20
Apr
2010

Herzrasen

Der Tigervater ist immer noch auf der Intensivstation. Hinter ihm zählen Maschinen seinen Puls, seinen Blutdruck, nochmals seinen Blutdruck und eine Reihe anderer Dinge. Meistens hat er 85 Pulsschläge pro Minute. Er ist wach und mitteilsam. Doch weil ein Schlauch ihm Sauerstoff in die Lunge pumpt, kann er nicht sprechen. Nur Laute formen. Ich hätte doch einen Lippenlesekurs besuchen sollen, verdammt! Wir haben ihm eine Ritsch-Ratsch-Tafel* gekauft. Darauf kann er ohne viel Kraftaufwand schreiben und das Geschriebene auch schnell wieder wegputzen.

Sie liegt neben ihm auf dem Bett. Wenn er danach greift, steigt sein Puls jedesmal auf 100.


* Eine dieser Tafeln, die wir als Kind hatten: Sie sind mit Pauspapier und einer Plastikfolie überzogen. Man kann darauf schreiben, dann einen Stift drüberziehen und das Geschriebene so wieder wegputzen.

18
Apr
2010

Alles nur geliehen

Wer sehen uns gern als Herrinnen (oder Herren) über unser Schicksal. Unser freier Wille ist uns heilig, wir leben für unsere Ziele. Wir betrachten uns als so frei, dass sich manche von uns sogar fragen, ob sie die Schuld an ihren Krankheiten selber tragen.

Aber vielleicht sind wir nicht so frei wie wir glauben. Seneca etwa schreibt um 50 nach Christus über die Haltung des Weisen: Er rechnet "nicht nur Sklaven, reichen Besitz und würdevolle Stellung, sondern auch seinen Körper, seine Augen, seine Hand und was dem Menschen den Wert seines Lebens erhöhen mag, ja sich selbst, unter die Dinge, auf die kein Verlass ist. Er lebt, als wäre er sich selbst nur geliehen und müsse sich ohne Murren zurückgeben, wenn man ihn zurückfordere." (Von der Seelenruhe). Manchmal ist dieser Gedanke tröstlich.

Dazu der passende Song:



Besonders die Zeile: "...and so castles made of sand fall in the sea, eventually..."

17
Apr
2010

Fiese, kleine Stimme

Als ich Doktor Schnösel auf Wiedersehen gesagt hatte, verliess ich das Spital. Genauer gesagt: Ich schwebte aus dem Spital. Ich hätte singen mögen, jubeln. Ich war überglücklich darüber, dass er mir gesagt hatte, ich könne wieder mehr arbeiten. An diesem Tag lernte ich jene Frau Frogg richtig kennen, um deren Existenz ich zwar gewusst hatte. Von der ich aber nicht geahnt hatte, dass sie in meiner Seele einen so gewaltigen Raum einnimmt. Es ist die Frau Frogg, die nichts lieber täte als wieder in ihr früheres Leben zu schlüpfen wie in einen bequemen und gediegenen Mantel. Die Frau Frogg, die den Wohlstand und ihre bürgerliche Existenz liebt. Die Frau Frogg, die jenen einen Tag an der Woche wieder mit den Kumpels am Newsdesk malochen möchte. Die Frau Frogg, die gut gekleidet durchs Café schweben und sich nicht überlegen möchte, ob sie sich das Fischmenü leisten kann oder nur ein Salätchen.

Ja, irgendwo ertönt da noch dieses mickrige Stimmchen. Es sagt: "Vielleicht hatte der andere Arzt recht. Vielleicht verlierst Du Dein Gehör, wenn Du Dich gleich viel Stress aussetzt wie früher." Aber ich antworte leichthin: "Vielleicht werde ich sowieso taub. Warum nicht vorher noch die paar Adrenalinkicks und die Kohle, die ich mehr verdiene, wenn ich mehr arbeite?!"

"Und was wird aus all den anderen Dingen, die Du tun könntest, wenn Du weniger arbeitest? Diesem halben Dutzend Projekten, die Du schon angedacht hast? Vielleicht sogar Deinem Krimi?" fragte die fiese, kleine Stimme.

Ich zögerte.

Der Ohrwurm des Tages:

14
Apr
2010

Die spinnen, die Ärzte!

Ihr erinnert Euch. Vor zwei Monaten sagte ein Arzt im Spital zu mir: "Sie müssen Ihr Pensum reduzieren. Wenn Sie Ihr Pensum nicht reduzieren, verlieren Sie Ihr Gehör!" Das hat mich damals heftig aus der Bahn geworfen. Nicht zuletzt deshalb, weil es von jenem Arzt kam, zu dem ich in diesem Laden noch am ehesten Vertrauen hatte.

Zur Zeit arbeite ich tatsächlich zu einem reduzierten Pensum. Ich zehre von einem umfangreichen Ferienguthaben, und noch ist nichts Definitives entschieden. Mein Arbeitgeber hat sich zum Glück als sehr flexibel erwiesen.

Vorgestern musste ich wieder ins Spital. Diesmal sass ich einem anderen Arzt gegenüber als letztes Mal. Im Spital sieht man leider selten denselben Arzt zweimal. Aber weil ich im Herbst so oft im Spital war, kenne ich mittlerweile alle Assistenzärzte. Ich erkannte auch den hier wieder. Ich nenne ihn den Schnösel, immer noch, obwohl er mir seit dem Herbst merklich gereift scheint.

Der Schnösel guckte auf meinen Hörtest, der gut war. Dann fragte er: "Und wie stehts mir der Arbeit?"

Ich erklärte ihm die Situation.

Er schüttelte den Kopf und sagte: "Aber nein, Frau Frogg! Sie sollten jetzt wieder mehr arbeiten! Sie sollten wieder aufbauen!"

Frau Frogg guckte verdutzt aus der Wäsche. "Aber der andere Arzt hat gesagt...", sagte sie.

"Nein, nein, nein, das ist ganz falsch", sagte der Schnösel.

Da holte Frau Frogg tief Luft, fasste sich ein Herz und verlangte endlich, endlich den Oberarzt zu sehen. Wie viel sie arbeite und verdiene, sei schliesslich eine existenzielle Frage, gab sie zu bedenken. Sie fühle sich schon ein bisschen verschaukelt, wenn ihr da jeder Arzt (sie verkniff sich den Ausdruck "jeder dahergelaufene Assistenzarzt") etwas anderes erzähle.

"Jaja, das kann ich Ihnen schon organisieren", sagte der Schnösel, "Aber ich bin sicher, dass er meiner Meinung sein wird!"

Nun ja. Wir werden sehen. Am 25 Mai. Der Oberarzt hat erst dann Zeit.

11
Apr
2010

Kaputter Sozialstaat

Dies ist die Geschichte der Kellnerin Verena. Sie ist eine fiktive Figur, aber ihre Geschichte ist zusammengestückelt aus vielen einzelnen Geschichten, die ich in letzter Zeit gehört habe. Verena hat die Meniere'sche Krankheit. Alle paar Wochen hat sie einen Drehschwindel-Anfall. Sie kann sich dann nicht mehr auf den Beinen halten, ist auch schon hingefallen, oft erbricht sie während solcher Anfälle. Wenn ihr schwindlig war, fiel sie jeweils einen halben oder ganzen Tag bei der Arbeit aus - meistens ohne Vorwarnung.

Irgendwann hatte ihr Chef genug und entliess sie. Nicht nett, aber verständlich. Wer will schon eine unzuverlässige Kellnerin.

Die Sache hatte sich herumgesprochen, und sie fand keinen neuen Job.

Nun gibt es für solche Fälle in der Schweiz die so genannte Invalidenversicherung (IV). Meinen jedenfalls die meisten Schweizer und zahlen als Arbeitnehmer auch brav monatlich ihre Beiträge. Aber wer sich ein bisschen umhört, erfährt schnell: Die IV ist selber invalid, krank gespart von unseren Politikern. Mit dem Segen des Volkes, muss man fairerweise sagen, aber das macht es nicht besser.

Verena ging zur IV. Sie bat nicht um eine Rente. Sie wollte Beiträge für eine Umschulung. Sie wollte einen Beruf, bei dem sie sich ihre Zeit besser selber einteilen konnte.

"Tut uns leid", hiess es bei der IV, "Verena bräuchte eine Ausbildung, keine Umschulung. Und wir sind eine Umschulungs-Institution, keine Ausbildungs-Institution." Zu Deutsch: Wer schon keinen rechten Beruf hat, soll auch keinen lernen, wenn er erst krank ist.

Ihr Arzt sagt sarkastisch. "Also bitte! Wofür brauchen wir denn eine IV!? In der Schweiz wird doch heute niemand mehr krank!"

Falls Verena jemanden zum Anpumpen gefunden hat, prozessiert sie jetzt gegen die IV. Das tun viele. Falls nicht, wird sie zum Sozialfall.

Ich will nicht jammern. Gestern habe ich diesen Bericht im Tagesanzeiger-Magazin gelesen und muss sagen: Im Vergleich dazu gehts uns blendend. Auch wenn Verena zum Sozialfall wird: Frieren oder hungern muss sie nicht.

Aber der Mechanismus ist ein ähnlicher: Da stösst eine Gesellschaft eine ganze Gruppe von Menschen aus. Weil sie den falschen Pass haben. Oder weil sie krank sind. Man lässt sie verschwinden, vergisst sie und lässt es sich gut gehen. So einfach ist es.
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Journal einer Kussbereiten

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