10
Aug
2010

London für Bücherwürmer

Ich weiss schon: Wer etwas auf sich hält, kauft seine Bücher in London bei Foyle's. Das ist jedem freigestellt. Soll auch jeder gerne stundenlang die Charing Cross Road hinauf und hinunter durch Dutzende Buchläden stolpern. Das hat bestimmt noch niemandem geschadet. In den Seitenstrassen der Charing Cross Road gibts übrigens hübsche Antiquariate. Jedem das Seine.

Frau Frogg macht's anders. Sie kauft ihre Bücher in London bei Waterstone's. Und zwar nicht bei irgendeinem Waterstone's. Sondern in jenem riesigen Laden an der Ecke Gower Street und Torrington Place.



Waterstone's ist ja sonst keine besonders gute Adresse. Von der Buchladen-Kette gibts in jedem Bahnhof eine Filiale. Überall sind die Läden cool und gepflegt. Doch mancherorts kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Waterstone's würde statt Bücher lieber Fleisch verkaufen: mit einem Kilopreis und möglichst ohne über etwas so Umständliches wie Titel und Autoren nachzudenken.

Aber der Laden an der Gower Street ist anders. Er ist nicht nur ein Buchladen. Er ist eine Sehenswürdigkeit. Hier kommt die Londoner Manie, alles auf der Welt zu sammeln, zu katalogisieren, auszustellen und zu verkaufen zu einem fiebrigen Höhepunkt. Ein ganzes Gestell über iberische Geschichte, "radical politics" oder eine Wand über "gender studies" gefällig? Gibts im zweiten Stock. Die "Business"-Abteilung füllt einen ganzen Flügel, die Architektur auch. Und natürlich gibts drei Gestelle voller Titel über Rockmusik, eine ganze Wand voller Reiseliteratur und ein zwei Zimmer voller Krimis. Ein Schlaraffenland für Bücherwürmer.

Und für all jene, die sich nicht so für die Details iberischer Geschichte oder radikaler Politik interessieren, gibt's dann doch noch die Fleischtische im Erdgeschoss: die drei-für-den-Preis-von-zweien-Stapel mit der gerade gängigen Ware in Fiction und Non-Fiction.

Tja. Und nun wüsstet Ihr natürlich gern, wo ich mich eingedeckt habe. Aber das erzähle ich ein andermal.

9
Aug
2010

Grossmutter gibt auf

Grossmutter Walholz wollte nie ins Altersheim. Niemals. Sie war eine starke Frau. Sie bekam, was sie wollte. Auch als ein Schlaganfall sie vor dreieinhalb Jahren halbseitig lähmte, fiel das Wort "Altersheim" höchstens draussen auf dem Korridor des Spitals. Hinter vorgehaltener Hand. Und nach ein paar Monaten schleppte sich Grossmutter Walholz zurück in die Wohnung, in der sie Jahrzehnte gehaust hatte.

Die Tochter (Mutter Frogg) machte ihr die Wäsche und half beim Duschen. Der Sohn brachte das Essen und zahlte die Rechnungen.

Mit der Zeit kam eine Putzfrau zum Helferteam. Dann die Spitex*. Dann zweimal am Tag die Spitex.

Sie hatte vom Sterben gesprochen, seit ich mich erinnere. Sie wurde schwächer, schwerhöriger, einsilbiger. Sie verbrachte den ganzen Tag in ihrem Sessel. In den letzten Monaten beanspruchte Grossmutter Walholz ihre Helfer bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Aber sie starb nicht.

Vor ein paar Tagen textete mir Mutter Frogg: "Mit Grossmutter Walholz muss es bald eine Veränderung geben."

In der Nacht auf Sonntag träumte ich von ihr. Dann schreckte ich aus dem Schlaf. Ich blickte ins Dunkel und dachte: "Jetzt ist sie gestorben."

Aber sie war nicht gestorben. Sie war bloss hingefallen, direkt neben ihrem Bett, zum zweiten Mal in zwei Tagen. Jemand eilte zu ihr und legte sie ins Bett.

Sie isst nicht mehr und trinkt kaum noch. Und sie ist einverstanden, ins Heim zu gehen.


* kurz für: Spitalexterne Pflege, die schweizerische Pflege-Einrichtung für Menschen, die zu Hause wohnen wollen, aber Hilfe brauchen.

4
Aug
2010

So traf ich eine Rock-Legende

Er sah genau so aus, wie für mich der Archetyp eines alten Herrn aus dem Norden Englands aussieht: Aussergewöhnlich gross und hager, einem Kleiderständer nicht unähnlich. Zuoberst eine Nase als Haken, an einem kantigen Schädel mit einer kantigen Frisur. Natürlich trug er einen schwarzen Anzug.

Ich sah ihn an einer Sonderausstellung im Victoria & Albert-Museum* in London. Wir waren mit unseren Freunden, den Hooligans hingegangen. Das Museum zeigte einen Raum voller Bilder, die der Fotograf Harry Goodwin als Promo-Material für die Sendung "Top of the Pops" gemacht hatte. In den Sechzigern und Siebzigern. Zum Beispiel das hier:


(Jimi Hendrix in Hochform)

Der alte Herr horchte an einer Tonspur und witzelte mit einem jungen Begleiter. Ich dachte noch: "Was der wohl hier macht?"

Zehn Minuten später lieferte mir Kumpel Eagle Nose die Antwort: Der alte Herr im schwarzen Anzug war Harry Goodwin selber. Eagle Nose hatte ihn auf einem der Bilder erkannt, die irgendwo in einer Ecke hingen.

"Du musst hingehen und ihm sagen, dass Du extra wegen dieser Ausstellung aus der Schweiz hierhergekommen bist!" drängte Eagle Nose. Aber für sowas ist Frau Frogg zu schüchtern. Ausserdem stimmte es nicht. Frau Frogg war nach London gekommen, weil sie London hören wollte. Hören und riechen vor allem. Und auch sehen, klar. Das mit den Fotos von Harry Goodwin war eher eine interessante Zugabe, wenn man schon mal ins Victoria & Albert ging.

Aber anyway: Eagle Nose ging dann hin und erzählte Goodwin, wir wären extra dieser Ausstellung wegen aus der Schweiz gekommen. So kam es, dass ich Herrn Goodwin die Hand schüttelte. Das war schon ein merkwürdiger Moment. An den Wänden konnte man sehen, dass Herr Goodwin seinerzeit die Hände einer Menge berühmter Leute geschüttelt haben muss. Jene von...

Mick Jagger und seinen Kollegen
John Lennon, Paul McCartney und ihren Kollegen

Jeff Beck und Jimmy Page, als sie noch Yardbirds waren
David Bowie
Brian Eno, als er bei Roxy Music spielte
Ike und Tina Turner

... nur so zum Beispiel.

Der alte Herr freute sich mächtig über den Rummel um seine Person. Er war 86 und gut im Schuss.

Später überlegte ich noch einen Moment lang, ob ich jetzt mir jetzt meine rechte Hand wirklich waschen solle. Ich habe es dann doch getan.

* Die schönste Grümpelkammer Europas, aber dazu vielleicht ein andermal

3
Aug
2010

Wenn die Kaltfront kommt

Heute Morgen war es wieder einmal soweit: Surren und gurgeln in meinem guten Ohr. Leichter Gehörnachlass.

Ich habe das jetzt lange nicht mehr gehabt. Naja, relativ lange: Seit dem Engadin nicht mehr.

Erst bekam ich Angst. Dann fragte ich mich: Lag es an der Kaltfront, die in der Nacht hereingekommen war? Oder an jenem kurzen Anfall von Zukunftsangst gestern Abend? Oder am unruhigen Schlaf in der Nacht? Oder am riskanten zweiten Kaffee gestern Morgen? Oder an nichts von alldem? Oder an allem zusammen?

Nach der Arbeit ging ich spazieren. Auf einem Parkplatz sah ich einen von Reifen platt gedrückten Frosch. Und plötzlich konnte ich in Worte fassen, was mich in letzter Zeit so befremdet: Es gibt in unserer Gesellschaft Normen für alles und jedes. Es gibt Beratungsstellen. Es gibt Chefs und Sekretärinnen und Zuständigkeiten. Es gibt Freiheiten und Verbote und Mitspracherechte. Es gibt einen öffentlichen Verkehr und Karriereleitern. Wer sich umschaut weiss, was "in" ist und was "out". Es gibt alternative Geburtshäuser, die Spitex-Pflege und das Sterbehospiz. Alles ist bestens organisiert. Wer nicht weiter weiss, schaut im Internet nach.

Aber in gewissen Lebenslagen ist man so allein wie ein auf der Strasse angefahrener Frosch.

2
Aug
2010

Die spinnen, die Briten!

In London gibt es Smoothies und Smoochies, Frappucinos, Cappucinos und Latte Macchiatos. Es gibt Mezze, Sushi, Fish & Chips und Chicken Tikka Masala, kurz: Man kann hier alles essen und trinken, was das Herz begehrt. Und mehr. Aber in unserem Hotel gibt es keine einzige Einzelportion Konfitüre, die sich ohne Zuhilfenahme eines guten Messers öffnen lässt. Es gibt auch keine guten Messer.

Als britische Meisterleistung im öffentlichen Verkehrs gilt der Bau der Docklands Light Railway. In den Neunzigern die ersten Stadtbahnen Europas ohne Lokführer. Futuristisch und elegant. Aber wer an einem Julinachmittag um 16 Uhr an der Station Westferry eine Fahrkarte kaufen will, ist total angeschmiert. Die Sonne scheint direkt auf die Touchscreens aller vier Ticket-Automaten. Die Bildschirme sind brandschwarz Nichts zu sehen. Bediente Schalter gibt es keine. "It's a disgrace!" schimpft die Frau mit dem Kinderwagen. Und Frau Frogg lernt, wie sich ein Blinder vor dem Touchscreen fühlt.

Und dann gibt es Kew Gardens. Hier kommt alles zur Hochblüte, was die Botanik sich je ausgedacht hat: die Leidenschaften des Sammelns, Ordnens und Benennens; phantastische Gewächshäuser; die aus der Sorge um das Klima geborene Pädagogik; das schiere Glück über die Fülle des Lebens.

Kew Gardens Cactus in Kew Gardens
Butterfly in Kew Gardens

Die Kew Gardens wären ein Paradies, eine Oase der Ruhe. Sind sie aber nicht: Sie liegen genau in der Anflugschneise des Flughafens Heathrow. Im Zweiminutentakt donnern die Düsenjets im Landeanflug über die Köpfe der Gäste hinweg.

Kurz: Hier herrscht immer die Superlative - und dann steckt der Teufel im Detail. Vielleicht ist es das, was ich an dieser Stadt so mag.
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Journal einer Kussbereiten

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