21
Jan
2012

Filmtipp

Gestern liess ich mich von acqua aus meiner selbstgewählten Einsamkeit locken. Eigentlich wollten wir zusammen den neuesten Kino-Knüller aus Frankreich sehen: Intouchables (ziemlich beste Freunde). Doch der war ausverkauft. Kein Wunder: Er hat hierzulande einen richtigen Medien-Hype ausgelöst.

Also wichen wir auf einen Streifen aus, der im kleinsten Saal unseres Stammkinos lief: le gamin au vélo (zu Deutsch: "Der Junge mit dem Fahrrad").



"Oje, französischer Problemfilm!" dachte frau frogg. Aber der Streifen erwies sich als Bijou. Er lebt von der unglaublichen Tour de Force seines Hauptdarstellers, des elfjährigen Thomas Doret alias Cyril. Cyril sucht seinen Vater - mit seiner ganzen, enormen Sturheit und jeder Menge gerissenen Tricks. Er büxt aus dem Heim aus, in dem er lebt. Er übertölpelt Lehrer, Erzieher, einen Abwart. Er rennt und rennt und rennt und fährt Velo - im Gesicht die heilige, herzerweichende Verbohrtheit eines Kindes."Pitbull" nennen ihn die bösen Buben im Quartier. Der Name passt.

Das Treffen mit dem Vater wird - nicht ganz unerwartet - zur Katastrophe. Nun bleibt dem Bub nur noch die Coiffeurin Samantha. Diese kümmert sich an Wochenenden um ihn. Gern hätte frau frogg erfahren, warum die junge Frau sich des schwierigen Knaben annimmt. Aber Erklärungen dazu bleibt uns der Film schuldig. Leider.

Finden die beiden zusammen einen Weg? Oder gerät der Bub gar auf die schiefe Bahn? Das verrate ich nicht. Geht und schaut Euch das Werk an! Es ist ein Film über die Kraft, die wir alle aufwenden, um unseren Platz im Leben zu finden. Und darüber, dass manchmal auch unglaublich viel Kraft nichts nützt. Und doch ist es ein lebensbejahender Film. Mit einem dramaturgisch punktgenau gelungenen Schluss.

Filmstart in Deutschland: 9. Februar; in Österreich: 10. Februar

18
Jan
2012

Taub in der Cafeteria

Mittlerweile habe ich mein Gehör wieder erlangt - fürs erste. Aber die Erlebnisse von letzter Woche sind mir noch in ungemütlicher Erinnerung. Am Donnerstag ging ich arbeiten, obwohl ich kaum noch telefonieren konnte. Ich folgte dem Rat von Ärztin C. und tat so, als ob nichts wäre.

Es war, als wäre die ganze Welt einen Schritt von mir entfernt. Mein Bewegungsapparat kam mit der Situation nicht zurecht. Ich stiess mich ungewöhnlich oft. Mal an einer Türfalle. Mal an einer Tischkante.

Meistens arbeite ich allein. Deshalb gehe ich mittags in die Cafeteria. Dort treffe ich meine Kollegen und erfahre den neuesten Klatsch. Das Problem ist bloss: Die Cafeteria ist nicht für Hörbehinderte gebaut. Hohe Decke, steinerne Böden, am Mittag stets Gedränge und ein Mega-Lärm. Ich weiss das längst. Meist gehe ich trotzdem hin und hoffe, dass an einem Tisch noch ein gutes Plätzchen frei ist. Eins, an dem ich mein gutes Ohr den Kollegen entgegen halten kann. Wenn mein gutes Ohr auch im Arsch ist, bin ich verloren.

Aber ich ging trotzdem in die Cafeteria. Ich hatte Sehnsucht nach der Nestwärme der Kollegen. "Heute werde ich nicht viel zur Konversation beitragen können", sagte ich beim Hinsetzen. "Ich bin so gut wie taub." Einfach, damit sie Bescheid wussten. Sie starrten mich an. Es war offensichtlich, dass keiner in der Lage war, mit dieser Information etwas anzufangen. Wie sollten sie auch? Einige wissen zwar um meine Lage. Aber Stoff für den Smalltalk zum Mittagessen ist das nicht.

Da wurde mir klar, wie schwierig das alles noch werden könnte. Ich kenne zum Glück ein paar Leute, die mir vormachen, dass es irgendwie geht. Zum Beispiel Herrn notquitelikebeethoven. Aber lernen muss ich es wohl trotzdem selber.

Aber jetzt feiere ich erst mal meine Rückkehr zu den Hörenden. Heute mit den Specials:

13
Jan
2012

Tinnitus um vier Uhr morgens

Gestern früh schreckte mich ein schauriger Tinnitus aus dem Schlaf.

Nicht, dass Ihr jetzt denkt, ich würde aus jedem Tinnitus gleich eine Schlagzeile machen. Ich habe die Meniere'sche Krankheit und damit Ohrgeräusche, seit ich 16 bin. Heute, 30 Jahr später, klingt mein Schädel wie eine Werkstatt mit Kreissägen und Schleifmaschinen. Ich habe gelernt, wie man dem Tinnitus zuhört. Wie man seine Botschaften versteht. Wie man ihn schönredet. Und wie man ihn ignoriert.

Einmal hätte ein Tinnitus mich fast in den Suizid getrieben. Aber irgendwie habe ich die Kurve mit ihm dann doch gekriegt. Heute fehlt er mir, wenn er nicht da ist. Würde man Tinnitus-Kompetenz wie Sozialkompetenz zu den Kernkompetenzen zählen - ich hätte einen Job im Spitzenmanagement.

Aber der Neue war ein unerträglich lauter Geselle. Wie jenes Pfeifen, wenn dem Patienten in der Ärzteserie das Herz versagt und die Maschine nur noch einen Querstrich anzeigt. Und das mitten in der Nacht. Schlechtes Zeichen. Sehr schlechtes Zeichen. Und tatsächlich: Am Morgen war mein Gehör so weit weg, dass ich gerade noch, gerade noch, telefonieren konnte.

Ich ging zur Arbeit. Es war ein schauriger Tag. Als der Tinnitus abends immer noch da war, dachte ich über Ablenkungsmanöver für die Nacht nach. Es ist schwieriger geworden. Früher konnte ich mit meinem guten Ohr dem Gesang des Wassers im Heizkörper lauschen. Ich liebe ihn, diesen Gesang. Aber im Moment kann ich ihn nicht hören. Und Zimmerspringbrunnen und solches Zeug sind nie mein Ding gewesen. Schauder!

Schliesslich kam ich auf mein altes Radio. Ich schaltete es ein und untersuchte die Störgeräusche zwischen den Sendern. Das regelmässigste wählte ich aus. Ich weiss, das klingt brachial. Aber es funktioniert. Dieses helle Störgeräusch lenkt ab, ohne Aufmerksamkeit zu benötigen. Ist im Notfall zur Nachahmung empfohlen.

P.S: Eben habe ich nachgeschlagen, was Tinnitus im Plural heisst. Ich brauchte dazu mein altes Latein-Wörterbuch, denn auf dem Netz findet man dazu nur Schwachsinn. Die Lösung lautet: Tinnitus mit einem langen u. Aber das werden nur Lateiner amüsant finden.

11
Jan
2012

Talentierte Jungjournalistin

"Wenn Ihr einen Zeitungstext schreibt, dann müsst Ihr das Wichtigste zuerst schreiben", doziere ich. Vor mir sitzen an die zwanzig Zwölfjährige. Ich soll ihnen erklären, wie man einen Bericht schreibt. Aber die Jugendlichen sind ein Wall des Desinteresses, lauter steinerne Gesichter. Liegt es an mir? Ich glaube nicht. Die anderen Kids in der ersten Lektion waren quicklebendig, fix und voller Neugier. Es muss an der Klasse liegen.

Da hebt das unauffällige Mädchen ganz links die Hand. "Aber wenn ich das Wichtigste zuerst schreibe, dann haben die Leser ja keinen Grund, den Text fertig zu lesen", sagt sie.

Es war mein einzig perplexer Moment an meinem allerersten Tag als Lehrerin*. Ich wusste zehn Sekunden lang nicht, was ich sagen sollte.

Doch noch ein Kind mit Talent!

* perplex war ich erst nach dem Unterricht wieder, als mir - zum x-ten Mal diese Woche - das Gehör abstürzte.

7
Jan
2012

Ärzte!

Wenn ich jeweils mit einem akuten Meniere-Schub ins Spital gerate, dann will es das System, dass ich jedesmal einem anderen Assistenzarzt gegenüber sitze.

Arzt A. sagt jeweils: "Das ist der Stress. Sie müssen auf sich aufpassen. Eigentlich wäre es mir lieber, wenn Sie nur noch 40 Prozent arbeiten würden."
Ärztin B. sagt: "??...???"
Ärztin C. sagt: "Sie haben ein Problem mit Stressverarbeitung. Machen Sie Yoga oder autogenes Training - oder Akupunktur. Dann geht das weg, glauben Sie mir. Sie sind doch noch jung! Bestimmt lieben Sie Ihren Beruf! Es geht doch nicht, dass Sie jetzt einfach alles aufgeben!"

Wenigstens einen Vorteil haben diese Ratschläge: Ich muss meine Dilemmas nicht selber in Worte fassen.

@rosawer: Es ist mir bewusst, dass das ich ein total europäisches Problem habe. Ich weiss, dass ich fast überall sonst auf der Welt einfach still vor mich hin ertauben würde. Aber ich bitte um Verständnis dafür, dass ich das jetzt einfach mal ausblende und versuchen muss, die vor mir liegenden Widersprüche auf die Reihe zu kriegen.

Eine gute medizinische Versorgung verpflichtet die Patientin doch auch dazu, sich gesund zu halten, wenn es irgendwie geht. Aber wie - und wann - entscheidet die Patientin, dass es eh nicht geht? Und was passiert dann? Ich weiss es nicht.

Zu meiner Erfahrung mit Akupunktur hier und hier hier (Kommentar ganz unten).

Und noch für all diejenigen, die mir jetzt gute Ratschläge erteilen möchten - bitte nicht! Autogenes Training ist unbestritten hilfreich gegen akute Panikattacken. Aber weiter hat es mich - und das sage ich nach mehr als zehnjähriger Erfahrung - nicht gebracht. Und beim Gedanken an Yoga-Kurse sträubt sich mir das Nackenhaar - ich bin einfach kein Kürsli-Mensch.

Aber ich arbeite an mir. Ehrenwort!
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