16
Mai
2012

Kind auf dem Friedhof

Anatol (8, bald 9) hat ein ausgeprägtes Flair für Zahlen. Wie besessen studiert er die Ranglisten von Sportereignissen - sehr zur Verwunderung seines an Sport eher desinteressierten Vaters. Auch Frau Frogg's neuer Schrittzähler weckte sofort sein Interesse.

Bei einem Spaziergang kamen wir mit ihm über dem Friedhof. Nun, ich gebe zu: Es gibt kindgerechtere Spaziergänge als jenen durch unseren städtischen Hauptfriedhof. Aber Anatol schien unsere Routenwahl überhaupt nicht zu stören. Im Gegenteil: Ständig blieb er stehen, rechnete, wies auf einen Grabstein und rief fröhlich: "Schau mal: Der ist 73-jährig geworden!" Oder, beim Gemeinschaftsgrab eines Nonnenordens: "Guck, die Frau da wurde 103 Jahre alt!" - Tatsächlich: Da lag eine Nonne, die von 1856 bis 1959 gelebt hatte. Ganz nebenbei lernten wir Erwachsenen: Das Klosterleben muss schon früher aussergewöhnlich gesund gewesen sein.

Und ich fragte mich: Sind solche Rechnereien für einen Achtjährigen einfach nur Rechnereien - oder sind sie erste Versuche, das Leben irgendwie zu ermessen?

12
Mai
2012

Dazugehören

In meiner Zeit als Lokaljournalistin habe ich, weiss Gott, eine Menge Vereinsversammlungen gesehen. Aber jene, bei der ich kürzlich war, war die Aussergewöhnlichste. Im Saal sassen rund 50 Frauen - etwa ein Drittel von ihnen im Rollstuhl. Unter zwei Stühlen ruhten Blindenhunde - und vorne gestikulierten zwei Gebärdendolmetscher. Die Präsidentin, stark schwerhörig, führte mit zwei Mikrofonen souverän und selbstbewusst durch den Anlass. Es war die Jubiläumsfeier eines Netzwerks für Frauen mit Behinderung.

Am Eingang drückte man mir nicht nur den Jahresbericht in die Hand, sondern auch einen Stimmrechtsausweis. Das heisst: Ich gehöre zu diesem Verein. Mit einem unerwarteten Glücksgefühl griff ich nach dem gelben Zettel. Ich bin sonst kein Vereinsmeier. Während meiner Zeit als Journalistin beobachtete ich solche Anlässe liebend gerne still und machte mir so meine Notizen. Aber diesmal nahm ich den Ausweis nicht nur. Ich reckte ihn auch freudig in die Höhe, wenn wir - meist einstimmig - über ein Traktandum abstimmten.

In den Pausen diskutierten und plauderten wir. Die Frauen sind klug, viele gut ausgebildet, viele abgeklärt. Viele haben mehr durchgemacht als ich. Und doch erlauben sie sich zu denken, stehen sie im Leben. Ich ahnte: Irgendwo gibt es etwas anderes als diese perspektivearme Existenz in meinem düsteren Bürokabäuschen, die ich zurzeit führe.

Doch dann kehrte ich zurück in mein Städtchen, zurück zu meinen einsamen Spaziergängen, zurück in mein Bürokabäuschen. Und mir wurde klar: Ich habe keine Ahnung, wie ich aus dieser Existenz wieder herauskomme. Vielleicht, dachte ich plötzlich, vielleicht will ich sie sogar.

Da verging mir sogar die Lust aufs Bloggen.

Flaschengrüne Aussichten

Es ist kein gutes Zeichen, wenn ich keine Lust zum Bloggen habe. Schreiben gibt mir Kraft. Es ist bei mir wie bei diesem kampflwütigen Riesen in der griechischen Mythologie: Er bekam seine Kraft von Mutter Erde. So lange er sie berührte, war er unbezwingbar. Antaios hiess er. Als Herkules ihn besiegen wollte, hob er ihn in die Luft.


(Bild von Antonio Pollaiuolo ca. 1478)

Da war es aus mit dem Riesen. Wenn ich nicht schreibe, dann fühle ich mich wie Antaios in den Armen von Herakles. Ich schwebe in der Luft, aber ich kann nicht mehr atmen. Das Licht ist weich und flaschengrün, und es erstickt mich. Manchmal denke ich, nur schreibend könnte ich überhaupt zur Riesin werden.

2
Mai
2012

Flucht vor sich selber

Albert Nobbs ist mit Sicherheit der traurigste Film, den ich je gesehen habe. So tief bedrückt wie nach diesem Streifen habe ich das Kino noch nie verlassen. Und dennoch: Wer bereit ist, einen Abend lang zu leiden, um durch die Kunst die menschliche Seele besser zu verstehen, sollte ihn sich ansehen.

Wenn uns die griechischen Philosophen die Jahrhunderte herunter zurufen: Werde der Du bist, so tut Albert Nobbs genau das Gegenteil: Er ist und bleibt viel zu lange, was er nicht ist - und zeigt, wie tragisch das ist.



Denn Albert Nobbs ist eine Frau. Aber das darf niemand wissen, weil Nobbs (Glenn Close) sich eine Existenz als Mann aufgebaut hat: Er kellnert in einem versnobbten Hotel im Dublin des späten 19. Jahrunderts. Schon ein Fleck auf seiner Krawatte könnte diese Existenz zerstören und ihn ins Elend draussen stürzen. Was, wenn erst noch auskäme, dass er eine Frau ist!? So ist er penibel, still und stets bemüht, nicht gesehen zu werden.

Nun kann eine Frau, die sich als Mann ausgibt, durchaus glücklich werden. Das zeigt eine andere Frau im Film, die sich als Mann ganz offensichtlich sehr wohl fühlt. Doch die Lage von Albert ist viel schwieriger. Er hat seine Weiblichkeit nicht nur für eine berufliche Existenz weggeworfen: Vieles an seinem zutiefst verklemmtem Wesen legt nahe, dass er sie einfach nicht mehr ertragen hat. Kein Wunder, erfährt man: Er wurde als Vierzehnjährige von einer ganzen Männerrotte vergewaltigt.

So sitzen wir im Kinostuhl, und Alberts Angst macht uns ganz angespannt. In jeder unendlich langsam gefilmten Einstellung sehen wir diese Angst. Ausser ihr hat er nicht viel. Naja, er hat ein kleines Vermögen in seinem Personalzimmer versteckt. Und er hat - scheinbar - einen Traum. Er will einen kleinen Tabakladen kaufen. Und heiraten. Dabei bekommt er Hustenanfälle vom Rauchen. Und wie er der süssen Helen den Hof zu machen versucht, ist einfach nur qualvoll mitanzusehen.

Er ist besessen von seinem Geld - auch, weil es in seinem Leben nichts anderes gibt.

Natürlich endet das tragisch. Es kann gar nicht anders enden.

Nur erwarten wir als Kinogänger, dass uns der Film wenigstens einen Hoffnungsschimmer auf den Heimweg gibt. Dass er uns die bittere Pille mit einem Spritzer Sinn versüsst. Und auf seine eigene Art tut er das auch. Aber seid gewarnt: Es ist ein sehr kleiner, sehr zweifelhafter Spritzer für eine sehr bittere Pille.

30
Apr
2012

Sturm

Ein Föhnsturm brettert über den Vierwaldstättersee
Im Hafen wirft er Boote auf und ab
Sie quieken wie mechanische Säue

Metall knallt auf Metall
Die Glocken einer manischen Kuhherde

Drüben irrlichtert die Sturmwarnung
Und irgendwo wird geschossen, scheint es

Ein Schauspiel! Ein Hörspiel! Grossartig!

29
Apr
2012

Furz

Zu Unrecht ist Die Asche meiner Mutter von Frank McCourt beinahe vergessen.

In den Neunzigern war die Autobiografie eines irischen Amerikaners ein Megaseller, ein wuchtiges, lyrisches und sehr witziges Buch. Am Mittwoch schaute ich mir die DVD zum ersten Mal an. Eine Szene fand ich ausgesprochen merkwürdig: Held Frank (11) liegt schwer krank im Spital in Limerick. Er bekommt vom Priester die letzte Ölung. "Das heisst, das ich sterben werde", erzählt der Held aus dem Off. "Und es machte mir nichts aus. Aber dann kam Doktor Campbell herein und hielt meine Hand. Da wusste ich, dass es mir bald besser gehen würde."

Hier sieht man im Bild den Arzt auf dem Stuhl herumrücken. Frau Frogg - an jenem Tag merklich schwerhörig - runzelte die Stirn über die lange Pause an dieser Stelle. Endlich kam eine Erklärung: "Denn ein Arzt würde nie in in der Gegenwart eines sterbenden Kindes furzen". Da begriff Frau Frogg und wartete auf den Furz. Der kam aber nicht.

Am Freitag schaute ich mir den Film nochmals an. Nicht, weil er ein Meisterwerk ist. Es regnet darin sogar für meinen Geschmack zu viel. Aber ich hörte plötzlich besser und wollte mir nochmals das wunderbare Englisch der zwei Hauptdarsteller Emily Watson und Robert Carlyle anhören.

Diesmal hörte ich auch den Furz von Doktor Campbell - an der dramaturgisch exakt richtigen Stelle.



Da wusste ich, dass es mir wieder besser geht.

Eigentlich sollte ich das gar nicht erzählen. Erstens schreiben Damen nicht über Fürze, und zweitens kann mein Ohr schon heute wieder absaufen.

Ich tue es trotzdem. Man kann Hörenden gar nicht oft genug erklären, was man im Leben verpasst, wenn man nicht hört. Es ist ist nicht immer etwas Lebenswichtiges. Manchmal ist es nur ein Fürzchen. Aber manchmal ist es genau der Ton, der die Musik macht.
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