29
Apr
2015

Gehörlosen-Komödie

Paula Bélier hat ein grosses Talent: Sie kann singen, und wie. Eine Karriere in Paris liegt in Griffweite. Aber zuerst muss die 16-jährige Bauerntochter ein paar Hürden überwinden. Die schwierigste: Mutter, Vater und Bruder sind gehörlos - Paula ist als Hörende ihre Gebärden-Dolmetscherin und somit der Draht der Familie zur Aussenwelt

Das ist die Ausgangslage der französischen Erfolgskomödie La famille Bélier.


Familie Bélier, links Paula. Quelle: cdn.im6.fr

Kritiker schreiben, der Streifen habe erhebliche Schwächen im Handlungsaufbau. Ja, das stimmt. Trotzdem empfehle ich ihn unbedingt. Gut, ich bin da mit meinen Gehörproblemen vielleicht etwas voreingenommen. Aber ich habe auch Argumente. Hier:

1) Papa und Mama Bélier sind als Figuren gut herausgearbeitet. Mama Bélier ist überkandidelt, ich-bezogen, kurz, keine gute Mutter. Halleluja! Einmal eine behinderte Frau, die der Welt kein leuchtendes Vorbild sein muss! Eines Abends, heftig angesäuselt, gebärdet sie zu ihrer Tochter: "Als Du zur Welt kamst und sie mir sagten, dass Du hörst, habe ich so geweint! Ich habe Hörende nie ausstehen können." Hier, an dieser Stelle, schimmert mitten im ganzen Komödien-Klamauk die potenzielle Tragik dieser Familienkonstellation auf. Man versteht, warum Paula sich zunächst für ihre schöne Stimme schämt. Man sieht an der Geschichte auch etwas Exemplarisches - ähnliche familiäre Verstrickungen erleben ja nicht nur die hörenden Kinder von tauben Eltern. Sondern - nur zum Beispiel - auch Töchter und Söhne von Alkoholikern. Gut, dass das Mädchen einen wirklich patenten Vater hat.

2) Der Film behauptet, dass Taube ehrlich, direkt und sehr sinnlich sind. Da ist etwas Wahres dran, auch wenn der Film es für meinen Geschmack zu stark überzeichnet. Ich erlebe das selber im Umgang mit meinen schwerhörigen Bekannten. Körpersprache, auch Slapstick, spielen bei uns eine wichtige Rolle. Das ist oft spassig - und dass Leute mit Hörproblemen auch Spass haben können, darf man ja ruhig einmal im Kino sagen.

Ich habe mich bloss gefragt: Warum muss man immer und überall betonen, dass Menschen mit schlechten Ohren guten Sex haben? Und: Gibt es in Frankreich auf dem Land noch keine Cochlea-Implantate?

25
Apr
2015

Und plötzlich...

Seit gestern höre ich wieder Musik. Ja, ich weiss, für die meisten Leute ist das keine Schlagzeile. Für mich schon. Mein letzter Beitrag über Musik stammt vom Dezember 2013. Wenig später wurde ich wieder schwerhörig.

Aber gestern hörte ich plötzlich viel besser. Vorsichtig optimistisch ging ich auf Youtube und versuchte es mit The Clash. Menière-Patienten sollten es im Zweifelsfall mit The Clash versuchen - die Gitarren sind laut, satt und sowieso schräg gestimmt.

Siehe da, es ging.

Ich drückte mir die Kopfhörer gegen die Ohren und hörte Should I Stay or Should I Go und lächelte. Ich hörte "The Passenger" von Iggy Pop und lächelte immer noch (auch über das köstliche Video). Bei Heroin von Lou Reed begann ich zu weinen. In den tiefen Lagen eierte der Song ein bisschen. Aber ich weinte nicht deswegen. Ich weinte, weil es da eine Orgel gibt, die wirklich an die Tränendrüsen geht. Ja, es ist sentimental. Ich weiss. Ist halt so.

Ich achtete darauf, dass ich von allen Songs Versionen bekam, die ich kannte. Merkwürdigerweise klingt alles falsch, was ich nicht sehr gut kenne. Aber was ich kenne, kann ich mit ein bisschen Willenskraft zum Richtigklingen biegen. Das Gehör ist eine merkwürdige Sache.

Wenn ich es nie in meinem Leben verloren hätte, hätte Musik mich vielleicht nie mer so glücklich gemacht. Weil ich ab und zu schwerhörig werde, weiss ich, dass Musik konzentriertes Glück ist.

Jetzt möchte ich nur noch wissen, wie man dieses Glück, dieses Gefühl von Weite, diesen leichten Rausch auch ohne Musik aufbewahren kann.

12
Apr
2015

Warten auf Grossvater

Mein Grossvater war bei seinen Kundinnen sehr beliebt. Er und Grossmutter hatten eine kleine Bäckerei in einem Schweizer Voralpendorf. Zweimal in der Woche packte er mächtige Kilobrote in den Kofferraum seines Autos und fuhr los. Er lieferte die Laibe direkt bei den Bauernhöfen ab. Das machten die Bäcker damals auf dem Land noch so. Manchmal fand meine Grossmutter, diesmal habe die Fahrt aber verdächtig lang gedauert. Dann machte sie ihm kleine Eifersuchtsszenen.

Wenn ich als Kind bei den Grosseltern in den Ferien war, durfte ich mit auf Grossvaters Fahrten. Das waren für mich immer grosse Abenteuer. Einmal stieg er bei einem Bauernhaus aus und sagte: "I chume grad wider." Auf Hochdeutsch: "Ich komme gleich zurück." Für alle, die nun im Schweizerdeutschen Satz das Wörtchen "gleich" vermissen - ja, er hätte auch sagen können: "I chume glii wider." Aber das hätte etwas ganz anderes bedeutet, nämlich: "Ich komme bald zurück." Ich erinnere mich aber genau, dass er das nicht sagte. Der Zeitabstand zwischen zwischen "gleich" und "bald" ist für ein wartendes Kind ja eine Ewigkeit. Und warten, ja, das tat ich. Denn er kam und kam nicht mehr aus dem Haus heraus.

Wenn ich so darüber nachdenke, wird mir klar, warum wir hierzulande Hochdeutsch eben doch als Fremdsprache empfinden: Nie wird für uns in banalen hochdeutschen Wörtern wie "gleich" oder "bald" oder "sofort" die die gleiche kindliche Ungeduld mitschwingen wie in den Wörtchen "glii" oder "grad" oder "jede Momänt".

Item. Ich sass im Auto und wartete. Mir wurde heiss. Aussteigen durfte ich nicht. Ich hätte ins Güllenloch fallen können, sagte Grossvater. Furcht ergriff mich. Was konnte mir alles passieren, während ich so allein in diesem Auto sass? Und überhaupt: Was machte Grossvater mit der Bäuerin da drin? Vielleicht das, was meine Grossmutter wieder so aus dem Häuschen gebracht hätte? Was das genau war, wusste ich noch nicht. Eine schrecklich lange Zeit verfloss.

Endlich kam Grossvater dann doch wieder.

Heute vermute ich, dass er höchstens zehn Minuten weg gewesen war.

Dies ist mein Beitrag zum fünften Wort des Projekts *txt in der neonwilderness. Es lautet: "gleich"

27
Mrz
2015

Strapaziöser Frühling

Vielleicht habe ich in letzter Zeit zu wenig gejammert. Eine Leserin hat das alles hier jedenfalls als "kraftvoll" und "lebensbejahend" bezeichnet. So sehr mich das freut - es wird Zeit, dass ich dieses Bild zurechtrücke und ein trauriges Geständnis mache: Ich empfinde die Jahreszeiten immer öfter wie die Phasen einer chronischen Krankheit.

Zum Beispiel der Frühling. Ich meine: Da scheint endlich die Winterstarre überwunden, es wird warm, geradezu fiebrig warm. Farben schiessen aus dem Boden, beunruhigend viele Farben, es ist zum Bäumeausreissen - und schon am nächsten Tag verklebt frischer Schneeschleim die Pastellpracht. Ein Rückfall. Und doch denkt man, bald werde man das alles überstanden haben – die Kälte und die Erkältungen, das Grau, die mehligen Äpfel und braunfleckigen Bananen aus dem Supermarkt. Bald gibt’s Erdbeeren und Spargeln und dann Kirschen und Aprikosen, und dann ist es Sommer und heiss und man kann baden und im Schatten unter den Bäumen liegen und nachts draussen plaudern ohne Jäggli und alles ist gut. So gut.

Aber ehrlich - heuer sehe ich all das Gebalze und Gespriesse und denke immer: Wozu die ganze Aufregung? Nur fünf Monate, dann beginnt ein neuer Schub Winter.

18
Mrz
2015

Der Sammler, der Waffenfabrikant


Kunstsammler und Waffenfabrikant E. G. Bührle (Bild von Dmitri Kessel, Quelle: buehrle.ch)

Neulich besuchten Herr T. und ich die Kunstsammlung von Emil G. Bührle (1890 bis 1956). Sie ist zu sehen in einer Villa in Zürich, bourgeois, exklusiv, nur nach Anmeldung.

Am Beispiel des Werkes unten erklärte uns eine Kunsthistorikerin eine Eigenheit der impressionistischen Kunst:


Claude Monet: Mohnfeld bei Vetheuil (Quelle: www.posterlounge.de)

Das Bild sieht nicht immer gleich aus. Steht man ganz nahe, so sieht man fast nur Farbtupfer. Je mehr Abstand man nimmt, desto mehr wird das Ganze zu einer blühenden Frühsommer-Landschaft bei labilem Wetter - bezaubernd.

In der Villa Bührle hängen solche Meisterwerke dicht an dicht. Bührle konnte sich sein Hobby leisten. Er war Waffenfabrikant in einer waffensüchtigen Zeit, ein begnadeter Händler und pingeliger Steueroptimierer. Kein sympathischer Charakter - aber ein schillernder.

Was brachte ihn dazu, sich eine solche Sammlung anzulegen? Reines Prestigedenken? Sollte die Schönheit dieser Werke vor allem ihn besser aussehen lassen? Oder hatte der studierte Kunsthistoriker Bührle eine andere Seite, eine tiefe Sehnsucht nach der befreienden Kraft der Kunst? War seine Sammlermanie gar ein Versuch der Sühne? Wollte er, dass Menschen wegen ihm nicht nur bluteten und verreckten - sondern Werke exquisiter Schönheit zu Gesicht bekamen?

Jedenfalls zeigt seine Geschichte, dass die Kunst die Welt nicht besser macht. Und wenn man lange genug darüber nachdenkt, werden die Waffen, die Kultur, die Bourgeoisie, wie die Kleckse eines grossen Bildes. Und man denkt so: Wie viel Abstand braucht es wohl, bis man sieht, was wirklich drauf ist?

Das ist mein neuer Beitrag für Herrn neonwilderness und sein famoses Projekt *txt - das Stichwort heisst "Bild".
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