29
Aug
2012

Der Selbsthass der Journalisten

Manche Sätze lösen ein befreiendes Rauschen im Kopf aus. Sie rufen einen Schwarm von Gedanken herbei, die sich irgendwann ordnen und die Welt stimmig erklären. So ging es mir mit: "Etwas um seiner selbst willen gut zu machen, ist eine Fähigkeit, ... die sich bei den meisten Menschen findet, aber diese Fertigkeit geniesst in modernen Gesellschaften nicht das Ansehen, das sie eigentlich verdiente." Er stammt aus dem Vorwort dieses Buches*:



Er versetzte mich in die Zeit zurück, als ich für eine Zeitung mit einer Auflage von etwa 120000 Stück schrieb. Plötzlich begriff ich, was ich in jenen Tagen manchmal so schmerzhaft fand: Es war der Hass der Journalisten auf ihr eigenes Handwerk. Niemand sprach darüber. Aber ich spürte ihn, und er tat weh. Denn ich war eine Journalistin, die gute Texte schreiben wollte. Texte, die Freude am Lesen bereiten. Texte, die relevante Informationen vermitteln. Doch Texte bestehen leider Gottes aus Buchstaben. Und Buchstaben waren Zeitungsmachern ein Gräuel. Der Journalistenjargon kennt ein hässliches Wort für eine Seite mit zu vielen Buchstaben: Bleiwüste.

Ich hänge gewiss nicht dem Glauben an, nur ein langer Text sei ein guter Text. Aber in jenen Jahren war im Grunde jeder Text zu lang. Es war die grosse Zeit der Gratiszeitungen. Bezahlzeitungen ahmten die am Markt erschreckend erfolgreichen, neuen Produkte nach. Das A und O des guten Zeitungsmachens waren starke Bilder und fetzige Titel. Der Rest? Etwas für Schöngeister und Wirrköpfe.

Wir Schreiberlinge klagten selten. Was hätten wir sagen sollen? Es war ein Privileg, überhaupt seinen Lebensunterhalt mit Schreiben zu verdienen. Journalist/in war ein Traumjob. Gleichzeitig verschwanden die Jobs in der Branche jährlich zu Hunderten. Auch bei uns verschwanden Kollegen. Wir hatten keine Zeit, unseren Selbsthass zu spüren. Wer es trotzdem tat, galt als eitel oder unbelehrbar.

"Du bist bei uns nicht am richtigen Ort", hat einmal ein Chefchen zu mir gesagt. "Du willst im Grunde etwas ganz anderes." Er wusste nicht, was er genau sagen wollte. Und ich habe ihn nicht verstanden. Ich wollte doch nie etwas anderes als schreiben. Gute Texte schreiben.

Ich fühlte mich wie ein Idiot.

Aber seit ich den Satz von Sennett gelesen habe, verstehe ich das alles. Ich will nicht behaupten, dass ich eine brilliante Journalistin hätte werden können. Aber ich fühle mich wenigstens nicht mehr wie ein Idiot.




* Richard Sennett: "Zusammenarbeit", Hanser, Berlin, 2012

28
Aug
2012

Extravagante Baronin

Die Frau auf diesem Bild hatte ein stürmisches, ein tragisches Leben. Mit 29 heiratete bereits zum dritten Mal. Ich begegnete ihr während unserer Sommerferien im Tessin. Die Reise scheint Welten weit weg, aber die Frau ist mir in Erinnerung geblieben.


(Quelle: ticinarte.ch)

Es ist Antoinette de St. Léger, geborene Antonietta Bayer, eine Dame aus dem russischen Hochadel. Ihre Biographie ist aufs Engste mit der Geschichte der Brissago-Inseln verknüpft. Dass sie ein Paradies der Wärme und der kraftvollen Farben sind, das verdanken sie auch ihr.



(Bild oben links von mir, Rest von Herrn T.)

Madame kam 1885 mit ihrem dritten Gatten, Baron Richard Fleming de St. Léger, in die Schweiz. Er hatte etwas, was sie bislang nicht gehabt hatte: Geld. Damit kauften die beiden die kleinen Inseln im Lago Maggiore. Der Spiegel schreibt 1949, die zwei idyllischen Fleckchen Erde seien einst der Liebesgöttin Venus geweiht gewesen. Im armen und stockkatholischen Tessin des 19. Jahrhunderts hatte aber niemand Zeit für Venus. Das Land gehörte einem Kloster. Es gab dort nur Mücken und Trümmerhaufen. Doch das adlige Paar sah Potenzial für die Verwirklichung eines Hobbys von Monsieur: der Botanik. Die Brissago-Inseln sind ein ideales Plätzchen für tropische Gewächse. Es gibt dort fast nie Frost. Fortan liessen sich die beiden Pflanzen aus aller Herren Länder heranschiffen.

Aber Madame interessierte sich nicht nur für Blumen. Sie betrieb auch hoch spekulative Geschäfte - und verlor viel Geld. Das war laut Wikipedia der Grund, weshalb der Baron zwölf Jahre später die Ehe mit ihr kappte und sich nach Neapel absetzte. Blogger Paul Doolan legt nahe, dass auch die unersättliche Begierde der Baronin nach erotischen Abenteuern zur Zerrüttung der Ehe beigetragen habe. Schade, dass er keine Quellen nennt.

Wie dem auch sei: Madame blieb auf den Inseln und wurde zur beliebten Gastgeberin der künstlerischen Avantgarde: Rainer Maria Rilke, Giovanni Segantini und James Joyce waren bei ihr zu Besuch. Letzterer kam 1919 und war laut Blogger Doolan not amused über Madame. Sie habe sieben Ehemänner zu Grabe getragen, ohne ihnen eine Träne nachzuweinen, soll er geschrieben haben.

Wahrscheinlich hätte er das alles anders gesehen, wenn die Baronin noch jünger gewesen wäre. Aber ihre besten Tage waren vorbei. Sie soll noch wunderschöne Puppen fabriziert haben - aber sie war halt schon 53 und fast pleite. Ihre Prozessierfreudigkeit und - wahrscheinlich - der Tod ihres Ex-Mannes 1922 gaben ihr den Rest. 1927 verkaufte sie ihr Inselparadies - was sie nur vorübergehend über die Runden brachte. Sie wurde zum Sozialfall und verbrachte ihre letzten Tage in Ascona und im Altersheim des Bergdorfs Intragna. Die Bauern dort oben dürften nicht auf sie gewartet haben. Aber sie war zählebig: Sie starb erst 1948.

25
Aug
2012

Ein Ende



Diese Ikone der Kleinbürgerlichkeit ziert unser Treppenhaus, seit ich es kenne. Und das sind jetzt doch 11 Jahre. Das Tischchen gehört unserer Nachbarin, Frau Baumgartner.

Gestern Morgen war es nicht an seinem angestammten Platz im zweiten Stock. Sondern unten, bei der Haustür. Jemand hatte es hinuntergetragen, um die Tür damit offenzuhalten. Ich sah es, blieb stehen und verspürte ein stilles Erdbeben. Ich wusste: Frau Baumgartner zieht aus.

Das kam zwar nicht ganz unerwartet. Frau Baumgartner ist gegen 90 und hat lange auf einen Platz im Altersheim gewartet. Sie hatte Schmerzen, das sah man. Aber ich habe sie in letzter Zeit selten gesehen. Ich hatte sie ein paarmal besucht, ihr meine Hilfe angeboten. Sie schien nichts zu wollen. Doch ich konnte ihre Hinfälligkeit im Treppenhaus riechen. Es war ein unheimlicher Geruch, ein dicker Breigeruch. Manchmal stieg er bis herauf in unsere Wohnung. Herr T. ignorierte ihn, aber mich beunruhigte er. Ich wusste: Es ist der Geruch des Verfalls.

Trotz all dieser Vorzeichen: Der Weggang von Frau Baumgartner erschüttert die selische Tektonik unseres Hauses wie ein Erdbeben der Stärke 6. Er hat eine stabile Erdschicht herausgerissen. Noch weiss niemand, was in das entstandene Loch hineinfallen wird.

Nicht, dass Frau Baumgartner eine besonders nette Nachbarin gewesen wäre. Sie gehörte jener Generation von Hausfrauen an, denen Hugo Lötscher in seinem Buch Der Waschküchenschlüssel ein schonungsloses Denkmal gesetzt hat. Ihre Hausgemeinschaft war für diese nicht auf Rosen gebetteten Frauen ein Ort der Engherzigkeit. Eine Engherzigkeit, die sie selber hart hatten erlernen müssen - und die sie unnachgiebig jüngeren Frauen aufzwangen. Erst unsere Frauengeneration hat gelernt, sich dieser Welt zu entziehen. Die Berufstätigkeit hat uns befreit und die Nachbarschaft zur Nebensache gemacht. Unsere Welt ist grösser, und sie hat neue Rangordnungen.

Aber das bedeutet auch, dass wir kaum zu Hause sind.

Frau Baumgartner war klug genug, das zu akzeptieren. Sie liess uns unser Leben und lebte ihres. Aber sie war da.

Wohl deshalb werden wir Frau Baumgartner vermissen: Sie war immer da. Sie war die Seele unseres Hauses. Mitsamt Stoffblumen und Gartenzwergen.

22
Aug
2012

Was Eltern können müssen

Dieses Buch liest sich wie ein sarkastischer Ratgeber für werdende Mütter und Väter.

width=50% Der Titel müsste eigentlich heissen: So werden wir furchtbare Eltern. Es liest sich, als hätte die Autorin in behördlichen Akten über gescheiterte Familien recherchiert. Als hätte sie dann einer grausamen Phantasie ein paar üble Geschichten elterlicher Boshaftigkeit entlockt. Gut gemischt. Und fertig war ein packendes Horror-Märchen.

Das geht dann so: Schon mit drei kocht die Ich-Erzählerin alleine Würstchen auf einem offenen Gasherd. Die Kleine hat Hunger, und Mama ist beschäftigt. Sie sitzt nebenan und widmet sich ihren Künstlerallüren. Erst als das Kind in Flammen steht, wird sie aufmerksam. Sie erstickt das Feuer und bringt das Mädchen ins Spital. Dort brechen goldene Zeiten für die Kleine aus: Sie bekommt regelmässige Mahlzeiten, Leute kümmern sich um sie. Aber dem Mädchen bleibt nicht viel Zeit, gesund zu werden: Der Vater verkracht sich mit den Ärzten und entführt die Kleine kurzerhand. Wenig später flüchtet die Familie bei Nacht und Nebel in einen anderen Bundesstaat - nicht das letzte Mal, wie sich bald herausstellt. Die Familie ist vollkommen verwahrlost. Die Eltern sind mit ihren vier Kindern ständig auf der Flucht. Weil der Vater etwas ausgefressen hat. Weil kein Geld mehr da ist. Einmal darf die Kleine ihre Katze nicht mitnehmen und wehrt sich. Doch die Mutter ist Weltmeisterin im Fach "Rhetorik für kleine Kinder": "Katzen reisen nicht gern", erklärt sie der Dreijährigen. Mama ist übrigens auch Meisterin im Fach "positives Denken". Den Blick für die Bedürfnisse ihrer Kinder hat sie erst gar nicht entwickelt. Sie sollen sich früh selber durchschlagen lernen, lautet die Losung.

"Reichlich übetrieben", dachte ich, "Effekthascherei." Dann las ich irgendwo auf dem Buchrücken der englischen Ausgabe das Wörtchen "Memoir". Und tatsächlich: Die Erzählerin heisst Jeannette Walls.

Ich holte erst mal Luft. Dann dachte ich: "Naja, wenn es nicht wahr ist, ist es wenigstens kühn erfunden." Dann las ich weiter, gespannt. Die Geschichte hat herzzerreissende Stellen. Oft drehen sie sich um Vater Rex und seinen raubeinigem Charme. Er beschenkt seine Kinder mit der reichen Gabe seiner unendlichen Phantasie. Aber er ist auch ein Alkoholiker und lässt sie auf unendlich viele Arten im Stich. Wir lieben und hassen ihn mit der Hilflosigkeit seiner Tochter.

Trotz allem: Jeannette wird schliesslich erwachsen und eine tüchtige Journalistin. Sie kommt zu Geld. Sie nimmt von irgendwo die Fähigkeit, diese kraftvollen "Memoiren" zu schreiben. Sie wirft schwierige Fragen auf und gibt unbequeme Antworten. Zum Beispiel: Was müssen Eltern ihren Kindern mitgeben, damit Erziehung gelingt? Mütter mit Künstler-Allüren kommen jedenfalls schlecht weg.

Und, eine andere Frage: Darf man seine Eltern in einem Buch auf diese Art schlecht zu machen?

18
Aug
2012

Sie machen Lärm

Sie haben es auf mich abgesehen. Sie, das sind die Typen von der Weltverschwörung der Krachbrüder. Sie sind mir ihren Waffen hinter mir her: mit einem ganzen Arsenal von Mofas und Vespas, mit Presslufthämmern, Laubbläsern, motorisierten Baumscheren, Schleifmaschinen. Sie sind bestens organisiert. Sie lauern mir auf, wo immer sie können. Sie warten mit ihren Motorrädern, bis ich vorbeigehe. Erst wenn ich ganz nahe bin, werfen sie den Motor an. "Brrrmmm! Brrrorrrmmm!! BROARRRMMMM!!!" Wahrscheinlich macht jemand mit versteckter Kamera Filmchen von meinem schmerzverzerrten Gesicht - und die ganze Brüderschaft verlustiert sich abends daran. Am liebsten wäre ihnen wohl, ich würde mich wimmernd auf der Strasse winden.

Oder so fühlt es sich jedenfalls an im Moment.

Denn ich bin wieder mal schwerhörig - und die paradoxe, die ausgesprochen fiese Nebenwirkung einer gewissen Art von Schwerhörigkeit ist die Lärm-Empflindlichkeit. Oder auf Fach-Chinesisch: die Hyperakusis.

Wenn ich die Hyperakusis habe, dann passieren mir Geschichten wie diese: Ich gehe am Mittag schnell aus dem Büro nach Hause - die Ohropax vergesse ich. Ich wohne ja an einer stillen Nebenstrasse. Und die Baustelle gleich nach der Kurve ist seit Tagen verwaist. Glaubte ich - auf dem Rückweg ins Büro stelle ich jedoch fest: Die Krachbrüder haben sie eingenommen - und sie haben einen Presslufthammer. Ich schalte mein Hörgerät links ab, halte mir rechts das Ohr zu und biege hastig in eine noch stillere Seitenstrasse. Das hier ist mein Terrain. Hier kenne ich jeden Winkel, hier kriegen sie mich nicht. Am Eingang des Strässchens steht ein Motorrad - eine Frau kommt, greift zum Schlüssel und.... Es gibt also auch Krachschwestern!

Aber ich boote auch sie aus. Bevor der Motor aufbraust, biege ich in das stillste aller Seitensträsschen ein. Die Krachschwester scheint das Interesse an ihrem Töff* verloren zu haben. Und der Presslufthammer ist jetzt weit weg.

Da kreischt im dritten Haus links eine Schleifmaschine auf. Ein heimwerkender Krachbruder geniesst seine Sommerferien. "WWWIIIIAAAAUUUU!!!!! WIIIIIIAAAAUUUUUUUUUUUUIIIII!!!!"

1 : 0 für die Krachbrüder. Ich werde gleich wahnsinnig. Ich eile in mein Büro und mache die Tür hinter mir zu. Hier habe ich meine Ruhe, oder vielmehr: nur noch meinen Tinnitus.

Aber keine Sorge: Ich lerne schnell. Mein Ohropax habe ich seither wieder konsequent im Ohr. Ich habe die wächsernen Freunde mittlerweile gut im Griff. Wenn ein mir freundlich gesinnter Mensch mit mir sprechen will, reicht ein Griff mit dem Zeigefinger - und ich habe sie so zusammengedrückt, dass der Schall problemlos durch den Gehörgang kommt.

Was mein Innenohr dann damit macht - naja, das ist eine andere Geschichte.

* Schweizerdeutsch für Motorrad
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