7
Mrz
2015

Die tiefste Stelle des Sees

214 Meter tief ist die tiefste Stelle des Vierwaldstättersees. Das Wasser wogte wie ein düsterer Vorhang, als in der Nacht auf den 31. Dezember 1995 ein Schiff auf sie zuhielt. Links und rechts standen finster die 1000 Meter hohen Flanken der Rigi und des Bürgenstocks.

Auf dem Schiff herrschte festliche Stimmung. Wein und Bier flossen in Strömen. Ich kann mich erinnern, ich war dabei und hatte selbst ein paar Gläschen intus.

Dann stellte das Schiff den Motor ab und zwei Männer stiegen aufs Deck. Einer trug ein schweres Metallrohr. Nach einer kurzen Ansprache warf er es in die schwarzen Wellen - auf dass es 214 Meter tief sinke und wenigtens dort unten eine Art Ewigkeit erhalte. Es enthielt die letzte Ausgabe der Luzerner Neuesten Nachrichten, frisch von der Druckmaschine. Das Blatt war wegfusioniert worden. Wie so viele Lokalzeitungen jener Jahre. Wir schauten zu. Ob wir applaudierten, weiss ich nicht mehr.

Ich war 29, und der Job bei den LNN war mein erster, der mir etwas bedeutete. Ich lernte in jener Nacht, wie man eine Welt gepflegt zu Grabe trägt. Für viele war das Ende des Lokalblatts das Ende eines goldenen Zeitalters. Für einige folgten Jahre der Bitterkeit und der Missgunst. Kaum etwas kann die Menschen in unserer friedfertigen Welt so tief entzweien wie ihre Lokalzeitung. Aber jenes Fest war ein fröhliches Fest, gediegen, geradezu zauberhaft.

Das alles ist im Grunde nichts Aussergewöhnliches. Dass ganze Betriebe von der Zeit verschlungen werden, ist in unserer Welt völlig normal - es entstehen jedesmal Lebensbrüche, Stress und ein paar gescheiterte Existenzen. Und doch: Wenn ich sie erzähle, komme ich mir lächerlich vor - wie ein Grossvater, der nicht aufhören kann, vom Aktivdienst zu erzählen. So tief geht die heilende Kraft des Vergessens.

* Dieser Beitrag ist inspirert vom dritten Wort auf *txt - "abgrundtief".

4
Mrz
2015

Unerwünschtes Geschenk

Heute gibts hier keinen exklusiven Beitrag - aber einen Verweis auf einen Text, den ich mit circa zwei Dezilitern unverdünntem Herzblut geschrieben habe. Er ist eine persönliche Standortbestimmung und eine Essay über das Schreiben und die Einsamkeit. Er heisst Ein unerwünschtes Geschenk - erschienen auf dem Blog von avanti donne.

Es hätte auch ein Text für die Wörtersammlung auf neonwilderness werden können (No. 2). Aber ich musste entscheiden, wo meine Loyalitäten liegen - sie liegen bei meinen Kolleginnen. Vielleicht schaffe ichs ja beim dritten Wort.

20
Feb
2015

"Fifty Shades" und die Mamis

Neulich im Kino: Ein ganzer Schwarm Frauen liess sich um mich herum nieder. Einige musterten mich unverhohlen. Mir fiel das Frauenefeindlichste ein, was die Medien über "Fifty Shades of Grey" gesagt haben: Das sei "Mommy Porn". Was immer das heissen soll - es stimmt nicht, wie ein ebenso unverhohlener Blick auf die Frauen rundum zeigte. Die meisten hätten meine Töchter sein können. Es verführt aber junge Frauen dazu, unfreundliche Dinge über ältere Frauen zu denken. Und umgekehrt.

Ich habe also "Fifty Shades of Grey" gesehen. Soll ich jetzt auch noch einen Einstern-Verriss schreiben? Man gilt ja als leicht debil, wenn man es nich tut. Also gut: Ich fand die erste Hälfte (ohne Sex) so langweilig, dass ich die zweite Hälfte (mit Sex) beinahe verdöst hätte.



Ich lernte im Film eine Stärke des Buchs vermissen: Autorin E L James weiss dramatische Wendepunkte wie elektrische Schläge zu setzen. Die Leinwand-Umsetzung arbeitet definitiv mit Schwachstrom.

Aber eines oder zwei kleine Highlights für halb Wachgebliebene gabs doch. Meins hängt damit zusammen, dass der Film krampfhaft seine Verwandschaft mit der Mutter aller Liebesschmonzetten geltend machen will: mit Jane Austens Stolz und Vorurteil. Wohl deshalb spielt die Engländerin Jennifer Ehle eine nicht unbedeutende Nebenrolle - die wenig lebenstüchtige Mama von Heldin Anastasia Steele.

Anglophilen Muttis springt der Name sofort ins Auge: Ehle spielte in einer legendären BBC-Verfilmung aus dem Jahre 1995 Elizabeth Bennet, die Heldin von "Stolz und Vorurteil" - an der Seite von Colin Firth, no less:



Ehle gibt Mutter Steele als warmherzig-überdrehte Nervensäge. Davon gibts noch keine Bilder. Schade. Eine kleine, aber gelungene Performance.

9
Feb
2015

Fingeralphabet

Mein Patensohn Tim (9) erzählt stolz: "In der Schule haben wir zuerst das Thema Sehbehinderte durchgenommen. Dann das Thema Hördehinderte." Er hat sogar das Fingeralphabet gelernt, was mir grossen Eindruck macht. Vielleicht sollte ich es auch lernen, damit wir zusammen im Fingeralphabet witzeln können.

"Wir haben auch Regeln gelernt, wie man mit Hörbehinderten umgehen soll", berichtet er.

"Was sind denn die Regeln?" frage ich.

"Erstens: Anschauen beim Sprechen, nuschelnuschel, antippen oder nuschelnuschelnuschel. Nuschelnuschelnuschelnuschel."

Oder anders gesagt: Ich verstehe kein Wort. Er vergisst immer wieder, dass ich eine Hörbehinderte bin.

3
Feb
2015

Männer fürs Grobe

In der Moderne ist der Schriftsteller - erst recht der Dichter - ein empfindsamer Mensch. Er nimmt die feinsten Erschütterungen der menschlichen Seele wahr und fasst sie in fein ziselierte Sprache.

Ich will nun nicht behaupten, dass Dante (1265–1321) nicht empfindsam wäre. Das ist er auf seine Art sehr wohl, wie wir vielleicht noch sehen werden. Aber ein Sensibelchen ist er nicht. Als er in der Göttlichen Komödie den drei Raubtieren begegnet, weicht er zwar erst einmal aus. Aber schon schaut er dem Geist eines zu Römerzeiten verstorbenen Dichterkollegen ins Gesicht - es ist Vergil. Er fleht den Kollegen um Hilfe an. Vergil rät ihm, es nicht mit den drei Bestien aufzunehmen. Er solle sie statt dessen grossräumig umgehen: mitten durchs Jenseits, sprich: durch die Hölle, das Fegefeuer, den Himmel. Vergil verspricht, dass er Dante führen werde.

Dante zögert keine Sekunde: "Poeta!", spricht er, "Dichter!" - und schon die Anrede lässt ahnen: Er ist bereit, mit dem Kollegen in die tiefsten Abgründe der menschlichen Existenz zu blicken. Wie ein rechter Dichter es eben tun sollte. Und so brechen sie auf, zwei Männer fürs Grobe, zwei Entdecker der menschlichen Seele - Blut, Busen, grässliche Martern und himmlisches Entzücken inklusive. Das waren noch richtige Dichter - Boulevardjournalisten, Vermesser der Welt und grosse Seelen zugleich, bereit zu lebensgefährlichen Abenteuern.


(Dante und Vergil auf der Fähre über den Styx von Eugène Delacroix; Quelle: Wikimedia)

Diesen Anspruch findet man in der Literatur des 20. Jahrhunderts nicht an jeder Strassenecke. Und damit man ihn glaubwürdig enlösen kann, muss man einiges auf dem Kasten haben. Aber es gibt ihn, in neuerer Zeit vielleicht sogar wieder öfter. Neulich habe ich - wie alle bildungsbeflissenen Schweizer - den Koala von Lukas Bärfuss gelesen. Darin beschreibt Bärfuss, wie die Kolonisatoren unter Schweiss, Blut und unerträglichen Strapazen Australien eroberten. Das hatte etwas Danteskes - nur ohne grosse Seelen und ohne himmlisches Entzücken.
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