22
Aug
2011

Teufelskreis

Ich höre wieder. Sogar Musik klingt wieder wie Musik.

Im Moment habe ich nur noch ein Problem: die Angst vor dem nächsten Schub.

Ich weiss, dass ich keine Angst haben sollte. Angst kann alles viel schlimmer machen. Aber was soll man machen? Man sitzt im Büro und laboriert mit dem neuen Windows 7 herum. Die Burschen vom Support haben bei der Installation etwas verbockt. Ich kann dringende Mails an gewisse Kunden nicht verschicken. Der letzte Bescheid vom Support war kafkaesk: "Wir wissen nicht, was Du falsch machst. Wir können Deine Mails verschicken!" Grossartig!

Heute - nacheiner Woche - hat endlich ein Supporter das Problem als solches erkannt. Wie er es lösen können, weiss er aber auch nicht.

Ich rege mich auf.

Ich sollte mich nicht aufregen. Ich könnte einen Hörsturz bekommen, wenn ich mich aufrege. Ich sollte auch nicht eine Stunde lang mit einem Tubel vom Computer-Support herumlaborieren müssen. Ich bin dafür nicht gesund genug. Und ich sollte mich auf keinen Fall aufregen. Auf keinen Fall!

Ich gehe nach Hause und rege mich noch mehr auf. Ich sollte mich nicht aufregen. Es ist ein Teufelskreis. Ich werde zum winselnden Maniak. Ich winde mich auf dem Sofa vor Angst. Dieses Computer-Problem wird uns Kunden kosten und mich in einen Hörsturz treiben. Ich weiss es. Früher hätte ich über so etwas gelacht. Aber jetzt... nein, jetzt nicht mehr. Ich bin nicht mehr ich selber. Als es an der Tür klingelt, will ich erst gar nicht aufmachen. Nur nicht noch mehr Stress!

Schliesslich mache ich doch auf - es sind meine Eltern. Sie wollten schon wieder gehen. Ich raufe mir die Haare und schildere ihnen die Situation: dass ein paar Kerle vom Computer-Support mich in einen Hörsturz treiben werden, verdammt! Ich bekomme beim Erzählen einen Tobsuchtsanfall. Schon wütend zu werden tut unglaublich gut.

Da sagt Mama: "Wenn die Burschen Deine Mails verschicken können, dann lass sie Deine Mails verschicken! Es ist ihr Job, das Problem zu lösen. So lange sie es nicht lösen können, sollen sie Deine Arbeit erledigen. Schick Ihnen Deine Mails und sag ihnen, dass sie sie weiter verschicken sollen. Du wirst sehen, wie schell das Problem dann gelöst ist!"

Die Idee ist simpel und ergreifend. Sie funktioniert wahrscheinlich. Genau das werde ich tun.

Die Angst ist wie weggeblasen, der Teufeslskreis durchbrochen. Oh, und der Wutanfall hat gut getan!

19
Aug
2011

Am Tiefpunkt

Eben war ich im Spital. Dort haben sie mir gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich würde auf meinem guten Ohr an der kritischen Stelle noch zehn Dezibel besser hören als damals, als es am schlimmsten war. Halleluja! Ich habe ja Mühe, einer Konversation unter vier Augen zu folgen. Wenn noch ein Auto vorbeifährt, bin ich verloren.

Dann haben sie mich halb krank geschrieben. Ganz krank schreiben können sie mich jetzt nicht mehr. Ich muss sonst um meinen Job fürchten. Und ich will auch arbeiten. Oder soll ich denn den ganzen Tag herumsitzen und dem Dröhnen in meinen Ohren zuhören? Ich bin jetzt wieder hier und blicke den Tatsachen in die Augen: Ich werde taub.

In solchen Momenten fällt mir immer ein Buch von George Orwell ein: Down and Out in Paris and London Er beschreibt darin, wie er im Paris der 30er-Jahre all sein Geld durchbringt, dann auch noch bestohlen wird und sich schliesslich als Küchenhilfe zu einem Hungerlohn verdingen muss.

"Er ist ausgesprochen merkwürdig, Dein erster Kontakt mit der Armut. Du hast so viel über sie nachgedacht. Sie war es, wovor Du Dich Dein ganzes Leben gefürchtet hast. Du hast gewusst, dass sie Dir früher oder später begegnen würde - und sie ist so völlig und prosaisch anders als Du erwartet hast ... Du dachtest, es wäre furchtbar. Aber es ist nur schmutzig und langweilig."

Und weiter unten: "Und da gibt es ein Gefühl, das ein grosser Trost ist in der Armut ... es ist ein Gefühl der Erlösung, fast des Vergügens, Dich endlich echt am Tiefpunkt zu wissen. Du hast so oft gesagt, Du würdest vor die Hunde gehen. Und, tja, hier sind die Hunde. Du bist bei ihnen und Du hältst es aus. Das nimmt Dir eine Menge Angst."

Ich ahne jetzt, was er gemeint hat. Obwohl taub werden eher furchtbar als schmutzig und langweilig ist. Und ich manchmal nicht ganz sicher bin, wie ich es aushalten soll.

17
Aug
2011

Heute nur Gitarrenröhren

Ich traue mich schon fast nicht mehr, es zu schreiben. Mein gutes Ohr... Ihr wisst schon: Gurgeln, dröhnen, kiechzen. Hörverlust über Nacht. Stufe zwei, würde ich sagen - das ist bei meiner vierstufigen Skala schon ziemlich viel.

Ich beschliesse, tapfer zu sein. Was immer passiert, ich werde es akzeptieren. Ich beschliesse, morgen trotzdem zur Arbeit zu gehen, falls ich noch telefonieren kann. Im Spital wissen sie ja auch nicht, was sie mit mir tun sollen. Ich beschliesse, mir keine Gedanken über die Ursachen zu machen - oder darüber, was ich tun könnte. Ich werde taub. Okay. Ich werde versuchen, trotzdem ein normales Leben zu führen. Jeder hat sein Bördeli zu tragen. Längst nicht jeder macht deswegen so ein Theater wie Frau Frogg.

Aber ich möchte mich am liebsten wie eine kranke Katze ins Gebüsch legen und sterben.

Am Nachmittag gehe ich mit Gottenbub Tim (6), seiner Schwester und ihrem Papa in die Badi. Das ist anstrengend, aber es lenkt ab. Danach möchte ich mich nicht mehr ins Gebüsch legen.

Ich höre sogar Musik. Natürlich keine Sachen elastischen, tragenden Bassriffs. Auf keinen Fall U2. Würde ich heute einen U2-Song hören, so wäre das eine Beleidigung für U2. Ich höre statt dessen sattes Gitarrenröhren im mittleren Tonbereich. Das klingt nicht falsch, nicht zu stumpf und nicht übersteuert - sondern einfach, als hörte ich es in einem fahrenden Zug. Es entspannt.

14
Aug
2011

Englische Jugendliche und der Konsum

Herr T. und ich geniessen einen der Vorzüge eines guten Lebens in unserer Heimat. Wir sitzen mit einer Tasse Kaffee im Dampfschiff Unterwalden. Bei grandioser Bergkulisse diskutieren wir die News in der Tagespresse.


(Quelle: www.ostern-international.de)

Über den Aufstand der Jugendlichen in England wälzen wir eine Allerwelts-These: "Das kommt davon, wenn Du den Kindern immer erzählst, dass Konsum der einzig relevante Wert sei. Wenn Du ihnen kein Geld gibst, damit sie konsumieren können, gehen sie auf die Barrikaden."

Ich erinnere mich an die Zeit vor einem Jahr, als ich glaubte, bald nur noch sehr wenig zu verdienen. "Damals wurde ich neidisch, als ich vor mir an der Coop-Kasse eine Frau mit vier Packungen Crevetten sah! Obwohl ich selber nie auf die Idee gekommen wäre, einfach so vier Packungen Crevetten zu kaufen. Merkwürdigerweise kannte ich diesen Neid nicht, als ich studierte und wirklich knapp bei Kasse war. Naja, ich bekam als Gegenleistung für meine Sparsamkeit auch eine Elite-Ausbildung - wenigstens war es das damals noch. Und keiner meiner Freunde hatte Kohle. Heute ist natürlich alles anders."

Auch Herr T. war jahrelang knapp bei Kasse - und das lange nach seinem Studium. Aber dieses Gefühl von Neid an der Coop-Kasse, nein, das kenne er nicht. Sagt er. Und ich nehme es ihm ab. Ich kenne ihn ja schon lange. "Ich habe es nicht, weil ich tief in meinem Inneren ein Konsumverweigerer bin", sagt er.

Da muss ich jetzt doch intervenieren. "Jaaa!" sage ich, "Gewisse Dienstleistungen beziehst Du eben als Gratisarbeit von Frauenhand. Zum Beispiel Haareschneiden." Ich hebe demonstrativ meine Hände, die diese Arbeit jeweils - nicht eben vergnügt - verrichten. "Fürs Haareschneiden muss ich bares Geld auf den Tisch legen, und nicht wenig!"

Dazu Herr T.: "Also, ich würde Dir schon die Haare schneiden, wenn Du das möchtest!" Sein breites Grinsen lässt keine Fragen offen, wie ein Haarschnitt aus seiner Hand aussehen würde.

10
Aug
2011

Tipp für Leute mit Fernweh

Nicht weit von unserem Haus entfernt liegt die Jugendherberge. In der Touristen-Saison greifen wir im Quartier immer wieder Leute auf, die den Weg dorthin nicht finden. Er ist miserabel markiert. Genau an den entscheidenden Stellen fehlen die Schilder. Wir zeigen den Fremden dann denn Weg oder lassen sie ein Stück mit uns kommen. So lernen sie das lächelnde Gesicht der Schweiz kennen.

Gestern traf ich ein asiatisches Paar, das viel zu weit stadtauswärts gewandert war. Wir gingen zusammen ein Stück Weg. Die Frau sah erschöpft aus - als könnte sie jederzeit auseinanderfallen. Sie konnte ihren Rollkoffer kaum noch halten, und hie und da mussten wir auf sie warten. Der Mann dagegen war fit und plauderte angeregt.

Es stellte sich heraus, dass die beiden aus China kamen. Aus Peking.

Eine Welle Fernweh wogte über mich hinweg. Wie habe ich vor ein paar Jahren von einer Reise nach China geträumt! Herr T. hatten schon erste Pläne geschmiedet. Aber dann waren immer die Ferien zu kurz. Oder das Geld ein bisschen zu knapp. Oder so eine Reise irgendwie doch zu gross für einen ganz gewöhnlichen Sommer.

Und jetzt kann ich nicht mehr nach China reisen. Meine Ohren haben ja schon die Hitze der Südtürkei bestreikt. Einen Jetlag mute ich ihnen besser nicht zu.

Ich will nicht klagen. Man kann auch in Mitteleuropa wunderbar reisen. Dennoch ein Tipp an Leute mit Fernweh: Es ist nie zu früh für eine grosse Reise. Packt Eure Siebensachen und macht Euch auf! Es kann nächstes Jahr schon zu spät sein. Wer weiss, ob nicht unerwarteter Nachwuchs hereinschneit. Oder das Pensionskassengeld plötzlich futsch ist.

Reist! Dringend!

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