14
Sep
2013

Daheim geblieben

Als sie näher kam, sah ich: Es war Iri, also, Irene. Sie sah noch genau gleich aus wie vor 30 Jahren, als wir zusammen zur Schule gingen. Fröhlich. Nur ein paar kaum sichtbare Lachfältchen verrieten, dass sie auch so Mitte vierzig ist.

Sie ist hiergeblieben, wohnt nur 200 Meter und einen Bach entfernt vom Haus ihrer Eltern, vom Haus meiner Eltern. Sie hat zwei Kinder, 12 und 16. Sie ist Lehrerin geworden, wie viele hier. Sie sieht glücklich aus.

Während wir plaudern, studiere ich ihr Gesicht wie ich früher das Gesicht eines Interviewpartners mit verblüffenden Ideen studiert hätte. Ich suche nach Zeichen. Zeichen, die mir erklären, warum sie geblieben ist.

Klar, es ist schön hier. Perfekt. Aber hat sie keinen Hunger auf die Welt da draussen gehabt? Hat sie keinen Durst danach gehabt, sich selber zu erfinden?

Früher hätte ich sie ein bisschen dafür verachtet, dass sie nicht weggegangen ist. Ich ging, so früh ich konnte. Und an jenem stillen Septembertag daheim begriff ich, dass mich nicht nur der Hunger getrieben hat. Getrieben hat mich auch die schiere Perfektion dieser Gegend an einem stillen Septembertag. Es hätte mich zu viel Kraft gekostet, diese Perfektion zu wahren. Ich floh. Ich musste mich selber erfinden. Immer ein bisschen hungrig. Immer ein bisschen wild. Manchmal verzweifelt.

Leben heisst Risiken eingehen, mit Unerwartetem zurechtkommen müssen. Ich bin nicht uneingeschränkt stolz auf den Ort, an dem ich mich heute befinde. Aber ich bin stolz darauf, dass ich - bis jetzt - einen Weg gefunden habe.

Heute verachte ich Iri nicht. Im Gegenteil: Ich empfinde Respekt dafür, dass sie die Kraft aufgebracht hat, zu bleiben. Ich frage mich, wo sie sie hergenommen hat.
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