17
Apr
2013

Wenn die Patientin reist

Mein Leben ist ein ständiges Hin und Her zwischen Panik und fröhlicher Selbstüberschätzung. Das ist so, seit ich schwere Menière-Symptome auf dem rechten Ohr habe: Wenn ich Stress habe, werde ich auf dem rechten Ohr schwerhörig - manchmal so stark, dass ich nur noch mit grosser Mühe telefonieren kann. Das linke Ohr ist schon seit Jahren lädiert.

Die Schwerhörigkeit schränkt mich in akuten Phasen im Zwischenmenschlichen stark ein. Deshalb habe ich Angst vor akuten Phasen. Eine akute Phase kann ich schon bekommen, wenn ich Angst vor Stress habe. Klar, dass ich Stress meide wie der Teufel das Weihwasser.

Reisen ist für mich ein Stressfaktor. Eine Zeitlang wäre ich am liebsten gar nicht mehr verreist. Doch das passte Herrn T. nicht. Er drohte gar, mir deswegen seine Liebe zu kündigen. Zudem reise ich im Grunde fürs Leben gern. Man kann nicht nicht leben, dachte ich.

Also flogen wir vor zwei Jahren im Sommer in die Südtürkei. Ich kann das, dachte ich. Ich kenne die Gegend. Es ging mir gerade ziemlich gut. Ich freute mich wie ein kleines Kind. Doch dann musste ich feststellen: Ich hatte mich selbst überschätzt. Die Hitze war mir zu viel. Alle zwei Tage streikte mein Gehör. Ich lebte in Angst und Schrecken. Wir brachen die Übung verfrüht ab.

Letztes Jahr entschieden uns für ein ruhiges Plätzchen im nicht allzu heissen Tessin. Die Anreise war kurz. Auch unsere Wanderungen dauerten nie länger als drei, vier Stunden. Mein Gehör schwankte, aber in einem inzwischen normalen Bereich. Schwierigkeiten bekam ich erst, als wir eines Tages einen sechsstündigen Ausflug mit Fussmarsch nach Brissago machten. Ich liebte Brissago. Aber auf dem Rückweg im vollen Schiff ertaubte ich. Meine Ohren dröhnten.

Ich habe Lehren aus diesen Erlebnissen gezogen. Ich weiss: Allzu viel Wärme oder Kälte tun mir nicht gut. Lange Ausflüge tun mir nicht gut. Die enge öffentlicher Verkehrsmittel tut mir nicht gut. So hoffe ich, allmählich eine Mitte zwischen Panik und Selbstüberschätzung zu finden.

Im Sommer reisen wir nach Dresden. Das ist nur zwei Flugstunden weit weg. Die Jahresdurchschnittstemperatur ist gleich hoch wie bei uns. Auf uns warten Freunde, die uns vor dem Ankunftsstress in der Fremde bewahren werden. Ich freue mich wie Kind. Und doch habe ich ein bisschen Angst.

8
Apr
2013

War sie eine Verbrecherin?

Merkwürdige kleine Ironie des Alltags. Noch gestern haben mein Kumpel English und ich über Margaret Thatcher gesprochen. "Viele Leute sagen ja, sie sei kriminell gewesen", sagte English nachdenklich. Und heute geht die Meldung um die Welt, dass sie tot ist.



Dieses Poster hing 1986 in der Londoner WG von English. So sahen in den achtziger Jahren viele Briten Thatcher: als erbarmungslose kalte Kriegerin, als blindwütige Verbündete des neoliberalen US-Präsidenten Ronald Reagan (hier ein kritischer Nachruf).

Trotz des unzweideutigen Posters kursierten später Gerüchte in unserem Freundeskreis, English habe Thatcher für ihre erste Amtszeit gewählt. Er hat das gestern auch nicht dementiert - wir diskutierten vielmehr darüber, warum sie überhaupt gewählt wurde. Ich erzählte von diesem Buch, das ich eben fertiggelesen habe - mein Favorit dieses Bücherfrühlings, by the way, kommt sicher bald auch auf Deutsch.

Ian MacEwan skizziert darin eine Zeit, an die sich heute in Grossbritannien kaum jemand erinnern will: die späten sechziger und die frühen siebziger Jahre. Ok, die Leser dieses Blogs kennen die Periode aus unzähligen YouTube-Musikvideos. In den Filmchen aus jener Zeit wirkt ja vieles so unaufgeregt und heiter.

Aber vor den Konzerthallen war die Lage düster. Teile von London sahen aus wie der Prenzlauer Berg kurz nach der Wende. Landauf-landab löste ein Streik den anderen ab, und dann kam auch noch die Ölkrise. Als die dazu noch die Männer in den Kohlegruben streikten, tippten die Sekretärinnen in London mit Handschuhen und Zipfelmützen. Dazu der Kalte Krieg. Das einstige Empire torkelte dem Staatsbankrott entgegen.

Gut, Autor MacEwan ist gewiss kein Linker, das wird bei der Lektüre des Buches gleich auf mehrere Arten klar. Dennoch - die Leserin bekommt Verständnis dafür, dass die Briten die Eiserne Lady wählten. Sie versprach Ordnung bei den Finanzen und eine harte Hand gegenüber Streikenden.

Aber Zweifel sind erlaubt, ob sie ihr Land auf den richtigen Weg geführt hat.

7
Apr
2013

Nach Deutschland

Die meisten Schweizer betrachten Deutschland nicht als attraktive Reisedestination. Von Interesse ist für sie höchstens Berlin, wegen des grossstädtischen Flairs und der wechselhaften Geschichte. Sonst stellen wir Schweizer uns gerne vor, dass Deutschland dasselbe Wetter hat wie die Schweiz und wie die Schweiz aussieht - nur minus spektakuläre Landschaften, plus barsche Teutonen und mit einer streckenweise höchst unsympathischen Geschichte.

Natürlich - das sind alles Vorurteile. Ich war schon in Köln, Frankfurt am Main, Mannheim, Berlin und München - und ich fand die Deutschen fast immer sehr liebenswürdig und Deutschland gelegentlich kultivierter als die Schweiz.

Dennoch hätte ich den Grossen Kanton nicht als Sommerferiendestination gewählt. Wenn da nicht Frau Punctum gewesen wäre. Sie lud mich im letzten Herbst nach Dresden ein. Aber ich musste aus gesundheitlichen Gründen passen. Das hat mir seither keine Ruhe gelassen. Und dann sahen Herr T. und ich eines Abends beim Zappen Bilder von der Sächsischen Schweiz:


(Quelle: www.nationale-naturlandschaften.com)

Sieht zwar nicht aus wie die Schweiz, sondern eher wie ein feuchtkühles Colorado. Aber ist das etwa keine spektakuläre Landschaft? Und ideal zum Wandern, hiess es. Herr T. und ich warfen einander einen Blick zu. Wir hatten uns entschieden, noch bevor wir ein Wort gewechselt hatten: Dorthin fahren wir in die Sommerferien zum Wandern. Und wir besuchen Frau Punctum.

In den letzten Tagen wurden unsere Pläne konkreter. Ich lese sogar jetzt schon einen Reiseführer zu Dresden und der Sächsischen Schweiz gekauft. Nun muss ich nur noch diesen merkwürdigen Reflex besiegen: Jedesmal wenn ich das Wort "Schweiz" in "Sächsische Schweiz" lese, schrecke ich auf wie ein Hund im Korb, wenn er draussen ein Geräusch hört. Es ist ein Journalistenreflex. Er lässt mich auch reagieren, wenn ich irgendwo "Luzern" oder "Zentralschweiz" lese - beide Begriffe sind für meine Arbeit relevant. Herr Pawlow hätte seine Freude an mir.

Ich muss mich noch an den Gedanken gewöhnen, dass hier "sächsisch" relevant ist und nicht "Schweiz".

5
Apr
2013

Paranoia vom Kiffen

Als ich zum vierten Mal kiffte, schrieben wir das Jahr 1982. Alles begann wie im Bilderbuch. Wir inhalierten unseren Joint auf dem Dietschiberg bei grandiosem Blick auf die Lichter der Stadt.


(www.fotocommunity.de)

Danach fuhren wir hinunter ins Downtown – die Bar war damals der Austragungsort für einen nachmitternächtlichen Exzess. Und da passierte es: Ich bekam einen leichten Anfall von Verfolgungswahn.

Warum ich das jetzt erzähle? Zurzeit wird in der Schweiz heftig über die Auswirkungen des Cannabiskonsums diskutiert - zum Beispiel hier. Da sehe ich mich gedrängt, mein halbes Gramm Lebensweisheit zum Thema beizusteuern.

Wir standen mit unseren Bieren in der Bar. Jemand schaute auf meinen chicen, kurzen Rock, und plötzlich wusste ich, was er dachte. Sie ist eine Hure, dachte er. Alle im Lokal dachten das. Oder sie dachten, ich sei strohdumm und hässlich. Ich wusste, dass das wahrscheinlich Unsinn war - und doch fühlte es sich an, als würden sie das denken. Es war unheimlich.

Als es nicht mehr aufhörte, begriff ich: Ich hatte gerade eine winzig kleine, noch etwas unschlüssige Paranoia. Ich hatte schon Leute mit einer ausgewachsenen, wütenden Paranoia gesehen. Ich wusste, dass das nichts für mich war. Es ist für niemanden etwas.

Ich gehe nach Hause und warte, bis es vorbei ist, dachte ich.

„Kein Problem, wir fahren Dich!“ sagten einer der Kumpel und stellte sein Bier hin. Aber mir war eingefallen, dass ich mein Fahrrad beim Rathaussteg abgestellt hatte. Die frische Luft würde die Ausnüchterung beschleunigen. Ich fuhr allein nach Hause. Es ging vorbei.

Seither habe ich nie mehr gekifft. Ich habe auch - soweit ich weiss - nie mehr psychische Probleme dieser Art gehabt. Wenn mir nach einem hübschen Rausch ist, trinke ich einen Schnaps oder ein paar Gläschen Wein.

Von meiner generellen politischen Orientierung her müsste ich eigentlich für eine Cannabis-Legalisierung sein. Schliesslich wird nicht jeder vom Kiffen psychisch krank. Und doch. Eine solche Erfahrung verändert das Bewusststein. Heute denke ich: Es merkt nicht jeder, wenn er dabei ist, psychisch krank zu werden. Denn bei uns sind psychische Krankheiten ein so grosses Tabu, dass eigentlich nur Experten und irgendwie Betroffene die Alarmsignale erkennen. Bevor sich das ändert, sollte Kiffen illegal sein. Das erhöht die Hemmschwelle für den Einstieg. Es sollte sich ändern.

29
Mrz
2013

Portmonee verloren

Auf einem Spaziergang zum Südpol machte ich gestern einen Stop im Café Arlecchino. Ich trank etwas, las zwei Zeitungen und ging weiter. Es dunkelte. Und es regnete. Eine gewaltige Hand schüttete aus einem gewaltigen Eimer zähes, klebriges Wasser über die Stadt. Es war wie in einem Aquarium. Im Südpol angekommen griff ich in meine feuchte Manteltasche und merkte: MEIN PORTMONEE IST WEG!

Eine Katastrophe! Der Mensch ist ja nichts ohne seine Bankkarten, seine Krankenkassenkarte, seine Identitätskarte und sein Bargeld. Und wie sollte ich bei diesem Wetter meinen schwarzen Geldbeutel auf der Strasse wiederfinden?!

Dann fiel mir ein: Er musste mir im Arlecchino aus der Hosentasche auf die Sitzbank gerutscht sein. Sowas ist mir auch schon passiert. Zum Glück hatte ich wenigstens mein Handy noch. Sofort rief ich ins Arlecchino an, und tatsächlich: Die Frau nach mir hatte das Portmonee prall voll an der Bar abgegeben. Ich schwöre: Ich werde das Arlecchino zu meinem Stammlokal machen!

Ich hätte den Geldbeutel auch heute Morgen holen können. Aber ich ging sofort los. Ich hätte eine unruhige Nacht gehabt ohne all den Plastik in meiner Obhut, der anderen sagt, wer ich bin.

Diesmal wollte ich den Bus nehmen. Aber es passierte, was immer passiert, wenn man im Südpol die Nerven verliert: Die Nummer 31 fährt Dir direkt vor der Nase weg - und die fährt nur alle 15 Minuten. Ich ging also wieder mal zu Fuss los. Nur bis zum Grosshof, schwor ich mir. Dort fährt die Nummer 1 alle vier Minuten stadteinwärts. Es regnete immer noch.

Und: Die Nummer 1 kam nicht. Während drei Einsen stadtauswärts durch die Wasserlachen rauschten, passierte stadteinwärts einfach gar nichts. Irgendwo draussen in Kriens musste eine endlose Schlange aus blauen Bussen warten. Ich stand im Wartehäuschen fluchte.

Bis mir einfiel: Ich kann ja gar nicht mit dem Bus fahren. Das Bus-Abo ist in meinem Portmonee.
logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

März 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Kommentar
Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

Status

Online seit 7477 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 17. Sep, 17:51

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren