11
Jan
2012

Talentierte Jungjournalistin

"Wenn Ihr einen Zeitungstext schreibt, dann müsst Ihr das Wichtigste zuerst schreiben", doziere ich. Vor mir sitzen an die zwanzig Zwölfjährige. Ich soll ihnen erklären, wie man einen Bericht schreibt. Aber die Jugendlichen sind ein Wall des Desinteresses, lauter steinerne Gesichter. Liegt es an mir? Ich glaube nicht. Die anderen Kids in der ersten Lektion waren quicklebendig, fix und voller Neugier. Es muss an der Klasse liegen.

Da hebt das unauffällige Mädchen ganz links die Hand. "Aber wenn ich das Wichtigste zuerst schreibe, dann haben die Leser ja keinen Grund, den Text fertig zu lesen", sagt sie.

Es war mein einzig perplexer Moment an meinem allerersten Tag als Lehrerin*. Ich wusste zehn Sekunden lang nicht, was ich sagen sollte.

Doch noch ein Kind mit Talent!

* perplex war ich erst nach dem Unterricht wieder, als mir - zum x-ten Mal diese Woche - das Gehör abstürzte.

7
Jan
2012

Ärzte!

Wenn ich jeweils mit einem akuten Meniere-Schub ins Spital gerate, dann will es das System, dass ich jedesmal einem anderen Assistenzarzt gegenüber sitze.

Arzt A. sagt jeweils: "Das ist der Stress. Sie müssen auf sich aufpassen. Eigentlich wäre es mir lieber, wenn Sie nur noch 40 Prozent arbeiten würden."
Ärztin B. sagt: "??...???"
Ärztin C. sagt: "Sie haben ein Problem mit Stressverarbeitung. Machen Sie Yoga oder autogenes Training - oder Akupunktur. Dann geht das weg, glauben Sie mir. Sie sind doch noch jung! Bestimmt lieben Sie Ihren Beruf! Es geht doch nicht, dass Sie jetzt einfach alles aufgeben!"

Wenigstens einen Vorteil haben diese Ratschläge: Ich muss meine Dilemmas nicht selber in Worte fassen.

@rosawer: Es ist mir bewusst, dass das ich ein total europäisches Problem habe. Ich weiss, dass ich fast überall sonst auf der Welt einfach still vor mich hin ertauben würde. Aber ich bitte um Verständnis dafür, dass ich das jetzt einfach mal ausblende und versuchen muss, die vor mir liegenden Widersprüche auf die Reihe zu kriegen.

Eine gute medizinische Versorgung verpflichtet die Patientin doch auch dazu, sich gesund zu halten, wenn es irgendwie geht. Aber wie - und wann - entscheidet die Patientin, dass es eh nicht geht? Und was passiert dann? Ich weiss es nicht.

Zu meiner Erfahrung mit Akupunktur hier und hier hier (Kommentar ganz unten).

Und noch für all diejenigen, die mir jetzt gute Ratschläge erteilen möchten - bitte nicht! Autogenes Training ist unbestritten hilfreich gegen akute Panikattacken. Aber weiter hat es mich - und das sage ich nach mehr als zehnjähriger Erfahrung - nicht gebracht. Und beim Gedanken an Yoga-Kurse sträubt sich mir das Nackenhaar - ich bin einfach kein Kürsli-Mensch.

Aber ich arbeite an mir. Ehrenwort!

4
Jan
2012

Heute keine Musik

Es war früh am Morgen. Ich kuschelte mich an den Rücken von Herrn T. Er nahm meine Hand und flüsterte irgend etwas. Vielleicht eine Liebeserklärung. Ich hätte "hä!??!" sagen können. Oder ihn darüber in Kenntnis setzen, dass ich in der Nacht wieder einmal einen Hörsturz gehabt hatte. Aber ich zog es vor, die schöne Stimmung nicht zu verderben.

26
Dez
2011

Glücklich verarmt

Angesichts meiner unsicheren beruflichen Perspektiven kam ich neulich nicht umhin, dieses Buch zu kaufen (bei amazon, für sagenhafte 4.99 Euro - aber erzählt das bitte nicht meinen Buchhändler-Bekannten...):



Und ich muss sagen: Die Lektüre war ein Vergnügen. Von Schönburg schildert uns die die Widrigkeiten eines Lebens in Reichtum mit so viel Esprit, dass er mich für den wahrscheinlichen Kaufkraftverlust des kommenden Jahres geradezu begeistern konnte.

Auch wenn uns Herr von Schönburg eine Menge verschweigt. So schildert er zwar ausführlich das Einsamkeits-Risiko reicher Menschen. Etwa am Beispiel eines Fussballers aus einfachen Verhältnissen, der zu einem gut bezahlten Profi wurde. Zunächst sei der Mann noch oft mit seinen alten Kumpels ausgegangen. Doch dann tauchten unter ihnen immer öfter auch Leute auf, die ihn ausnützen wollten. Deshalb halte der Fussball-Star sich fast nur noch in Gesellschaft von Menschen auf, die "einer ähnlichen Gehaltsklasse angehören" (S. 188). "Sein Freundeskreis ist jetzt sehr homogen. Und sehr langweilig." Dass auch Arme ein hohes Einsamkeits-Risiko haben, lässt er unerwähnt. Nehmen wir zum Beispiel an, besagter Fussballer wäre nicht zum bejubelten Star aufgestiegen, sondern hätte sich mit 18 im Training schwer verletzt und müsste von einer Rente leben - derweil seine alten Freunde alle halbwegs einträgliche Berufe ergriffen und eine Familie gegründet hätten. Glaubt mir: Er würde sie auch nicht mehr oft sehen.

Aber man liest von Schönburg nicht, um sich solche Dinge zu überlegen. Man liest ihn, um sich aufrichten zu lassen. Sein Buch ist ein Triumph der eleganten Schreibe über die schlaflose Nacht. Man liest ihn, um seine Schwierigkeiten in einem rosigeren Licht zu sehen - nicht, um sich dem Pessimismus hinzugeben.

Dass Herr von Schönburg uns ohnehin nichts über richtige Armut erzählt, wurde mir klar, als ich vorhin schnell bei meiner tamilischen Nachbarin war. Ich hatte seinen Lob des Müssiggangs bei reduziertem Arbeitspensum (und Lohn) noch im Kopf. Da erzählte sie mir von ihrem jungen Neffen in London. Er arbeite bei McDonald's, sagte sie: für vier Pfund die Stunde, manchmal 14 Stunden am Tag.

21
Dez
2011

Shopping-Wut

In unserer Altstadt ist die vorweihnachtliche Shopping-Wut ausgebrochen. Als ich heute meine letzten Weihnachtskarten erstehen wollte, kam ich erst gar nicht in die Papeterie. Die Kunden standen bis zur Tür. Es ist spät dieses Jahr. Letztes Jahr sah schon der 8. Dezember Kundenscharen aus allen Himmelsrichtungen ins Emmen Center pilgern als läge niemand geringerer als das Christkind dort zwischen Manor und H & M zur Anbetung bereit. Dieses Jahr klagten die Detaillisten noch nach Mariä Empfängnis über die grosse Flaute. Es liege am fehlenden Schnee, sagen sie. Niemand wollte orakeln, die Euro-Krise habe den Konsumenten auch hierzulande die Stimmung vermiest.

Ich kaufte meine Karte in einer stillen Galerie in einer Seitengasse und ging über die weihnachtlich in Lichter gerahmte Seebrücke.


(Bildquelle: blogarchiv.hochparterre)

Letztes Jahr war der Baldachin neu und wirkte mit seinen blaustichigen Lichtern Tönen einfach cool. Dieses Jahr passt die Kälte des Lichts auf eine andere Art zur Stimmung: Neben dem heimeligen Weihnachts-Angebot im Lichtermeer liegen schon gut sichtbar die Januar-Schnäppchen bereit. Die Lichterketten überall sind so orgiastisch geworden, dass sie billig wirken - die Lichter einer Stadt, deren touristische Attraktionen man auf Teufel komm raus verkmarkten will. Eine grosse Traditions-Buchhandlung wird ihre Tore bald für immer schliessen und ruft zum Rabatt-Sturm auf die Bücherbretter.

Andere Jahre hatte die Stadt im weihnächtlichen Konsumrausch etwas Festliches. Sie zelebrierten den Überfluss. Dieses Jahr wirkt das alles leicht verzweifelt.
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