22
Feb
2012

Mittagessen mit einer Schwerhörigen

Nach meinem gestrigen Beitrag über mein einsames Mittagessen scheint einiger Erklärungsbedarf zu bestehen. Auch wenns ein langer Eintrag wird: Ich werde jetzt doch mein letztes, gescheitertes Mittagessen mit Kollegen schildern - damit Ihr ungefähr nachvollziehen könnt, wo mein Probleme liegen.

Es begann ganz gut: Ich war zuerst am Tisch und konnte mir den für mein schwaches Gehör besten Platz aussuchen. Robi und Flavia setzen sich zu mir. Ich kenne beide oberflächlich als liebenswürdige und amüsante Gesprächspartner. Gefragt ist lockere Konversation zu einem kurzen Mittagessen.

Kaum sitzen sie, hebe ich an: "Ich muss Euch unbedingt noch sagen: Ihr müsst...." In diesem Moment springt Robi auf. Er hat etwas am Buffet vergessen. Soll ich meinen Satz jetzt beenden oder nicht? Ja, ich beende ihn, halt zu Flavia. "...Ihr müsst laut und deutlich sprechen. Ich bin seit zwei, drei Tagen sehr, sehr schwerhörig."

Flavia lacht: "Ok, wir werden schreien!"

Wir kommen zuerst auf die Buchpreisbindung zu sprechen, ein aktuelles Abstimmungsthema. Sie hat eine andere Meinung als ich. Ich kann Flavia akustisch ziemlich gut verstehen. Und doch bin ich irritiert und etwas verkrampft. Denn meine Argumente sind schwach. Ich bin in diesen Tagen völlig durch den Wind. Gelegentlich ertappe ich mich dabei, wie ich einen Satz gerade zum fünften Mal lese. Wie soll ich da gescheit über die Buchpreisbindung diskutieren? Und meine Argumente klingen noch schwächer, wenn ich mich - wie neuerdings üblich - selber wie aus fünf Metern Distanz sprechen höre.

Ausserdem ist Robi zurück und interessiert sich offensichtlich nicht die Bohne für den Buchpreis. Also frage ich Robi bei nächster passender Gelegenheit, ob er an der Fasnacht gewesen sei.

Unterdessen haben sich die Leute vom Büro West an den Tisch hinter Robi gesetzt. Sie reden und klappern mit ihrem Geschirr.
Robi antwortet: "M...---... pfz..---..ghe!"
"Bitte?!" sage ich.
Robi erhebt nochmals seine Stimme, aber die hinten sind lauter. Ich verstehe rein gar nichts. Ein zweites Mal nachzufragen, wäre
1) peinlich
2) unhöflich
3) wahrscheinlich sinnlos - weil ich ihn auch beim dritten Mal nicht verstehen würde.

Unter normalen Umständen würde ich so einer Situation mit einem Witz begegnen. Aber glaubt mir: Die Lust zum Witzeln ist mir nach dem mpfzehnten Hörsturz in zwei Monaten abhanden gekommen.

Es wird still an unserem Tisch. Dann beginnen - Gott sei Dank - Robi und Flavia zu einander zu sprechen. Ich esse still. So annähernd verstehe ich, worum es geht. Ich fädle ein zweites Mal ins Gespräch ein. "Geht doch", denke ich. Irgendwann kommen wir dann doch auf meine Schwerhörigkeit zu sprechen. Ich erkläre ihnen die Hintergründe und dass ich am linken Ohr ja schon ein Hörgerät habe.

Da sagt Flavia: "Aber wenn Du trotzdem so schlecht hörst, ist ja das Hörgerät schlecht." Sie sagt es in diesem Ton, den Journalisten manchmal haben: Sie sagen damit auch, dass sie alles wissen und für alles einen Schuldigen finden. Ich sage noch: "Nein, das Hörgerät funktioniert ganz gut. Dank meinem Hörgerät kann ich mich beim Frühstück einigermassen vernünftig mit meinem Mann unterhalten. Aber bei diesem Umgebungslärm bin ich eben verloren."

Sie wollte mich bestimmt nicht verletzen. Ich weiss selber nicht, was mich an diesem einen Satz so unglaublich ermüdet und entnervt. Aber ich entscheide genau in diesem Moment, dass ich mein nächstes Mittagessen allein zu mir nehmen werde.
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