22
Okt
2011

Was soll ich tun?

Eigentlich wären wir unterwegs in die Ostschweiz - zu meinem Bruder. Er hat uns schon vor längerer Zeit eingeladen. Aber ich musste absagen. Meine Ohren schwächeln. Viel Stress im Büro dieser Tage. Da liegt keine lange Zugfahrt drin, kein Übernachten auswärts. Da muss ich auf meine innere Stimme hören. Sie sagt: Bleib zu Hause und sammle Deine Kräfte.

Irgendwo habe ich gelesen, dass sich chronisch Kranke häufig total von ihrer Umwelt zurückziehen. Der Autor hatte wenig Verständnis für solches Gebaren. Gerade kranke Menschen sollten ihre Situation nicht noch erschweren, indem sie sich isolierten, schien der Subtext zu lauten. Wahrscheinlich hat er noch nie einen Hörsturz in einem Zug gehabt. Hat noch nie erlebt, wie der Lärm des Zugs immer gurgeliger wird. Oder eine Turmarkin-Attacke auf dem Trottoir mitten in der Nacht gleich neben dem Fussgängerstreifen. Hier habe ich beschrieben, wie sich das anfühlt.

Bei Mia habe ich einmal eine gute Erklärung für Laien darüber gelesen, warum die Einsamkeit oft die anhänglichste Begleiterin einer chronisch erkrankten Person ist.

Nun habe ich ein freies Wochenende vor mir. Herr T. ist auch hier. Er hat sich erstaunlich gelassen seinem Schicksal gefügt. Jetzt lautet die Frage: Was soll ich tun? Was sollen wir tun?

Dazu schweigt meine innere Stimme.

Oh, verdammt! Ich wünschte, ich könnte reisen!

19
Okt
2011

Liebeserklärung an eine Stadt

Meine Spaziergänge führen sonst meist aufs Land. Dabei bin ich eine Städterin - und es wird Zeit, meiner Stadt Luzern hier meine Liebe zu erklären. Mit einem Spaziergang. Er führt durch das Hof-Quartier, mein liebstes Quartier. Eine Gegend, durch die viele nur hindurcheilen. Denn sie ertrinkt im Lärm des Durchgangsverkehrs und in Touristenfluten. Dabei weht der Hauch der Vergangenheit durch ihre Strassen. Man muss ihn nur einatmen. Und schon ist man auf Zeitreise durch die Vergangenheit.

011

Etwa beim fast vergessenen Memento Mori rechts im Bild. Zu Füssen des Gekreuzigten ruht ein einzelner Totenschädel - sorgfältig bemalt von jemanden, der sich nicht vom geschäftigen Mainstream rundum irre machen lässt.

Skull on Street Corner

Oder bei der Hofkirche. Sie gilt als kunsthistorisches Bijou und zieht deshalb hie und da ein paar Touristen an. Die gehen aber in die Kirche hinein - obwohl es dort eher unansehnlich ist. Ich dagegen verweile jeweils beim Nordturm, wo dieser Mann seit Jahrhunderten an der Welt verzweifelt.

012

Er ist Zeuge, wie Jesus von der römischen Soldateska gefangen genommen wird. Nach besonders mühsamen Arbeitstagen plaudere ich gern ein bisschen mit ihm - auch wenn meine Gründe zum Aufstöhnen weit weniger weltbewegend sind.

Um die Kirche herum ruhen in einem uralten Friedhof die Gebeine der vornehmen Luzerner des 18. und 19. Jahrhunderts: der Pfyffer von Altishofen, der Am Rhyns, Mugglins, der Stahlwerk-Besitzer von Moos und so weiter. Es ist ein stiller, luftiger Ort weitab vom Getöse der Welt. Mitten unter den Patriziern Luzerns liegen auch die ersten beiden Muslime, die in Luzern den Tod fanden. Sie hiessen Mussa ben Serier und Abd el Kader Ben Charchoz (wenn ich die verwitterte Inschrift im Stein richtig gelesen habe). Sie waren mit der Bourbaki-Armee 1871 aus Frankreich gekommen. Die Strapazen des Krieges und der Internierung brachten sie um. "Passant jetez une fleur aux enfants du desert", heisst es beim Gedenkstein.

Rührend ist auch das Denkmal, das ein Herr Willmann seiner 1840 verstorbenen Ehefrau Maria Anna, geborene Gassmann, gesetzt hat. Sie verschied mit 41 und liess ihn mit fünf Kindern zurück. Es steht bei einem Pförtchen an der Nordostecke.

Von hier gelangt man über eine Brücke in einen Park mit mächtigen Kastanienbäumen und einem nie genutzten Labyrinth aus Buchenhecken. Der Park hat bessere Zeiten gesehen - deshalb ist hier am richtigen Ort, wer Ruhe sucht.

Ruhe findet man auch beim Löwendenkmal. Natürlich nicht mitten am Nachmittag. Dann sieht es dort so aus.

023

Nein, man besuche den kleinen Park zur blauen Stunde, kurz nach Sonnenuntergang. Dann ist er meist verlassen und voll von einer grossen, stillen Melancholie. Aber das erzählt Ihr besser nicht weiter.

Auch die besten Restaurants im Quartier frönen der Vergangenheit. Der Lapin ist bekannt für seine gute Küche. Das Intérieur hat den verblassenden Charme eines Wiener Cafés. Mein eigentliches Stammlokal ist aber der Rebstock, direkt unterhalb der Hofkirche. In den Achtzigern war Vera Kaa hier Stammgast. Schon damals gab es dort einen Gourmet Poulet-Salat. Er war auch bei uns diätverrückten und stets abgebrannten jungen Frauen Mitte der Achtziger beliebt. Es gibt ihn heute noch, auch wenn schon lange ein neuer Wirt im Rebstock waltet. Nur wird er heute mit Truthahn gemacht.

15
Okt
2011

Putztag

Für alle, die jeweils am Samstag zum Putzlappen greifen (müssen). Denkt dran:

12
Okt
2011

Leistungssport im Job

Unsere Zeitung verliert Abonnenten. Das ist nichts Ungewöhnliches. Alle Tageszeitungen tun das, seit Jahren. Wenn die neuen Abo-Zahlen präsentiert werden, hält der Chefredaktor deshalb jeweils eine kleine Ansprache. Er ermuntert uns Redaktoren dann zu noch mehr Beisswut, Fleiss und Präzision bei immer geringeren Budgets. Dieses Jahr sagte er: "Journalismus ist zu einem Leistungssport geworden". Das ist mir besonders nahe gegangen. Wegen meiner Krankheit kann ich nur noch vorsichtig hinter den Platzhirschen in unserem Team herhoppeln.

Ich nagte eine Weile an dem Satz.

Dann fragte ich mich, ob ich bei meinem täglichen Gang in sein Büro nebenbei fröhlich fragen sollte, ob wir auf der Redaktion auch paralympische Disziplinen hätten.

Darüber konnte ich wenigstens lachen. Aber dann wurde ich wieder nachdenklich.

Diese Branche macht uns zu Invaliden, bevor wir es wirklich sind, dachte ich.

8
Okt
2011

Naiver Zukunftsforscher im "Magi"

In der Print-Ausgabe des Tagesanzeiger-Magazins schwärmt Zukunftsforscher David Bosshart über das kommende "Age of Less". Wir müssten künftig mit weniger auskommen, heisst es in seinem Buch. Es gehe um eine neue Form von Wohlstand, "bei dem zum Beispiel jemand Nein sagt zu einem neuen Job, "obwohl er 20000 Franken mehr verdienen würde"... - "weil er 2 Stunden länger pendeln müsste". Ehrlich: Ob so viel Naivität dreht sich mir der Magen um. Ich kenne eine Menge Leute, für die das "Age of Less" bereits angebrochen ist und etwas ganz anderes bedeutet:

- zum Beispiel den Ex-Invalidenrentner André F. (42): Nachdem man ihm die Rente einfach so gestrichen hat (gängige Praxis in unserem Land), kehrte er aus Thailand zurück. Jetzt sitzt er in der Schweiz, getrennt von Frau und Kind, und muss sich von seinen Eltern durchfüttern lassen.
- oder die chronisch kranke Verena (45), deren Pensum voraussichtlich nächstes Jahr um zehn Prozent gekürzt wird - um zehn Prozent, die wehtun. Nicht nur wegen des Geldes.
- oder jene vier AkademikerInnen in meiner Bekanntschaft, die ihre Jobs in den späten Vierzigern oder frühen Fünfzigern verloren haben. Seither leben sie am Existenzminimum und sind teilweise von Beruf Sohn, Tochter oder Ehemann (letzterer kann wenigstens putzen, seit seine Frau ein Burnout hatte). Drei der vier geben Bosshart insofern Recht, als sie sagen, sie wollten gar nichts anderes. Ja, was soll man denn sonst sagen in einer solchen Lebenslage?

Dass ich mir die Lektüre dieses Gesäusels hätte sparen könnte, wurde mir eigentlich schon bei der ersten Antwort klar: Da lobt der Buchautor die Engländer, die das Absteigen mit Stil "seit mehr als hundert Jahren erfolgreich" praktizierten.

Die Krawalle in London vom letzten Monat schon vergessen, Herr Bosshart?

Da kann DJ Philemon nur sagen:

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