24
Nov
2013

Frau ohne Ziele

Neulich hat Bloggerkollege Jossele mir hier geraten, mir eine Liste zu machen, "was alles noch gelebt werden wolle". Das ist gewiss ein guter Vorschlag. Man lebt ja nicht ewig. Da sollte versuchen, das Beste aus seiner Lebenszeit zu machen.

Nur: Der Gedanke erwischte mich total auf dem falschen Fuss. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, was in meinem Leben "alles noch gelebt werden" will. Merkwürdig, dachte ich.

Ich bin ja nicht an sich ein planloser Mensch. Was hatte ich vor fünf Jahren für Pläne! Ich wollte mit dem Kulturflaneur nach China reisen. Ich wollte einen Krimi schreiben. Und ich hatte ja so viele Ideen für meinen Berufsalltag, in dem damals "Ideen haben" eine wichtige Rolle spielte.

Dann liess mich mein Gehör im Stich. Ich war krank, erholte mich, wurde wieder krank, erholte mich nicht mehr richtig. Mein Leben wurde ein einziger, sorgfältig austarierter Versuch, mein Gehör so gut und so lange wie möglich zu erhalten.

Ich wurde zur Spaziergängerin. Spazieren tat mir gut. Ich hatte seriöse Spaziergänger-Projekte. Aber wachsende Probleme mit meinem linken Fuss trübten mir auch die Freude am Spazieren. Ich gehe heute weniger weit und vorsichtiger.

Ich lebe in den Tag hinein. Ich lese viel. Ich arbeite weniger. Ich bin in einer glücklichen Situation. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, woher in den nächsten paar Monaten das Geld für die Miete und das Mittagessen kommt. Wenn ich klage, dann klage ich auf hohem Niveau.

"Muss man Pläne haben?" fragte ich mich, als ich ein paar Schritte aus dem Schatten des Depressiönchens von letzter Woche machte. Muss man Ziele haben?

Klar: Der Mensch unserer Zeit braucht Ziele. Ziele geben uns die innere Härte und Gefasstheit, die wir brauchen, um im Leben zu bestehen.

Kann es ein Ziel sein, im Frieden mit sich selbst denn Alltag zu bewältigen?

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iGing - 24. Nov, 14:28

Das halte ich für ein vollauf akzeptables und zufriedenstellendes "Ziel" - oder besser gesagt: eine Grundlage, aus der vielerlei Möglichkeiten erwachsen (können, nicht müssen!). Diese Möglichkeiten muss ich mir nicht vorher schon als Ziele definiert haben, es dürfen durchaus auch Überraschungen dabei sein. Und wenn nicht, ist das auch nicht tragisch, denn ich habe genug damit zu tun, den "Frieden mit mir selbst" aufrecht zu erhalten, denn das ist ja mein eigentliches "Ziel".

Vergessen Sie also die Liste! Ist man einmal aus der Depression raus, kann die Liste auf den Müll ;-)

diefrogg - 25. Nov, 19:00

:))

Danke, Frau iGing! Damit kann ich sehr viel anfangen! Ich glaube, die Idee den Überraschungen, die aus einer gewissen Ziellosigkeit wachsen können, ist ausgezeichnet.
Britt M. - 24. Nov, 14:36

Liebe Frau Frogg,
Ziele können doch wunderbar sein - so es eine Chance gibt, sie zu erreichen.

Wenn ich mir morgens eine 4 km-Runde Joggen vornehme und dann zwei Runden laufe, bin ich zwar übers Ziel hinausgeschossen (bzw. gelaufen), aber es ist für mich immer ein herrliches Gefühl, ein Ziel erreicht zu haben. Und die Depressionen haben kaum noch eine Chance ... ;-)

Einen ganz herzlichen Gruß!

diefrogg - 25. Nov, 19:01

Ja, laufen...

nicht mehr so mein Ding, wegen des Schwindels. Aber ich verstehe, was Sie meinen - auch wenn ich Sport nie als etwas sehr Sinngebendes empfunden habe. Für die Stimmung ist er ohne Zweifel oft gut.
Jossele - 24. Nov, 19:38

Ich tät das mit der Liste, also Punkt 1, Punkt 2 usw. nicht so streng nehmen. Abarbeiten kann nicht wirklich ein Lebensziel sein denke ich, das wär fatal.
Aber so ein bisserl wohin orientieren, das wär doch schon etwas.
Ihr letzter Satz ist doch schon einmal fundamental.
Ich mein, wenn wir das schaffen, dann haben wir doch schon gewonnen.

diefrogg - 25. Nov, 18:58

Ich glaube, ich habe...

Sie schon richtig verstanden. Es geht ja in Ihrem Vorschlag um so etwas wie Erfüllung. Und diese Erfüllung zu suchen, halte ich für absolut legitim.

Übrigens ist mir aufgefallen, dass wohl unsere zehn Jährchen Altersunterschied einen grossen Unterschied machen. Endlichkeit betrachtet man mit Ende vierzig wohl noch mit mehr Abstand als mit Ende fünfzig. Oder ist das nur Ihre Abgeklärtheit?
arboretum - 24. Nov, 22:07

Kann es ein Ziel sein, im Frieden mit sich selbst den Alltag zu bewältigen?

Wie viele Leute haben schon mit dem zweiten Schwierigkeiten und erreichen das erste nie?

diefrogg - 25. Nov, 19:02

:)

Wie üblich: scharf beobachtet, Frau Arboretum. Ich habe mir nachher selber überlegt: Das mit dem Frieden mit sich selbst sagt sich so leicht...
steppenhund - 25. Nov, 10:19

Liebe Frau Frogg,

Ueber Ihre Fragestellung habe ich lange nachgedacht.

"Kann es ein Ziel sein, im Frieden mit sich selbst den Alltag zu bewältigen?"

Ich ersuche Sie, meine Antwort mit Nachsicht zu lesen und sie nicht als Besserwisserei abzustempeln. Auch moechte ich etwas erwaehnen, was Ihnen vielleicht gar nicht gefallen kann.

Zur Beantwortung der Frage wuerde ich meinen, dass es sehr wohl ein Ziel ist, und zwar ein vorgegebenes. Der Alltag wird uns aufgezwunden, die wenigsten Eigenschaften des Alltags koennen wir selbst bestimmen. Allenfalls koennen wir durch ein gutes Zeitmanagement ein Gefuehl der Ueberlastung vermeiden, was an sich schon hilft, selbst ein bisschen ruhiger zu werden.
Im Frieden mit sich selbst zu sein, sehe ich als Grundlage einer groesseren Zufriedenheit. Das ist fuer mich eindeutig ein Ziel. Ich halte es fuer das vernuenftigste Ziel, das man im Leben haben kann, vorausgesetzt man ist ehrlich zu sich selbst. Vielleicht ist das auch ein Obdachloser, der sich taeglich betrinkt. Es scheint dafuer also noch ein paar Zusatzbedingungen zu geben. Doch generell sehe ich es als das "vernuenftige" Ziel im Gegensatz zu Selbstverwirklungstendenzen und der kontinuierlichen Abfolge unterschiedlicher Lebensstile, die durch "Wie werde ich gluecklich?", "Wo wohnt das Glueck", "Gluecklich in zehn Tagen" oder aehnliche Werke bestimmt sind.

So weit so gut.
Jetzt nehmen wir einmal an, der Alltag ist bewaeltigt und ein sattes Gefuehl der Zufriedenheit stellt sich ein: Das habe ich heute wieder einmal glaenzend geschafft. Dann gibt es den naechsten Tag und den uebenaechsten Tag usw. Stellt sich da nicht irgendwann ein Gefuehl der Langeweile ein. Stellen sich dann nicht die Gedanken an den Tod ein?
Die koennen fruchtbar sein. Vielleicht erkenne ich eine Wahrheit, die noch nie jemand vor mir durchschaut hat. Wenn ich sie nicht fuer mich, im Sinne der Zufriedenheit, behalten moechte, sollte ich sie weitergeben. Das waere dann ein Ziel: die Weitergabe.
Ansonsten waere ja das Leben mit unserem Frieden nur ein Warten auf den Tod. (Sie kennen ja sicher das Glasperlenspiel von Hermann Hesse und "Doch heimlich duersten wir ...")

Also das als Ziel waere etwas zu einfach und vielleicht auch zu langweilig. Jetzt bringe ich ein Beispiel, das fuer Sie natuerlich nicht so relevant sein kann. Ich liebe meine Frau, weil sie genau ihre Fragestellung seit ich sie kenne lebt. In einer gewissen Form ist sie das genaue Gegenteil von mir. Sie wollte auch keine Kinder, ist aber eine wunderbare Mutter geworden und kann sich jetzt als Grossmutter noch besser ausleben. Es gibt ein paar Alltagsfragen, wo sie mich vielleicht schon benoetigt, doch generell kann sie alles bewaeltigen und das Leben ist extrem abwechslungsreich fuer sie. Nach zwei Augenoperationen sieht sie jetzt viel besser und (dreimal auf Holz geklopft) sie fuehrt momentan ein ausgesprochen zufriedenes Leben. Und sie wartet nicht auf den Tod, was in ihrer Familie die Frauen allgemein nicht getan haben. Ihre Tanten sind ziemlich aktiv alt geworden, die letzte lebende hat zwar mit 90 aufgehoert, ihren Kaefer zu fahren, doch sie macht die gesamte Verwaltung und Organisation fuer den Aufbau einer weiteren Bleibe fuer Obdachlose in Bremen.

Wir (eine Gruppe von Maennern) haben kuerzlich diskutiert, wie wir gerne sterben wuerden. Es kam heraus, dass es toll waere, im Bewusstsein zu sterben, dass noch nicht alles erledigt waere, was wir uns vorgenommen haetten. Es wuerde bedeuten, dass es immer etwas selbst im hohen Alter etwas gaebe, wofuer es sich zu leben lohnte, etwas was nicht selbstverstaendlich waere. Im Gegenzug dazu fanden wir, dass ohne dieses Gefuehl das Alter ja nur ein Warten auf den Tod waere.

Nun, ich denke, dass es eine Frage der Persoenlichkeit ist, ob man mehr zu dem einen (meine Frau) oder mehr zu dem anderen Modell (meine Gespraechspartner) tendiert. Da spielen sicher auch einige koerperliche Umstaende eine Rolle.

Jetzt moechte ich aber noch zum unangenehmen Teil kommen. Sie schreiben ueber ihre Krankheit und die damit verbundene Behinderung in einer Weise, als waere damit das "natuerliche" Leben zu Ende. Sie sehen die Restriktion als lebensbestimmend an. Es gibt verschiedene Wege, damit umzugehen.

In diesem Artikel (http://www.verbrauchernews.de/artikel/0000014161.html) gibt es eine Reihe von Musikern, die Gehoerprobleme hatten. Einige verfielen in Depression, andere konnten damit leben. Beethoven litt sehr darunter, speziell unter seiner Isolation (wie es im Heiligenstaedter Testament so dramatisch zu lesen ist).

Wir wuerden sicher die Kompositionen Beethovens sehr vermissen, die er bereits im Zustand der voelligen Ertaubung geschrieben hat. Vielleicht koennten Sie einen Roman schreiben, bei dem das Verbrechen gerade dadurch aufgedeckt wird, weil jemand nicht hoeren kann. (Wollten Sie nicht immer einen Kriminalroman schreiben, wenn ich mich nicht irre? Lassen Sie ihren Kommissar taub sein.)

Ziele zu haben scheint eine Gnade zu sein. Eine noch groessere ist es wohl, seine eigenen Ziele selbst definieren zu koennen. Vielleicht muss man sich diese Moeglichkeit auch selbst schwer erarbeiten.

Und zu allerletzt: waere es nicht ein tolles Ziel, Herrn Kulturflaneur gluecklich zu machen? (gd&r)

Nachtrag:
Ich sehe gerade, das Sie den Krimi ja gerade in diesem Posting wieder erwaehnt haben. Ich habe mich also nicht geirrt. Doch Sie koennen daraus ersehen, dass ich meinen Kommentar vollkommen offline erstellt habe, weil ich laengere Zeit ueber die Fragestellung nachgedacht habe und mir erst klar werden musste, ob ich ueberhaupt kommentieren soll.

diefrogg - 25. Nov, 18:51

Es freut mich...,

dass ich Sie zum Nachdenken angeregt habe - und ich finde selber Ihre Gedanken sehr anregend.

Zu einem Punkt möchte ich etwas Klärendes schreiben. Sie schreiben: "Sie schreiben ueber ihre Krankheit und die damit verbundene Behinderung in einer Weise, als waere damit das "natuerliche" Leben zu Ende." Das zeigt mir, dass sie einen wesentlichen Punkt dieses Beitrags erfasst haben, dass dieser Punkt aber vielleicht für Gesunde nicht restlos nachvollziehbar ist.

Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, als ob mein "natürliches" Leben zu Ende sei. Im Gegenteil: Ich fühle ich mich sehr lebendig und in mancher Hinsicht auch sehr glücklich. Ich stelle nur einfach fest: Wenn ich die Augen aufmache und mich nach Plänen umsehe, dann werde ich sofort vorsichtig. Die Krankheit hat in den letzten zu viele von ihnen zunichte gemacht.

Was den Krimi betrifft: Als ich daran arbeitete, glaubte ich ja, schreiben könne mir nicht schaden. Schreiben sei meine Berufung. Aber dann gab es eine Zeit, während der mein Gehör jedesmal massiv nachliess, wenn ich das Projekt in die Hand nahm. Natürlich wiederholte ich dieses Spiel nicht mehr als zwei- bis dreimal. Heute frage ich mich, ob das nicht alles Zufall war. Aber damals kam ich nicht umhin, diese Vorgänge als Zeichen zu deuten und seither im Umgang mit grösseren Schreibprojekten sehr vorsichtig zu sein.

Gelegentlich bastle ich an kurzen Geschichten. Aber ohne Ziel und ohne die Last eines romanlangen Plots auf den Schultern.
steppenhund - 26. Nov, 09:26

Fuer mich scheint die Geschichte mit der Gehoerverschlechterung anlaesslich der Arbeit mit dem Roman vollkommen klar. Aber ich bin weder Arzt noch Hobbypsychologe. Ein Arzt sollte Ihnen den Grund nennen koennen. Meine Hausaerztin hat meiner Diagnose aus der Ferne zugestimmt.
Eigentlich muesste Ihnen die Begruendung dafuer auch selbst ersichtlich sein, vor allem dann, wenn Sie das Beispiel mit kleineren vs. groesseren Schreibprojekten anfuehren.
la-mamma - 26. Nov, 09:37

unbedingt kann es ein ziel sein, im frieden mit sich selbst den alltag zu bewältigen. ich schätze, wenn es das einzige ist, dann leben sie schon sehr gelassen und viel weniger getrieben, als manch andere(r). ich hab mal über mich geschrieben, dass mir "zu viel ziel verpasst wird", womit ich ausdrücken wollte, dass wir in unseren vermeintlich eigenen zielen oft auch viel erwartungshaltung anderer zu erfüllen versuchen, und damit zwar unter umständen aktiver wirken, als wir sind, aber bestimmt nicht glücklicher (oder besser zufriedener) werden.

steppenhund - 26. Nov, 09:55

"Erwartungshaltung anderer" - ja, da ist was dran!
Noch schlimmer ist es, wenn man die Erwartungshaltung anderer als die eigenen verinnerlicht und erst spaet merkt, wie tief die Manipulation gegangen ist.
Aber das scheint speziell in Oesterreich eine geliebte Variante zu sein!
diefrogg - 26. Nov, 21:10

Da sprechen Sie mir...

sehr aus dem Herzen, la-mamma! Genau das meine ich. Ich habe manchmal den Eindruck, dass viel Übel daher kommt, dass die Leute ständig denken, sie müssten sich oder sonstwem irgendetwas beweisen.

Ich bin ja von dieser Schwäche nicht ganz frei - aber ich versuche wenigstens, gelassener zu werden.
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