den barocküblichen Motiven an ihre eigene Sterblichkeit und an die moralische Endabrechnung im Jenseits. Oder - je nachdem: Daran, dass der Tod auch die Reichen holt - und dass es sich gar nicht lohnt, sich ein Stück von ihrem Wohlstand noch hienieden zu holen. Ein Beispiel:



Schliesst Ihr nur Eure Paläste
so fest Ihr wollt
Denn ich werde eintreten wollen
durch Öffnungen, die ihr gar nicht kennt.
**

* "Grind": Saloppes schweizerdeutsches Wort für Kopf, auch für "grimmige Miene". Auch Fasnachtsmasken heissen "Grind".
** Bin nicht ganz sicher, ob der zweite Teil der Übersetzung stimmt und offen für Anregungen und Korrekturen

23
Okt
2013

Der Italiener

Im Bahnhof von St. Moritz sprach mich ein Mann auf Italienisch an. Ob das hier neben uns der Zug nach Tirano sei, fragte er.

Ich stellte zuerst einmal fest: Ich bekam keine Panik, und ich verstand ihn tiptop. Das ist nicht selbstverständlich. Eine Zeitlang brach mir sogar der kalte Schweiss aus, wenn jemand mich auf Englisch ansprach - dabei kann ich ziemlich gut Englisch. Aber damals hörte ich sehr schlecht. Zurzeit höre ich merklich besser. Und mittlerweile habe ich gelernt, die Panik als normale Begleiterscheinung der Schwerhörigkeit zu akzeptieren. Andere Schlappohren kennen sie auch.

Ich verstand den Mann sehr gut und legte ihm eine Antwort hin, die er offenbar verstand und strahlte innerlich wie ein Maikäfer. Ich war in der richtigen Verfassung für die Bündner Südtäler.

Nicht-Kenner der Schweiz müssen wissen: In den Bündner Südtälern erreicht die sprachliche Vielfalt der Schweiz ihren fast schon babylonischen Höhepunkt. Man denkt ja: Bündner Berge? Aha: Rätoromanisch! Aber weit gefehlt!

In St. Moritz jedenfalls sprachen im Jahr 2000 nur noch rund 20 Prozent der Einwohner das Latein der Bündner. Die anderen? Wahrscheinlich Schweizerdeutsch. Oder vielleicht auch Portugiesisch, Kosovarisch oder Tamilisch wie die schweizerischen Zimmermädchen, Küchenhilfen und LieferwagenfahrerInnen. Oder Hochdeutsch oder Slowakisch wie die Schweizer KellnerInnen. Oder Italienisch, Deutsch, Russisch oder Japanisch wie die Gäste, die der Region St. Moritz jährlich an die zwei Millionen Logiernächte bescheren.

Nur 25 Kilometer weiter südlich aber - im Poschiavo - sprechen die Einheimischen Italienisch. So kam es, dass wir zwei Tage später innert kurzer Zeit an zwei verschiedenen Orten vorbeifuhren, die auf Deutsch schlicht "Seeblick" heissen würden: Derjenige im Poschiavo hiess Miralago. Derjenige im oberhalb St. Moritz Guardalej. Nun gut: Man sieht nicht denselben See, und zwischen den beiden Seeblicken liegt immerhin ein 2300 Meter hoher Pass, die Bernina.

Um mich doch noch zu verunsichern, behauptete Herr T. steif und fest: "Ja, im Poschiavo sprechen sie zwar Italienisch. Aber sie sagen nicht 'buongiorno', sondern 'bundi'." Was eigentlich rätoromanisch wäre.

Ich hätte gerne nachgeprüft, ob Herr T. recht hatte. Aber das ging dann nicht. Denn die Leute im Poschiavo waren entweder selber Touristen und sagten "grüezi" oder "buongiorno". Oder sie sahen uns an, dass wir Touristen waren und sagten guten Tag" oder "buongiorno".

20
Okt
2013

Deutsche und Schweizer: der Unterschied

Einen zentralen Unterschied zwischen Schweizern und Deutschen begriff ich, als wir im Sommer in Sachsen waren. Er betrifft die Sprache. Bei ihrem Gebrauch schöpfen die Deutschen ihre Kraft aus der Einheitlichkeit. Hochdeutsch ist eine grosse Kultursprache. Sie bietet einen sicheren, tiefen Halt in den Strömungen der Vielfalt. Sie ist der Fixstern im sprachlichen Kosmos der Deutschen.

Das kann auch merkwürdige Auswirkungen haben. Meine deutsche Freundin Helga ist nur etwa 30 Kilometer von der französischen Grenze entfernt in einem durchaus bildungsnahen Haus aufgewachsen. Einmal hat sie mir erzählt: "Ich habe erst mit zehn Jahren begriffen: Meine Güte, es gibt Menschen, die wirklich eine andere Sprache als Deutsch sprechen!"

Für mich war das total anders: Ich bin in der Deutschschweiz aufgewachsen. Das Wissen, dass die Leute anderswo anders sprechen, habe ich mit der Muttermilch aufgesogen. Meine Eltern waren mässig gebildete Deutschschweizer. Aber sie hatten ihre Zeit "im Welschen" absolviert, und sie konnten Französisch und waren stolz darauf. Und ein paar Takte Italienisch und wenig Englisch.

Mit 16 sassen meine Schweizer Freundin und ich in Italien am Strand und übersetzten in einer Gruppe Teenager-Touristen zwischen Deutsch, Italienisch, Englisch und Französisch hin und her. Natürlich radebrechten wir. Aber das war egal. Es funktionierte.

Das ist für uns Schweizer die Realität: Es gibt keinen sicheren Halt. Es gibt nur die Vielfalt. Das Netz, an dem wir uns durch sie hindurchhangeln, bauen wir uns selber. Es ist unterschiedlich korrekt gebaut und unterschiedlich tragfähig. Aber etwas anderes gibt es nicht. Hochdeutsch ist ein Knoten in diesem Netz - ein wichtiger, weil Hochdeutsch in der Deutschschweiz Schrift- und Amtssprache ist. Und weil Fremdsprachige vernünftigerweise Hochdeutsch vor Züri- oder Walliserdeutsch lernen. Aber es ist ein Knoten. Nicht mehr und nicht weniger.

Wohl deshalb wird um unsere Dialekte ein solcher Kult gemacht: Wenn wir überhaupt eine sprachliche Heimat haben, dann sind es unsere Dialekte. Aber gerade die Dialekte sind ja gelebte Vielfalt. Wir schöpfen unsere Kraft aus der Vielfalt, nicht aus der Einheitlichkeit.

Das soll kein Urteil sein. Ich sage nicht, dass die Schweizer oder die Deutschen besser sind. Es ist lediglich eine Feststellung.

Und jetzt rede ich nur von uns Deutschschweizern. Eine ganz neue Dimension sprachlicher Vielfalt erlebten wir auf unserer Reise in die Schweizer Südtäler - aber dazu später mehr.
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