31
Mai
2010

Generationen-Treffen

Neulich lud uns eine Freundin in ein Haus in den Bergen ein. Wir waren zu viert dort:

Unsere Gastgeberin (Jahrgang 1970)
Ein Freund von ihr (Jahrgang 1975)
Herr T. (Jahrgang 1958)
Und Frau Frogg (Jahrgang 1965)

Ich habe seit Jahren keinen Abend mehr in den Bergen verbracht. Um 16 Uhr leerten sich die Wanderautobahnen. Wir waren allein inmitten von frisch ergrünten Alpweiden im Abendlicht. Da war so viel Platz, so viel Luft zum Atmen!

Und Zeit zum Reden! Der Freund war auf einem anderen Kontinent aufgewachsen und erst kurz vor der Matur in die Schweiz gekommen. Herr T. musste zur Kenntnis nehmen, dass der junge Mann rein gar nichts über die Achtziger-Unruhen in Zürich wusste. Aber er war interessiert. Was für eine Gelegenheit für unseren Hardcore-Altlinken T., seine Erinnerungen an jene Zeiten wieder aufleben zu lassen! Er erzählte von der Sturheit der Zürcher Behörden damals. Dass nur reine Zerstörungswut Fortschritte im Kampf um Raum für die Jugend gebracht habe. "Erst das Bild von der Bahnhofstrasse mit zertrümmerten Scheiben um die Welt ging, ging es endlich vorwärts." Den Schluss brachte er, wie immer, nachdenklich: "In jener Zeit reiste ich einmal nach Mexiko. Dort hat man mich ständig gefragt, warum die Leute in Zürich randalierten. In Zürich! Ich konnte es ihnen nicht erklären. Ich meine: Wie erklärt man Leuten in Mexiko, warum die Leute im reichsten Land der Welt ihre grösste Stadt in Trümmer legen?"

Später erzählte der Freund. Er ist Akademiker, arbeitet in der Industrie und sucht gerade eine neue Stelle. "Es ist nicht so einfach wie früher", sagt er. "Früher fanden die Firmen niemanden, der genau das konnte, was sie brauchten. Da bekamst Du eine Einarbeitungszeit. Aber heute gibt es keine Einarbeitungszeit mehr. Heute finden die irgendwo in Deutschland jemanden, der genau das schon gemacht hat, was sie brauchen. Also nehmen sie den Deutschen." Ich lauschte interessiert. Bei uns arbeiten sehr wohl auch Deutsche. Aber ich habe schon lange keine Stelle mehr gesucht. Ich habe noch nicht gelernt, in Konkurrenz mit Deutschen zu stehen. Ich fragte ihn: "Könntest Du Dir denn vorstellen, in Deutschland zu arbeiten? Ich meine: Wenn die dort jemanden suchen würden, der genau das kann, was Du kannst, dann wäre das das Logischste."

"Eigentlich nicht", sagte er, "Ich bin viel herumgekommen. Ich weiss, dass es mir in der Schweiz gefällt. Ich bleibe hier, wenn ich kann."

Alle vier zusammen, merkten wir überrascht, deckten wir zwei Generationen Geschichte ab.

29
Mai
2010

Frage

Texte wie jenen von Ruth Schweikert von neulich nenne ich gern ein wenig verächtlich "Sonntagspredigten für Kaderleute". Aber dieser hier hat sich als besonders stimulierend erwiesen. Seit Tagen frage ich mich: Was muss man im Leben erreichen? Reicht es vielleicht doch, wenn man Mahlzeiten für Obdachlose kocht und einen heroischen, aber schier aussichtlosen Kampf gegen die Kakerlake führt?

27
Mai
2010

Keine Aussteigerin

Neulich fiel mir der Stellenbund der NZZ am Sonntag in die Hände. Er trägt den stylischen Titel "Executive". Geradezu hausbacken dagegen der Name der Rubrik "Arbeitskraft" auf seiner Aufschlagseite. Ruth Schweikert hat dort einen Text über einen ehemaligen Mörder geschrieben. Er kocht Essen in einer Notunterkunft für Obdachlose. Kein Executive also, aber freundlich und immer gut gelaunt. Früher war er ein Mörder, aber dann hat er sich geläutert. Jetzt, sagt eine Kriminologin im Text, sei er "der glücklichste Mensch, den ich kenne."

Ich stelle mir die Executives und Möchtegern-Executives vor, die den Text beim Kaffee gelesen haben. Wie sie nachdenklich den Kopf gewiegt haben. "Ja, das einfache Leben", werden sie gedacht haben. "Wie begehrenswert!" Wenn die Gofen* stürmen**, die Hypothek drückt, und gegen Abend auch noch ein paar Stündchen Arbeit warten, wer möchte da nicht ein asketisches Leben führen! Ein Leben ohne Geldsorgen, einfach, weil kein Geld da ist. Ein Leben ganz für den Moment, ein gutes, sinnvolles Leben! Früher dachte ich jeweils solche Dinge, wenn ich solche Texte las.

Dieser Text aber heilte mich von einer Illusion. Ich ahnte: Der Mann wohnt in einem abgefucktes Zimmer direkt neben einem Hochbahn-Trassee. Um 4.30 Uhr morgens donnern die ersten Züge an seinem Schlafzimmer vorbei. Ob er selber mit der Bahn fahren kann, muss er sich jeweils zwei- bis dreimal überlegen. Denn Bahnfahren ist teuer. Er verrichtet Schwerarbeit in einer miserabel ausgerüsteten Küche. Er führt einen vorbildlichen, aber fast aussichtslosen Kampf gegen die Kakerlake. Er ist manchmal einsam, auch wenn das Alleinsein gelernt hat.

Plötzlich wusste ich: Ich bin keine Aussteigerin. Das einfache Leben halte ich mir lieber vom Leib, so lange ich kann. Der Text setzte bei Frau Frogg eine ganze Gedankenreihe frei. "Nein, ich will mir nicht jeden Monat überlegen, ob ich mir meine Wohnung noch leisten kann. Ich will ab und zu mit einer Freundin im Restaurant essen. Ich will mir ohne nachzudenken einen neuen Schirm kaufen können, wenn ich den alten irgendwo habe liegen lassen. Kurz: Ich bin keine Kandidatin für das einfache Leben."

Es kann sein, dass sich eine Lösung für meine wirtschaftlichen Probleme abzeichnet. Als ich es gestern erfuhr, vollführte ich aber merkwürdigerweise keinen Freudentanz. Sondern ich bekam zuerst einmal einen Angstzustand. Wahrscheinlich Ausdruck der Unsicherheiten der letzten Monate.

Richtig freuen tat ich mich erst heute.

Der Soundtrack des Tages (ignoriert einfach die Bärte, dann ist das ein schöner Song):


(mit einem Dankeschön an Herrn Schallplattenfreund).


*Gofen: Schweizerdeutsches Schimpfwort für Kinder
** "stürmen": Was Gofen am Sonntagmorgen mit Eltern tun: Ihre Aufmerksamkeit fordern

22
Mai
2010

Der erste und der letzte

Das Gehör

Aus: "unerhört" pro audito Schweiz, Schulverlag plus AG, pro audito, Bern, Schutzumschlag

18
Mai
2010

Seltsame Begegnungen

Neuerdings gehe ich häufig nach der Arbeit in der Stadt einkaufen. Danach sitze ich an der Bushaltestelle, warte auf meinen Bus und lese den "Blick am Abend": Neulich begegnete mir darin das Bild von Reda el Arbi. El Arbi ist gerade in Thailand. Das wusste ich natürlich, denn ich lese auch seinen Blog, ohne dort allerdings häufig zu kommentieren oder so. Ich glaube nicht, dass er meinen Blog liest. Aber als ich das Bildchen von Reda im "Blick am Abend" sah, hatte ich richtig Freude, einen alten Bekannten zu entdecken. Ich hätte ihm am Abend schier einen Kommentar geschrieben. "Redder, ich habe Dich im 'Blick am Abend" gesehen!" wollte ich schreiben. Aber ich liess es bleiben.

Denn er hätte das blöd gefunden. Ich finde es auch blöd, wenn irgendwelche Halbbekannten mir im Bus erzählen, dass sie mein Bild in der Zeitung gesehen haben. Jeder kann mein Bild in der Zeitung sehen. Da ist nichts dabei.

Die Begebenheit gehört zu jenen seltsamen Begegnungen, die man im Medienzeitalter täglich hat und die eigentlich gar keine sind.

Ebenfalls seltsame Begegnungen habe ich mit Izzie Stevens.



Für alle, die es nicht wissen: Izzie Stevens existiert gar nicht. Sie ist eine der Ärztinnen in der Ärzteserie "Grey's Anatomy", die am Montag bei uns auf SF2 läuft. Das heisst: Sie ist dort nicht einmal mehr Ärztin, sondern unlängst vom Klinik-Chef gefeuert worden. Zuvor war sie sogar an Krebs gestorben (wurde dann aber im letzten Moment gerettet. Das erfuhr die Zuschauerin jedoch erst einen Montag später). Seither taucht sie nur noch sporadisch auf. Wie ein Gespenst.

Als Izzie starb, hatte ich gerade mein Gehör wiedererlangt und telefonierte mit einer Freundin (nur, damit Ihr nicht glaubt, jemand der solche Geschichten erzählt, hätte keine Freunde). Aber ich sah aus dem Augenwinkel, dass Izzie starb.

Ich war richtig traurig.

Seither warte ich jeden Montag darauf, dass sie wieder auftaucht. Was sie aber fast nie tut. Izzie ist ein Gespenst geworden, für mich und für die Serie.

Aber es gibt da auch ein beinahe gegenteiliges Phänomen.

Seit ich taub war, habe ich viel mehr Mail-Kontakte als früher. Zuvor hatte ich immer geglaubt, die Schrift sei eine sachliche Angelegenheit. Geschriebene Worte bestünden aus Buchstaben, und Buchstaben könnten keine Gefühle transportieren. Dachte ich. Ich fand Briefe deshalb immer ziemlich langweilig. Aber jetzt bekomme ich manchmal Nachrichten, in denen ich Momente grosser Freundschaft verspüre. Funken des Verständnisses. Momente von Nähe, ja von einer Innigkeit, die zu kommunizieren ich per E-Mail für unmöglich gehalten hatte. Sogar gegenüber Personen, die ich nur durch E-Mails kenne, mit denen ich noch nie oder schon viele Jahre nicht mehr gesprochen habe.

Und ich glaube nicht, dass ich mir das einbilde.
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