25
Aug
2012

Ein Ende



Diese Ikone der Kleinbürgerlichkeit ziert unser Treppenhaus, seit ich es kenne. Und das sind jetzt doch 11 Jahre. Das Tischchen gehört unserer Nachbarin, Frau Baumgartner.

Gestern Morgen war es nicht an seinem angestammten Platz im zweiten Stock. Sondern unten, bei der Haustür. Jemand hatte es hinuntergetragen, um die Tür damit offenzuhalten. Ich sah es, blieb stehen und verspürte ein stilles Erdbeben. Ich wusste: Frau Baumgartner zieht aus.

Das kam zwar nicht ganz unerwartet. Frau Baumgartner ist gegen 90 und hat lange auf einen Platz im Altersheim gewartet. Sie hatte Schmerzen, das sah man. Aber ich habe sie in letzter Zeit selten gesehen. Ich hatte sie ein paarmal besucht, ihr meine Hilfe angeboten. Sie schien nichts zu wollen. Doch ich konnte ihre Hinfälligkeit im Treppenhaus riechen. Es war ein unheimlicher Geruch, ein dicker Breigeruch. Manchmal stieg er bis herauf in unsere Wohnung. Herr T. ignorierte ihn, aber mich beunruhigte er. Ich wusste: Es ist der Geruch des Verfalls.

Trotz all dieser Vorzeichen: Der Weggang von Frau Baumgartner erschüttert die selische Tektonik unseres Hauses wie ein Erdbeben der Stärke 6. Er hat eine stabile Erdschicht herausgerissen. Noch weiss niemand, was in das entstandene Loch hineinfallen wird.

Nicht, dass Frau Baumgartner eine besonders nette Nachbarin gewesen wäre. Sie gehörte jener Generation von Hausfrauen an, denen Hugo Lötscher in seinem Buch Der Waschküchenschlüssel ein schonungsloses Denkmal gesetzt hat. Ihre Hausgemeinschaft war für diese nicht auf Rosen gebetteten Frauen ein Ort der Engherzigkeit. Eine Engherzigkeit, die sie selber hart hatten erlernen müssen - und die sie unnachgiebig jüngeren Frauen aufzwangen. Erst unsere Frauengeneration hat gelernt, sich dieser Welt zu entziehen. Die Berufstätigkeit hat uns befreit und die Nachbarschaft zur Nebensache gemacht. Unsere Welt ist grösser, und sie hat neue Rangordnungen.

Aber das bedeutet auch, dass wir kaum zu Hause sind.

Frau Baumgartner war klug genug, das zu akzeptieren. Sie liess uns unser Leben und lebte ihres. Aber sie war da.

Wohl deshalb werden wir Frau Baumgartner vermissen: Sie war immer da. Sie war die Seele unseres Hauses. Mitsamt Stoffblumen und Gartenzwergen.

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Jossele - 25. Aug, 12:37

So Häuser haben ja ein Leben, und wir mit ihnen.
Ich hätte ja die Gartenzwerge nicht vermisst, aber der Wandel ist halt auch immer ein Wink mit der Zaunlatte was Zeit betrifft.

diefrogg - 25. Aug, 13:41

Ja, die Gartenzwerge!

Wie oft haben sie unsere Gäste amüsiert! Und in letzter Zeit, als ich immer häuslicher wurde, haben sie mich auch oft ein bisschen geängstigt." Ist sowas jetzt meine nächste Station?" habe ich mich gefragt. "Werde ich jetzt auch so engherzig, kommt mir jetzt auch die Weltläufigkeit abhanden?"

Was den Wink mit der Zaunlatte betrifft: Was ich ja in letzter Zeit immer wieder bestaunt habe, ist die ausserordentliche Zählebigkeit der Menschen um die 80 und 90. Für mich wirft das immer öfter die Frage auf: Möchte ich einmal so lange bleiben? Möchte ich auf diese quälend langsame Art hinfällig werden? Lieber nicht, denke ich mir dann. Aber was das bedeutet und welche Handlungen es bewirken sollte - ich weiss es nicht. Zumal ich auch immer wieder erlebe, dass die alten Menschen ja nicht leiden möchten. Aber sterben dann doch lieber auch nicht... Das sind alles schwierige Fragen.
Jossele - 25. Aug, 15:47

In der Tat, schwierige Fragen.
Ich wollte einmal nicht mehr leben, da war ich vierzehn, und hab´s mit der Pulsader probiert. Ich dachte, ich hätte Gründe dafür.
Nachher stand mein Plan fest, Dreißig, und dann ist Schluss (hab ich dann aufgeschoben).
Der Vierziger kam, der Fünfziger, und die Bereitschaft, es selbst in die Hand zu nehmen ist noch immer da.
Allerdings, ich hab die Erfahrung gemacht, dass jeder Lebensabschnitt eigentlich ganz lebbar ist.
Grad hab ich mit einem befreundeten Maler telefoniert, der ist 85 und schon ein bisserl anstrengend, aber trotz vieler Beeinträchtigungen sehr nah am Leben.
Ich weiss nicht, vielleicht sollte man sich das anschauen was noch kommt, das Fenster aufmachen und sich sehr weit rausbeugen kann man immer noch.
diefrogg - 25. Aug, 16:58

Meine Güte!

Zum Glück ist das mit den Pulsadern nicht so leicht wie man gemeinhin denkt! Wir hätten sonst als Leser ja viel verpasst!

Ich muss sagen - meine Bereitschaft, selber Hand anzulegen, ist relativ gering. Ich habe da eine hohe Hemmschwelle. Wenn ich religiös wäre, würde ich sagen, dass sie religiös bedingt ist. Zudem habe ich das Gefühl, dass ich damit doch ein paar Mitmenschen Unannehmlichkeiten bereiten würde, die ich niemandem bereiten möchte. Aber ich habe Respekt vor Menschen, die sich nach reiflicher Überlegung und in extremen Situationen sagen, dass sie sich die Freiheit herausnehmen, die Sache selber in die Hand zu nehmen.

Und, ja: Selbst meine Grossmutter - nach ihrem Schlaganfall schwer eingeschränkt - war ein Mensch, der das Fenster bis fast zuletzt offen behalten hat. Sie war mir damit nicht nur ein Beispiel. Ich verdanke ihr auch viel, weil ich mich bis zuletzt von ihr verstanden fühlte. Viel besser als von vielen anderen. Noch in den letzten Tagen soll sie zu ihrem Sohn gesagt haben: "Ich will nicht sterben." Was erstaunlich ist für eine Frau, die fast 90 war, schwer krank und eigentlich - so sagte sie von sich selber immer - gut auf den Tod vorbereitet. Ich denke, wir hängen als Spezies halt doch sehr am Leben.
Jossele - 25. Aug, 17:34

Na ja, das darüber nachdenken, also "Hand an sich zu legen" wenn´s eng wird, finde ich nicht so schlimm, zumal, das Tun ist etwas anderes.
Leben ist etwas einzigartiges, und die Möglichkeit daran teilzuhaben sollten wir, egal wie die Umstände sind, solang wie möglich nutzen.

(Damals mit Vierzehn, ich war ja schwererziehbar und in einem Erziehungsheim untergebracht, und da war auch so ein bisserl Misbrauch dabei, da hab ich´s nicht besser gewußt, und als sich mein Bruder wegen einer Beziehung das Leben genommen hat, hab ich geglaubt, das wär eine Lösung, was natürlich ein Blödsinn war. Der aufrechte Gang ist auch mit ein paar Schrammen möglich.)
diefrogg - 26. Aug, 11:44

Ich hatte angenommen,

dass Sie in einer äusserst schwierigen Lage waren mit 14, Herr Jossele. Aber dass es so schlimm war... Da hätten wohl die meisten nur mit Mühe durchgefunden - auch ich. Ich war eine pessimistisch gestimmte Jugendliche und hätte die Schwierigkeiten, mit denen Sie konfrontiert waren, wohl auch nur mit grösster Mühe verkraftet. Das mit dem aufrechten Gang werde ich mir merken - jemandem wie Ihnen nimmt man das allemal ab!
Ascentive - 25. Aug, 17:46

Auch so nicht gemochte Gegenstände wie die Gartenzwerge eines Nachbarn haben ihren Platz in unserem Leben und bieten Stabilität.
Es dauert dann erst einmal eine ganze Weile, bis man mit der Veränderung wieder in Einklang geworden ist.
Ich kenne das auch ;)
~Anja~

Britt M. - 25. Aug, 18:27

Mit dem Äterwerden ist das so eine Sache. Mein Vater ist 90, ziemlich dement und etwas unsicher auf den Beinen. In klaren Momenten beklagt er sich über all die Dinge, die er nicht mehr so kann. Dann zwinkert er mir zu und meint: "Aber so ein, zwei Jahre hätte ich doch gern noch."

Seit ich im letzten Jahr in den Ruhestand getreten bin, mache ich mir auch immer öfter mal meine Gedanken über die Zukunft ... und dann zwinkere ich mir zu und genieße den Tag!

diefrogg - 26. Aug, 11:54

Das klingt nach einer...

guten Einstellung ;)
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