3
Mrz
2012

Zerbrochener Vogel

Ich sass am Waldrand auf einer Bank. Die Sonne schien. Es ging mir gut, ich konnte sogar Musik hören. Das erste Mal seit einem Monat.

Da schleppte sich eine Frau mit Krücken heran. Sie hievte sich neben mich auf die Bank. Sofort wusste ich: Ich muss mit dieser Frau sprechen. Vielleicht weiss sie Antwort auf eine meiner drängenden 2387 Fragen über das Leben mit einer Behinderung.

Nun braucht es ziemlich viel Sozialkompetenz, um in der Schweiz auf einer Bank am Waldrand mit einer Unbekannten ins Gespräch zu kommen. Aber die Not schenkte mir die richtigen Worte. "Haben Sie das schon lange?" fragte ich und wies auf die Krücken. "Ziemlich", sagte sie. Sie habe vor 14 Jahren einen Unfall gehabt und leide seither an einer inkompletten Paraplegie. "Ich war 29", sagte sie. "Ich war in einem Alter, in dem meine Kollegen anfingen, so richtig abzuheben. Und ich lag da wie ein zerbrochener Vogel. Oh ja, es war ein schwerer Einschnitt." Sie beginnt leise zu weinen.

"Das tut mir sehr leid", sagte ich.

Dann redeten wir lange und gingen zusammen langsam durch den Wald. Es zeigte sich schnell, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben. Wir lachten. Ich hoffe, dass wir uns wieder sehen werden.

Ich ging nach Hause und war glücklich. In der Nacht hatte ich einen weiteren Hörsturz.

1
Mrz
2012

Wenn die Zeit stillsteht

Die Sonne scheint. Ich liege auf dem Sofa und lese.



Der Roman weckt in mir die Erinnerung an eine Welt, die ich nur beinahe erlebt habe. Langsam wird es Abend. Ich bin beinahe glücklich. Ich lege das Buch zur Seite. Ich sollte aufstehen. Ich habe in der Stadt mit einer Freundin abgemacht. Aber ich will nicht aufstehen. Ich bleibe reglos liegen. Ich verstecke mich in meiner Ruhe. Ich blicke in den blauen Himmel hinter dem Fenster. Wenn ich ganz ruhig bleibe, denke ich, wenn ich ganz ruhig bleibe, dann vergisst mich die Zeit. Dann kann ich hier liegenbleiben und muss mich nie wieder fürchten.

25
Feb
2012

Gewöhn Dich dran!

Einem Bekannten gestand ich neulich: "Ich bin mit den Nerven fertig, weil mein Gehör im Moment alle zwei Tage abstürzt." Mittlerweile erholt es sich gar nicht mehr richtig. Nur gerade so gut, dass ich überhaupt merke, dass es wieder abstürzt. Er - ich nenne ihn den Geölten Blitz - sagte: "Aber Du weisst doch, dass das zu Deiner Krankheit gehört. Gewöhn Dich doch einfach dran."

Ich bin ein braves Mädchen, deshalb dachte ich: "Wahrscheinlich hat er recht. Wahrscheinlich müsste ich das können. Wahrscheinlich bin ich einfach zu schwach. Ängstlich, labil und zu nichts zu gebrauchen." Dann entdeckte ich diesen Text bei Susanne.

Seither weiss ich: Es ist ganz normal, dass ich mit den Nerven fertig bin.

Jetzt geht es wenigstens meinen Nerven etwas besser.

24
Feb
2012

Brenzliges in der Nacht

Gestern hatte ich sturmfrei. Herr T. ist ausgegangen. Vor dem Zubettgehen setze ich den Teekessel auf. Das Ding ist alt und stellt manchmal nicht mehr selber ab - aber item. Ich laufe davon und tue am anderen Ende der Wohnung - ich weiss nicht mehr was. Ich habe im Moment Mühe, mich zu konzentrieren. Eine unangenehme Nebenerscheinung meiner häufigen Hörstürze.

Item. Irgendwann fällt mir der Teekessel ein, und ich gehe ich zurück in die dunkle Küche. Ich höre ein merkwürdiges Rieseln. Ich kann es - wegen meiner Gehörschwäche - nicht erkennen und nicht lokalisieren. Es klingt, als würde die Abwaschmaschine laufen. Aber die habe ich doch gar nicht angemacht! Das Fenster über der Abwaschmaschine ist beschlagen. Es möttelet* alarmierend. Doch die Lämpchen der Abwaschmaschine sind aus, und wenn ich die Hand drauflege, spüre ich kein Rumpeln und sie ist kalt. Ich fasse an die Fensterscheibe. Tatsächlich beschlagen. Regnet es so heftig? Nein, überhaupt nicht.

Erst danach fällt mein Blick auf den Teekessel. Verdammt! Er hat nicht von selber abgestellt und kocht seit zehn Minuten! Verdunstetes Wasser überall - aber kaum mehr genug für eine Tasse Tee im Kessel. Der Griff ist zu heiss zum Anfassen. Noch eine Minute und das Ding hätte zu glimmen begonnen.

* Schweizerdeutsch für den Geruch von überhitztem Kunststoff.

22
Feb
2012

Mittagessen mit einer Schwerhörigen

Nach meinem gestrigen Beitrag über mein einsames Mittagessen scheint einiger Erklärungsbedarf zu bestehen. Auch wenns ein langer Eintrag wird: Ich werde jetzt doch mein letztes, gescheitertes Mittagessen mit Kollegen schildern - damit Ihr ungefähr nachvollziehen könnt, wo mein Probleme liegen.

Es begann ganz gut: Ich war zuerst am Tisch und konnte mir den für mein schwaches Gehör besten Platz aussuchen. Robi und Flavia setzen sich zu mir. Ich kenne beide oberflächlich als liebenswürdige und amüsante Gesprächspartner. Gefragt ist lockere Konversation zu einem kurzen Mittagessen.

Kaum sitzen sie, hebe ich an: "Ich muss Euch unbedingt noch sagen: Ihr müsst...." In diesem Moment springt Robi auf. Er hat etwas am Buffet vergessen. Soll ich meinen Satz jetzt beenden oder nicht? Ja, ich beende ihn, halt zu Flavia. "...Ihr müsst laut und deutlich sprechen. Ich bin seit zwei, drei Tagen sehr, sehr schwerhörig."

Flavia lacht: "Ok, wir werden schreien!"

Wir kommen zuerst auf die Buchpreisbindung zu sprechen, ein aktuelles Abstimmungsthema. Sie hat eine andere Meinung als ich. Ich kann Flavia akustisch ziemlich gut verstehen. Und doch bin ich irritiert und etwas verkrampft. Denn meine Argumente sind schwach. Ich bin in diesen Tagen völlig durch den Wind. Gelegentlich ertappe ich mich dabei, wie ich einen Satz gerade zum fünften Mal lese. Wie soll ich da gescheit über die Buchpreisbindung diskutieren? Und meine Argumente klingen noch schwächer, wenn ich mich - wie neuerdings üblich - selber wie aus fünf Metern Distanz sprechen höre.

Ausserdem ist Robi zurück und interessiert sich offensichtlich nicht die Bohne für den Buchpreis. Also frage ich Robi bei nächster passender Gelegenheit, ob er an der Fasnacht gewesen sei.

Unterdessen haben sich die Leute vom Büro West an den Tisch hinter Robi gesetzt. Sie reden und klappern mit ihrem Geschirr.
Robi antwortet: "M...---... pfz..---..ghe!"
"Bitte?!" sage ich.
Robi erhebt nochmals seine Stimme, aber die hinten sind lauter. Ich verstehe rein gar nichts. Ein zweites Mal nachzufragen, wäre
1) peinlich
2) unhöflich
3) wahrscheinlich sinnlos - weil ich ihn auch beim dritten Mal nicht verstehen würde.

Unter normalen Umständen würde ich so einer Situation mit einem Witz begegnen. Aber glaubt mir: Die Lust zum Witzeln ist mir nach dem mpfzehnten Hörsturz in zwei Monaten abhanden gekommen.

Es wird still an unserem Tisch. Dann beginnen - Gott sei Dank - Robi und Flavia zu einander zu sprechen. Ich esse still. So annähernd verstehe ich, worum es geht. Ich fädle ein zweites Mal ins Gespräch ein. "Geht doch", denke ich. Irgendwann kommen wir dann doch auf meine Schwerhörigkeit zu sprechen. Ich erkläre ihnen die Hintergründe und dass ich am linken Ohr ja schon ein Hörgerät habe.

Da sagt Flavia: "Aber wenn Du trotzdem so schlecht hörst, ist ja das Hörgerät schlecht." Sie sagt es in diesem Ton, den Journalisten manchmal haben: Sie sagen damit auch, dass sie alles wissen und für alles einen Schuldigen finden. Ich sage noch: "Nein, das Hörgerät funktioniert ganz gut. Dank meinem Hörgerät kann ich mich beim Frühstück einigermassen vernünftig mit meinem Mann unterhalten. Aber bei diesem Umgebungslärm bin ich eben verloren."

Sie wollte mich bestimmt nicht verletzen. Ich weiss selber nicht, was mich an diesem einen Satz so unglaublich ermüdet und entnervt. Aber ich entscheide genau in diesem Moment, dass ich mein nächstes Mittagessen allein zu mir nehmen werde.
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