20
Aug
2010

Wildes Kind

So. Hier also endlich eines der Bücher, die ich aus London mitgebracht habe. Ich habe es auf Grund eines Irrtums gekauft: Ich glaubte, es gehe darin um ein gehörloses Kind. Dabei ist alles etwas anders.

Doch der Reihe nach: T. C. Boyle erzählt in dieser Kurzgeschichtensammlung auch die Geschichte eines ausgesprochen unzivilisierten Geschöpfs. Es ist ein Kind, das Bauern irgendwo in Frankreich aus einem Wald zerren. Wir schreiben das Jahr 1797. Der Bub ist splitternackt und frisst lebende Frösche und Mäuse. Er klettert behände auf Bäume, beisst, kratzt, kackt in gute Stuben und büchst bei jeder Gelegenheit wieder aus. Er muss jahrelang allein im Wald überlebt haben. Wahrscheinlich hatte seine Familie ihn ausgesetzt.

Der Fall ist tatsächlich passiert und erregte im revolutionären und romantisch bewegten Frankreich viel Aufsehen.

Das Kind reagiert nicht auf Geräusche. Deshalb nimmt man zunächst an, er sei taub und schickt ihn in eine Taubstummen-Schule in Paris. Dort verzeichnet man gerade sensationelle Erfolge bei der Förderung hörbehinderter Kinder. Der Bub bekommt den Namen Victor und Ersatzeltern wie man sie sich damals vorgestellt haben dürfte: eine gütige Mutter und einen strengen, fordernden Vater.

Doch bald wird klar: Victor ist therapieresistent. Er lässt sich zwar halbwegs zähmen und verwöhnen. Aber er lernt so gut wie gar nicht. Vielleicht ist er gar nicht schwerhörig, sondern geistig behindert. Und vielleicht haben die Jahre im Wald ihn einfach für das menschliche Zusammenleben untauglich gemacht. Aber sicher ist nicht einmal sein Lehrer und Ersatzvater, Monsieur Itard.

Der arbeitet sich an seinem Schüler ab. Victor ist ein Prestige-Projekt. Aber schliesslich sieht Itard ein, dass er nichts erreichen wird und gibt ihn auf. Victor, seiner Wildheit beraubt, führt fortan die Existenz eines Menschen, den seine Behinderung ganz an den Rand der Gesellschaft gedrängt hat.

Die Geschichte hat übrigens eine fiktive Erzählerin. Boyle-Fans werden sie kennen. Es ist die Heldin dieses Romans:
Die gehörlose Lehrerin Dana Halter. Im Roman arbeitete sie an einer Geschichte über Victor. Die liegt nun vor - ohne dass Boyle den Bezug noch einmal herstellen würde.

Dana und Victor haben ein paar faszinierende Eigenschaften gemeinsam: Sie sind beide unglaublich zäh, unglaublich eigenständig und unglaublich stur. Es ist Victors Wildheit, die an dieser Geschichte in Erinnerung bleibt. Und Boyle wirft Fragen auf - über die menschliche Natur und die Zivilisation (oder Zivilisiertheit?) Und darüber, was eine gelungene Existenz ausmacht. Boyle verwirft die Romantik und bejaht sie doch - indem es Victors ungezähmten Zustand mit seinen langen, poetischen Sätzen eine solche Präsenz gibt. Eine Viersterne-Geschichte.

Hier noch etwas mehr dazu.

Am liebsten möchte ich jetzt als Kontrastprogramm Emile von Jean-Jacques Rousseau lesen.

18
Aug
2010

Touristin mit Göttibub

Neulich beschloss ich, meinen Gottenbub Tim wieder einmal auszuführen. Er wollte ins Museum. Er war mit dem Kindergarten im Kunstmuseum gewesen, und das hatte ihm Eindruck gemacht. So besuchten wir die Sammlung Rosengart in Luzern.

Aber etwa nach dem dritten Picasso sagte er dann doch, jetzt sei ihm langweilig. Eigentlich wunderte mich das nicht. Ich meine: Er ist fünf! Und seine Gotte hat nicht die geringste Ahnung von den Geheimnissen der Museumspädagogik für Kindergärtler. Also gingen wir zusammen zum Bahnhof, kauften eine Glacé und dachten darüber nach, wie der Nachmittag weiter gehen sollte.

Der Bahnhof ist ein sicherer Wert bei Tim. Die Züge und Tafeln mit Buchstaben und Zahlen packen sein Interesse garantiert. Steht irgendwo zuhinterst ein Nostalgiezug herum - Tim entdeckt ihn. Fährt ein Zug ein oder los - Tim bemerkt ihn. Hoch interessant findet er auch die schmalen S-Bahn-Züge, auf denen in oranger Leuchtschrift "Baar" oder "Lenzburg" steht.



Plötzlich fand ich: Es muss ja nicht immer London sein. Auch die nähere Umgebung der Heimatstadt rechtfertigt vermutlich ein bisschen interessiertes Herumfahren. Also stiegen wir in den nächstbesten S-Bahn-Zug und reisten los. Nur zwei Stationen, nach Emmenbrücke Gersag. Aber immerhin. Der Bahnhof Gersag ist wahrscheinlich die einzige Station mit einer wenigstens halbherzigen Gleis-Überbauung in der Zentralschweiz. Schade, dass es von dem merkwürdigen Haus am Hang keine Bilder gibt.

Klar, dass wir dort vom Gleis 2 durch das merkwürdige halbe Haus gingen. Wir trabten die Treppe auf Gleis 1 hinunter. Dann fuhren wir mit dem Lift wieder hoch. Mit einem interessierten Gottenbuben an der Hand darf das auch Frau Frogg (45). Wem von beiden das mehr Spass gemacht hat, ist leider nicht überliefert.

Der Gottenbub verfolgte von oben aus interessiert den Verlauf den Eisenbahnlinie. Dann machte er die Entdeckung des Tages: die Emmer Lokalbusse. Eben kam ein silberner E4 Richtung Shopping Center den Hang herunter gefahren. Ich meine: Die Linien der blauen Busse kennt er, weiss Gott, schon ziemlich gut. Aber silberne Busse mit Nummern - das war doch etwas ganz Neues!

Wenige Schritte weiter, auf dem Sonnenplatz, standen gleich drei davon zur Abfahrt bereit - alle mit verschiedenen Nummer. Ich übertreibe nicht: Tim kullerten fast die Augen aus dem Kopf. Auf dem einen Bus stand: "E13 - Flugzeugwerke". Frau Frogg erklärte: "Weisst Du, hier in der Nähe gibt es eine Fabrik, wo sie Flugzeuge zusammenbauen." Auch da wollte Tim sofort hin. Aber das hätte ihn wahrscheinlich auch gelangweilt: Denn Flugzeuge sieht man da keine. Nur ein paar Wellblech-Hallen.

Statt dessen nahmen wir den blauen Bus Nummer 2. So konnte Tim genauestens verfolgen, wo wir mit dem Zug hergekommen waren. Wo es Brücken gibt und wo Tunnels. Das interessierte ihn.

Wir stiegen am Kreuzstutz aus. Der Verkehrs-Kreisel dort heisst auch Teufelskreisel und ist hier hervorragend dokumentiert. Aber das konnte ich Tim nicht erklären.

Dafür freute er sich über die Eisenbahnbrücke. Und wenig später, beim Fluss, zeigte ich ihm unten einen Spazierweg der Reuss entlang. "Da unten stand das Wasser neulich so hoch, dass es mir fast über die Füsse geflossen ist!" behauptete ich vollmundig. Das war etwas übertrieben. Auch wenn es wirklich viel geregnet hatte. Aber sind Übertreibungen nicht der Stoff, aus dem die guten Kindergeschichten sind?

Und hier noch der Soundtrack zum derzeitigen Weltwetter:

15
Aug
2010

Tinnitus

Auf meinen Sonntagmorgenspaziergängen höre ich gelegentlich Radio 3fach. Das ist ein "nicht-kommerzieller" Lokalsender für junge Leute. Ich mag den Sound, der dort läuft. Trotzdem wird mir immer wieder klar, dass ich längst nicht mehr zum Zielpublikum gehöre. Etwa, wenn ich es geschmacklos finde, dass die Sendung um 11 Uhr Tinnitus heisst.

Für mich bedeutet Tinnitus das hier.
Und das hier.
Und das hier.

Das hier kann man zur Zeit auf Radio 3fach hören.

13
Aug
2010

Taggedröhn, Nachtgedröhn

Am Sonntagabend stürzte mein besseres Ohr ab. Ein kleiner Absturz am Abend ist an sich nichts Aussergewöhnliches. Ich höre dann die Autos draussen nicht mehr motoren, nur noch surren. Und in meinem rechten Ohr dröhnt und saust eine Staubsauger-Sinfonie. Ich habe gelernt, an solchen Abenden meine Kräfte zusammen zu nehmen und auf den nächsten Morgen zu vertrauen. Normalerweise höre ich am Morgen wieder gut.

Aber als ich zu Bett ging, merkte ich: Das ist so schlimm, dass ich über Nacht nicht damit fertigwerde. Ich würde am Montag mit angetäubtem Ohr zur Arbeit gehen müssen.

Da wurde mir klar, wie sehr ich dieser Krankheit ausgeliefert bin. Was für im Grunde hilflose Partner der Optimismus und der Wille gesund zu sein mir sind.

Es ist schwierig, sich damit abzufinden, dass man taub wird.

Es ist auch schwierig, sich damit abzufinden, dass es auf- und abgeht mit dem Gehör.

Ich kann es immer noch nicht. Und das Verrückte ist: Nach ein paar guten Wochen muss ich es jeweils wieder neu zu lernen beginnen.

12
Aug
2010

Letzter Besuch

Heute muss Grossmutter Walholz ins Heim. Es war höchste Zeit. Dass so schnell ein Platz für sie da war, verdanken wir laut meiner Mutter einer guten Portion Vitamin B meines Onkels.

Gestern habe ich sie zum letzten Mal zu Hause besucht. Sie lag in ihrem Bett wie ein verletztes Vögelchen in seinem Nest. Sie ist einmal 90 Kilo schwer gewesen. Sie hatte Schuhgrösse 43. Aber jetzt war sie so klein. Sie sagte: "Ich habe geträumt, dass ich schon wieder gesund bin. Ich bin im Traum umhergegangen." Beim Abschied sagte ich: "Viel Glück morgen. Ich werde fest an Dich denken!" Aber ich bin nicht sicher, ob sie mich verstanden hat.

Dann gingen wir hinaus. Die Wiesen draussen waren zum Bersten grün. Weit oben am Hang sah ich das Wäldchen, bei dem mir mein Grossvater früher abends die Rehe gezeigt hat. "Vielleicht bin ich zum letzten Mal hier", dachte ich. Ich wollte weinen. Aber es war kein guter Moment zum Weinen. Meine Eltern waren dabei.

Wir fuhren los. Irgendwann sagte meine Mutter: "Ich sehe sie vor mir, als wärs gestern gewesen. Es war ihr 50. Geburtstag." Das muss 1970 gewesen sein. "Sie trug dieses hellblaue Kleid, und sie hatte einen Kisag-Bläser in der Hand. Sie sagte: 'Jetzt bin ich 50. Jetzt werde ich mir nicht mehr von jedem sagen lassen, was ich tun muss!'" Ich war verblüfft. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Grossmutter je ein gefügiges Huscheli gewesen ist. Mein Vater sagte: "Da blinzelten wir einander an und dachten: 'Na, gut, dann bleibt ja alles beim Alten!'"

Später stand ich am Bahnhof unserer Stadt. Es war gerade Stosszeit. Sonst finde ich das Gedränge am Bahnhof um diese Zeit nicht zum Aushalten. Aber jetzt fand ich es grossartig. Diese wachen Augen! Dieser Lärm! Dieses Leben!
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Journal einer Kussbereiten

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