24
Okt
2010

Mama und das Kruzifix

Mutter Frogg sagt schon zum zweiten Mal: "Weisst Du, ich verstehe das wirklich auch nicht! Warum sollte man in einem Schulzimmer kein Kreuz aufhängen dürfen?! Wo doch manche muslimischen Mädchen schon mit dem Kopftuch zur Schule gehen dürfen!"

Ich habe ihr bereits zu erklären versucht, dass das nicht dasselbe ist. Dass in den Augen der Richter für eine öffentliche Einrichtung andere Regeln gelten als für Individuen. Sie will es nicht begreifen. Ich muss jetzt gröberes Geschütz auffahren.

"Mama, Du warst doch bei Nonnen in der Grundschule, nicht? Also. Diese Nonnen haben Dir doch jeweils gesagt, dass Dein Vater nicht in den Himmel kommt. Weil er reformiert ist." Sie nickt. "Grossmutter Walholz hat doch früher immer erzählt, wie Du deswegen zu Hause draussen auf der Treppe gesessen und geweint hast." Sie nickt. "Also, Mama", sage ich, "Würdest Du es denn in Ordnung finden, wenn der Staat den Wahrheitsgehalt von solchem Schwachsinn auch noch unterstreicht - indem er Kreuze in Schulzimmern aufhängt?"

"Ja, so kann man das wirklich sehen", sagt sie zögernd. Sie hat es endlich begriffen! Halleluja!

Und wenn ich hier schon gegen die katholische Kirche wettere, gleich noch eine andere Geschichte: Ich kannte früher eine nette ältere Dame in einer mittelgrossen katholischen Schweizer Stadt. Sie war in den dreissiger Jahren aus Deutschland in die Schweiz gekommen, ihr Vater war Jude, sie selber protestantisch. Sie heiratete einen jungen Mann aus einer angesehenen katholischen Familie, blieb aber ihrem eigenen Bekenntnis treu. 1942 verlor sie ihr erstes Kind an den plötzlichen Kindstod. Der plötzliche Kindstod ist, weiss Gott, nichts, was man einer jungen Mutter wünscht.

"Als es passiert war, kam der Pfarrer von der Kirche am Hauptplatz mich besuchen", erzählte die alte Dame, "Er sagte zu mir: 'Sehen Sie, Frau X., das ist jetzt die Strafe dafür, dass Sie nicht konvertiert sind!"

Ich muss an dieser Stelle anmerken: Ich bin selber immer noch katholisch. Dennoch: Ich finde, dass der Bundesgerichts-Entscheid von 1990 das Beste ist, was uns in dieser Frage passieren konnte.

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acqua - 24. Okt, 17:09

Einspruch! Nicht gegen die einzelnen Aussagen deines Textes, aber gegen ihre Verknüpfung.
Die Nonnen waren deiner Mutter gegenüber grausam und vielleicht auch einfältig, einverstanden. Der Pfarrer aus der mittelgrossen katholischen Schweizer Stadt war grausam und unmenschlich, auch einverstanden. Das Kreuz aber ist meines Wissens Symbol ALLER christlicher Bekenntnisse. Ein gemeinsamer Nenner von ihnen. Wenn irgend etwas, hätte es in deinen beiden Beispielen einend wirken können.

Trotzdem stimme ich dir natürlich zu, dass es nicht das selbe ist, ob der Staat oder ein Individuum ein religiöses Symbol zur Schau stellt. Nochmals trotzdem aber schaffe ich es in beiden Fragen (Kopftuch und Kreuz) nicht, zu einer klaren Haltung zu kommen. Das hindern mich dann vielleicht meine eigenen Urinstinkte daran.

diefrogg - 24. Okt, 17:19

Sorry, da habe ich jetzt...

den Wissensvorsprung der zu Hause gebliebenen! Das Kreuz ist Symbol aller christlichen Bekenntnisse. Das Kruzifix (mit einem Bildnis des leidenden Jesus) ist Zeichen der katholischen Kirche. Ich kann mir schwer vorstellen, dass in den katholischen Institutionen der vierziger und fünfziger Jahre nicht primär Kruzifixe hingen (wie es übrigens auch im Triengen des Jahres 2010 der Fall war) und zwar als Symbole katholischer Herrschaft.

Denn es herrschte in der Schweiz eben bis in die fünfziger oder sechziger Jahre des letzten Jahren Kulturkampf-Stimmung (Nachwehen des Sonderbunds-Krieges, siehe unten). Da war Ökumene noch überhaupt kein Thema.

Natürlich ist das alles vorbei. Heute herrschen andere Zeiten. Aber mit dem Kulturkampf gegen die Muslime scheint ja nun etwas Ähnliches aufzuflammen. Und es ist mir zutiefst zuwider, wenn wir jetzt mit einer so genannten christlichen Leitkultur eine Drohkulisse gegen den Islam aufbauen wollen. Das hat auch mit meinen Urinstinkten zu tun. Ich bin selber physisch kein sehr starker Mensch. Ich mag Menschen nicht, die auf Schwächere eindreschen.
acqua - 24. Okt, 17:40

Diesen Unterschied habe ich tatsächlich nicht gekannt. Habe mich nur die ganze Zeit gewundert, warum in dieser Diskussion alle das in meinen Ohren etwas gespreitzt klingende Wort "Kruzifix" statt "Kreuz" verwenden. Danke für die Aufklärung!

Im übrigen scheinen deine Urinstinkte um einiges zivilisierter zu sein als meine. ;-)
diefrogg - 24. Okt, 17:47

Das liegt wahrscheinlich...

wirklich an meinen geringen Körperkräften. Ich bin auf die Zivilisiertheit meiner Gegner angewiesen.
steppenhund - 24. Okt, 20:48

Es gibt hohe Würdenträger in Österreich, die die Verwüstung von New Orleans der Homosexualität, den Abreibungen und generell dem unsittlichen Lebenswandlungen als Vergeltung Gottes darstellen wollen. Mittlerweile müssen derartige Aussagen abgeschwächt werden. Und es handelt sich nur um eine sehr geringe Schar innerhalb der katholischen Kirche. Doch sie alle sind Multiplikatoren.
Menschen, die für eine derartige Verurteilung anfällig sind, saugen solche Statements wie Schwämme auf.
-
Meine These ist einfach, dass der Mensch zu dumm ist und sich über kurz oder lang selbst ausrotten wird. Die Natur wird einen weiteren Anlauf nehmen und eine andere Art der Evolution versuchen. Die neue Art wird bei einiger Intelligenz wieder an Gott glauben, aber vielleicht auf eine weniger martialische Art. Oder sie wird sich selbst wieder umbringen.
Für mich ist Jesus mit "Liebe deinen Nächsten" der Verkünder einer göttlichen Wahrheit, für Leute, die einfach glauben wollen, und John Nash mit seiner "Kollaboration in der Spieletheorie" (Nobelpreis) der Feststeller der gleichen göttlichen Wahrheit, die es nur über die Wissenschaft aufnehmen können. Vielleicht bedarf es noch einer künstlerischen Darstellung der gleichen Wahrheit, damit alle Menschen es begreifen können. Momentan können sie es nicht und daher haben sie - meiner bescheidenen, aber sehr aggressiven Meinung nach gar kein Recht, über Gott zu sprechen.
Ob Gott existiert oder nicht, mag jeder selbst für sich bestimmen. Aber er existiert definitiv nicht, damit man in seinem Namen seine eigenen Defizienzen auf sadistische und mörderische Weise auslebt.
schneck08 - 24. Okt, 23:57

...und ich denke mal, ganz persönlich, dass gott den menschen auch nicht haare auf dem kopf gegeben hat, damit sie diese in ein kopftuch einfangen.

ich lebe ja nun schon lange auch in berlin und ich würde den religiösen gehalt des kopftuches in frage stellen. das tragen des kopftuches ist aus meiner beobachtung und einschätzung eher zeichen einer kulturellen identität, weniger einer religiösen.

für mich ganz persönlich bedeutet es letztlich die (erzwungene oder freiwillige) unterwerfung unter restriktive patriarchalische machtstrukturen. auch, wenn das tragen des kopftuches als mittel des persönlichen schutzes angesehen wird - dann ist es den realitäten geschuldet, an denen ich mich als mitteleuropäisch verwurzelt dennoch reibe. aber darum soll es hier ja nicht gehen.

mein vorschlag wäre derjenige der trennung der symbolik bzw. ihrer zuweisung. das kreuz, ja selbst das kruzifix sollte mitsamt seiner umstrittenheit in auslegung und geschichte erlaubt sein. der heiland kann schließlich nichts für die katholische kirche und sonstigen missbrauch seiner selber. gleichermaßen sollte mit dem kopftuch verfahren werden. beides, kreuz und kopftuch sind zuforderst als zeichen kultureller, nicht religiöser, identität anzusehen. das würde dem ganzen vielleicht die dramatik nehmen und ggf. eine sachliche und dem individuum am meisten zuträgliche diskussion ermöglichen.

einen anderen weg gibt es meiner meinung nach kaum, will man sich nicht verstricken in einen religionskampf, der möglicherweise gar keiner ist. denn eigentlich müsste auch an ägyptischen stränden schon lange bspw. das nacktbaden für europäer erlaubt werden, da dieses durchaus als zeichen kultureller identität (und damit letztlich religiös 'geadelt') anzusehen ist, die geschützt werden muss. zur not blauhelmüberwacht.

schwieriges thema. sehr kulturell, religiös und - je nachdem - wohl vor allem subjektiv emotional aufgeladen. ein fehler ist aber m.e. der allzu behutsame "elterliche" umgang damit, europäerseits. ich finde, auch in großer politik sollten die gesetze des sandkastens öfters angewandt werden: wer mit sand wirft, fliegt irgendwann raus. man klaut keiner alten frau die handtasche. ich äußere mich ja selten blogseits zu solchen sachen. aber jetzt halt doch einmal. :-)
diefrogg - 25. Okt, 21:02

Die Idee mit der...

kulturellen Idee klingt zunächst ganz gut. Sie wischt die Geschichte weg und damit viel Stoff für Bitterkeit und Verbortheit. Doch der Konfliktstoff würde bestehen bleiben - das zeigst Du mit Deinen Beispiel von den Blaumhelm-Truppen am ägyptischen Strand gleich selber. Es würde sofort wieder um die Frage gehen, wo die Grenzen kultureller Identität sind, wer wo wie viel zu melden hat.
Täuschblume - 25. Okt, 12:55

liebe frau frogg, warum bist du eigentlich NOCH katholisch ?
Bei mir war damals dieser grauslige Bischof Haas, der zwar so hiess, aber eher aussah wie ein Sch ... und sich auch so benahm,
der Grund endgültig aus der kath. Kirche auszutreten. Obwohl ich damals schon 30 war, brauchte es Mut das zu tun.

diefrogg - 25. Okt, 20:55

Gute Frage. Ich denke grad...

über eine gute Antwort dafür nach. Aber ich brauche etwas Zeit. Schreibe dann einen eigenen Eintrag dazu!
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