1
Jun
2013

Aus der Unwetterzone

Mein Freund English versteht sich aufs Wetter, weil er einen Wettersatelliten-Radar gebaut hat. Zum Thema Regen hat er einen Lieblingssatz: "Zu jedem möglichen Zeitpunkt regnet es auf genau einem Prozent der Erdoberfläche." Den wiederholt er gerne, weil er mich damit zum Lachen bringt. Ich wohne in Luzern und damit auf jenem einen Prozent Erdoberfläche - sehr häufig.

Heute habe ich auch darüber gelacht - es war ein sarkastisches Lachen. Denn bei uns regnet es zurzeit so ausdauernd, dass auf allen anderen 99 Prozent der Erdoberfläche eine brutale Trockenzeit ausgebrochen sein muss. Wenn es jetzt noch warm wird und in den Bergen die gewaltigen Schneemassen des vergangenen Winters schmelzen, droht Hochwasser.

Über Nacht soll es deutlich wärmer werden.

Klar, dass es Frau Frogg zu einem Pegelstand-Spaziergang drängte: vom Luzernerhof dem Seeufer entlang bis zum Schwanenplatz, dann der Reuss entlang via Kreuzstutz und Xylophonweg bis zum Seetalplatz. Dort trifft die Reuss auf die Kleine Emme. Wobei die Kleine Emme bei Dauerregen überhaupt nicht mehr klein ist, sondern aggressiv anschwillt und von mitgerissenem Erdreich hellbraun wird. Die Reuss dagegen kommt aus dem See und ist blau oder grün. So kann man man vom Seetalplatz aus den braunen und den grünen Fluss noch kilometerlang nebeneinander im gleichen Bett fliessen sehen. Es dauert jeweils lange, bis sich die beiden Gewässer anfreunden.

Freudig überracht stellte ich fest, dass Veronika ebenfalls einen Pegelstand-Spaziergang vorhatte - Katastrophentourismus nannte sie es. Wir nahmen auch Tim (8) und seine grosse Schwester Anna mit.

Allerdings mussten wir unsere kühnen Pläne schon kurz nach dem Kreuzstutz, auch Teufelskreisel genannt, aufgeben: Der Xylophonweg reussabwärts war mit einem rotweissen Band gesperrt wie der Schauplatz eines Verbrechens. Die Reuss kam dort unten bereits über die Ufer. Wir fuhren mit dem Bus bis zum Seetalplatz und warfen einen kurzen Blick auf die überkochende Emme. Die Spazierwege dort sind auch schon gesperrt. Plötzlich konnte ich mir vorstellen, dass dieser Fluss 2005 eine dicht besiedelte, verkehrsreiche Region in ein Schlammloch verwandelt und einen Bekannten von mir in seinem Keller beinahe in den Tod gerissen hat.

Das kann böse werden.

Bilder gibts hier

26
Mai
2013

Epochale Erkältung

Gestern Morgen beim Aufwachen sagte ich halblaut "Hallo!?" zu mir selber. Ich tue das öfter, wegen meiner schwankenden Hörfähigkeit. Ich weiss gerne schon beim Aufstehen, ob ich mich selber noch sprechen höre. Dann kann ich mich besser auf die Herausforderungen des Tages vorbereiten.

Gestern Morgen hörte ich mich nicht. Ich war aber nicht sicher, ob es nur an meiner Gehörschwäche lag. Vielleicht lag es auch an meiner Stimme. Ich habe eine epochale Erkältung - vielleicht war ich einfach heiser.

"Eine Erkältung, das ist doch etwas Banales!" lästert ihr jetzt. Das hätte ich früher auch gesagt. Früher waren Erkältungen mir egal. Ich tat auch nichts gegen jenen epischen Husten, der mich in meinen Zwanzigern manchmal wochenlang begleitete. "Wenn man nichts gegen eine Erkältung tut, dauert sie 14 Tage. Wenn man etwas gegen sie tut, dauert sie zwei Wochen", pflegte meine Mutter zu sagen. Daran glaubte ich, auch wenn sie zwei Monate dauerte.

Das alles änderte sich, als meine Menière-Erkrankung eine ernste Sache wurde. Ich merkte, dass Erkältungen mir auf die Ohren schlagen. Manchmal nur für ein paar Tage. Manchmal für sehr, sehr lange. Ich begann, Erkältungen zu fürchten.

Je instabiler mein Gehör wurde, desto besser wurde meine meine Erkältungs-Prävention.

Ich griff zu Echinaforce und Vitamin C mit Zink - und ich mache täglich Spaziergänge. Ich war diszipliniert. Man könnte fast sagen: Die Erkältungs-Prävention strukturierte meinen Alltag. Und glaubt mir: Es half. Seit dem Frühjahr 2010 hatte ich keinen nennenswerten Schnupfen mehr gehabt.

Doch vor zwei Monaten wurde ich leichtsinnig. Es ging mir gut, ich wollte nicht ständig an Medikamente denken. Ich vergass das Vitamin C und das Echinaforce. Und am letzten Mittwoch überfiel mich eine Erkältung blitzschnell aus dem Hinterhalt. Es begann mit Schluckbeschwerden, wie üblich. Wobei das Wort "Schluckbeschwerden" die Sachlage nicht sehr genau bezeichnet. Es war vielmehr so: Jedesmal, wenn ich schluckte, jaulte zwischen Stirn und Schulterblättern jede Faser meines Körpers vor Schmerz.

Dann kam ein sintflutartiger Schnupfen. Und vorgestern Abend musste ich beim Einschlafen daran denken, dass die Ureinwohner Amerikas scharenweise an Erkältungen starben - einfach, weil sie keine Immunkräfte gegen die fremden Viren hatten.

Heute bin ich noch am Leben - und meinem Gehör gehts so gut, dass ich immerhin weiss: Ich bin sehr, sehr heiser.

20
Mai
2013

Er sagte laut: "Grüezi!"

Neulich begegnete ich in einem Schweizer Zug einem merkwürdigen Kondukteur*. Er sagt zu jedem Fahrgast ausserordentlich laut: "Grüezi!" oder "Billette bitte!" oder "Danke!"

Die Passagiere drehten sich nach ihm um. Sie hofften wohl, eine Spasskanone vor sich zu haben. Solche Menschen trifft man hierzulande gelegentlich im öffentlichen Dienst: Sie betrachten ihren Arbeitsplatz als Bühne für ihr mehr oder weniger sympathisches komödiantisches Talent und begegnen jedem Kunden mit einem blöden Spruch. Sie erfreuen sich erstaunlicher Beliebtheit. Es scheint einen stillen Konsens darüber zu geben: Man sollte jeden belohnen, der wenigstens versucht, unseren angeblich so stieren Alltag mit Humor zu beleben.

Aber dieser Schaffner war keine Spasskanone. Er sagte einfach nur sehr vernehmlich das Übliche. Er war seltsam. Er zog Aufmerksamkeit auf sich und belohnte sie nicht. Er war laut und blieb doch verschlossen.

Erst bei seinem zweiten Durchgang sah ich, dass er Hörgeräte trug.

Da wuchs meine Hochachtung für den Mann. Erst recht, als er einem englischsprachen Fahrgast eine Frage in gutem Englisch beantwortete. Und auch mein Respekt vor seinem Arbeitgeber wuchs. Ich habe selber lernen müssen: Zunehmende Schwerhörigkeit ist ein Hürdenlauf mit höchst sturzgefährlichen Hindernissen - gerade in einer Branche mit viel Kundenkontakt.

* auf Hochdeutsch: Schaffner.

16
Mai
2013

Die Fremde vom Friedhof

Neulich um 17.30 Uhr, draussen auf dem grossen Friedhof. Ich warte auf den Bus. Aber wahrscheinlich ist wieder irgendwo der Verkehr zusammengebrochen. Es dauert.

Im Bushäuschen sitzt eine alte Frau. Sie wartet auch.

Man spricht hierzulande keine Fremden an. Man hat sein Leben und keine Zeit für die Möglichkeiten und Gefahren, die sich aus solchen Begegnungen ergeben. Nur bei Überschwemmungen und chaotischen Verkehrssituationen sieht die Sache anders aus. Ich sage etwas zu ihr, sie lacht noch, und dann sagt sie plötzlich: "Sie! Mit meinem Kreislauf stimmt etwas nicht. Mir ist nicht gut. Wissen Sie, ich bin 93. Ich habe schon eine Streifschlag gehabt."

Ich schaue sie genauer an. Tatsächlich. Um die Augen herum ist sie so weiss, als hätte sie für ihren Besuch bei den Toten Kriegsbemalung aufgelegt. Sie zeigt mir die Innenseite ihres Augenlids. "Ist das blutunterlaufen?" fragt sie. Ähm..., es könnte schlimmer sein. Ich versuche sie mit Reden bei Sinnen zu halten und verfluche meine medizinische Ahnungslosigkeit. "Soll ich Sie ins Spital bringen?" frage ich. Das ist hier gleich um die Ecke. Aber das ist ihr zu anstrengend.

Schliesslich kommt der Bus.

Ich helfe ihr hinein. Sie lässt ihre Tasche fallen, ich hebe sie auf. Im Bus bekommt sie wieder ein Mü Farbe, ist aber immer noch unsicher. Bei der Apotheke aussteigen will sie aber nicht. "Nein, nein! Da müsste ich ja aufstehen!" sagt sie. Die Situation ist kompliziert. Braucht sie Hilfe oder nur Gesellschaft? Ist sie froh, dass ich da bin? Oder denkt sie, ich will mich aufdrängen?

Wir steigen unten an der Kreuzung beim See aus. Bei der Ampel sieht sie das Licht auf der anderen Seite nicht und hält leicht meinen Arm. Sie will ein Fläschchen Rivella. Sie sitzt und trinkt. Und redet. Ich mag sie. Sie gibt sich gern vornehm. Ich bin nicht sicher, ob sie nur die Tapfere spielt, oder ob es jetzt wieder besser geht.

Schliesslich gehe ich mit ihr zum Bus Nr. 24. Sie will selber nach Hause und steigt selber ein.

Ich fahre nach Hause und überlege lange, ob ich sie anrufen sollte.

12
Mai
2013

Der Traum vom Schreiben

Meine treuen Leserinnen und Leser wissen: Vor ein paar Jahren habe ich noch den Traum verfolgt, Schriftstellerin zu werden. Genauer: Krimiautorin. Ich habe 2009 ein weit fortgeschrittenes Projekt nicht zuletzt aus gesundheitlichen Gründen fahren lassen.

Seither habe ich - ausser auf diesem Blog - wenig geschrieben. Aber den Drang, Geschichten zu schreiben, habe ich immer noch. Zwei, drei Projekte habe ich vage verfolgt. Für eines habe ich einen Viertelplot und viele Notizen. Aber ich habe nicht richtig losgelegt, weil mich eine düstere Ahnung verfolgt. Eine Ahnung, die zu Worten wurde, als ich dieses Buch zu lesen begann.



Auf Deutsch heisst es Das Leben und das Schreiben - und es ist ein Buch mit viel Klartext über die Imagination und darüber, wie man sie zu Büchern macht. King schreibt (ich übersetze selber):

"Schreibende bilden eine Pyramide wie wir sie in allen Bereichen menschlichen Talents und menschlicher Kreativität vorfinden. Zuunterst sind die Schlechten. ... Über ihnen steht eine Gruppe, die etwas kleiner, aber immer noch gross ist. Das sind die kompetenten Schreiber. Die nächste Ebene ist viel kleiner. Hier sind die wirklich guten Schreiber. Und über ihnen allen - über fast allen von uns - sind die Shakespeares, die Faulkners ..." und so weiter. Es sei unmöglich, aus einem schlechten einen kompetenten Schreiber zu machen, so King. Aber es sei "mit viel harter Arbeit, Hingabe und Hilfe zur richtigen Zeit", möglich, aus einem kompetenten einen guten Autor zu machen.

Nun mache ich mir vielleicht etwas vor - aber ich habe mich immer für eine kompetente Autorin gehalten (King schliesst bei diesen Überlegungen JournalistInnen ausdrücklich ein, über BlogerInnen äussert er sich nicht). Also wären meine Chancen intakt, einmal eine gute Geschichte zu schreiben. Ich müsste nur genügend harte Arbeit und Hingabe aufbringen.

Doch genau hier liegt das Problem. Ich habe einmal hart an einem Roman gearbeitet. Ich habe mich sogar der Illusion hingegeben, dass es meiner Gesundheit guttun würde, einen Roman zu schreiben. Ich erlebte berauschende Momente. Doch meine Kräfte haben damals nicht gereicht. Und meiner Gesundheit genützt hat es auch nicht.

Es ist Zeit für mich, mich von einem Traum zu verabschieden, der mich ein Leben lang begleitet hat.
logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

März 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Kommentar
Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

Status

Online seit 7478 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 17. Sep, 17:51

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren